SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jul 1, 2024 • 4min

Anthony Bale – Reisen im Mittelalter

Im Mittelalter gab es die Kreuzritter, die unter erheblichen Strapazen ins Heilige Land und nach Jerusalem aufbrachen. Aber das war es dann schon – oder? Anthony Bale hat in öffentlichen Bibliotheken, Archiven und hinter Klostermauern recherchiert, um eines zu zeigen: Im Spätmittelalter – das meint in etwa von 1300 bis 1500 – ermöglichten die technischen Fortschritte, aber auch der kulturelle Austausch weitverzweigte Reiseaktivitäten. Weitverzweigte Reiseaktivitäten im Spätmittelalter Reisende im Spätmittelalter konnten sich auf gut organisierte Häfen und auf Schiffstypen wie die „Caravelle“ mit vier Segelmasten verlassen. Doch wer waren die Reisenden? Ritter, Diplomaten und Handelstreibende wie Marco Polo, aber auch einfache Pilger und Mönche. Selten Frauen wie die britische Adelige Beatrice Luttrell, die 1350 nach Rom pilgerte. Der Mailänder Staatsmann und Pilger Santo Brasca, der 1480 ins Heilige Land aufgebrochen war, gab in seinem Reisebericht folgenden Rat: Dass ein Reisender immer zwei Taschen brauche: eine voller Geld und die andere voller Geduld. Andere Reisende meinten, es brauche noch eine dritte – die des Glaubens. Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 52 Der Glaube stand im Mittelpunkt des Reisens Der Glaube spielte beim Reisen im Spätmittelalter eine große Rolle. Pilgerfahrten zu Wallfahrtsstätten standen hoch im Kurs, denn sie waren mit der Vergebung von Sünden verbunden. Rom, die Heilige Stadt, war natürlich deren Zentrum. Noch wichtiger als Rom galt frommen Pilgern eine andere Stadt: Jerusalem mit ihrer Grabeskirche Jesu Christi. Als wichtigster Abreisehafen hatte sich Venedig etabliert. Im Lesen von Bales Buch ist man erstaunt, welch ausgeklügeltes System die Venezianer etabliert hatten: Man benötigte zur Schiffsbeförderung einen Geleitbrief und ein Gesundheitszeugnis. Alle Waren, die man in der Lagunenstadt kaufen konnte, hatten feste Preise, ebenso die Gaststätten und Privatquartiere. Hatte man es dann endlich auf sein Schiff nach Jerusalem geschafft, begannen die eigentlichen Tortouren: Schlechtes Essen, Stürme und räumliche Enge. Der französische Edelmann Nicole Louve hat die Bedingungen des Quartiers unter Deck in drastische Verse gefasst: Wo es nach Fürzen und Blähungen stinkt / und manches von den menschlichen Eingeweiden sinkt / und niemand sich vorsieht vor menschlichen Winden. / Der Ekel bringt dir die Sinne zum Schwinden! Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 163 Auch wenn europäische Pilgerstätten, Jerusalem und der Orient einen Gutteil von Bales Buch ausmachen, waren sie bei weitem nicht die einzigen Destinationen im Spätmittelalter. Auf der „Seidenstraße“ gelangten europäische Händler, Diplomaten und Mönche nach Persien, Indien und China. Der Venezianer Marco Polo avancierte zum Vertrauten des mongolischen Herrschers Kublai Khan und der russische Handelsreisende Afanassi Nikitin diente auf seinen Expeditionen Herrschern in Indien und Persien. Nach Anthony Bale gilt für diese beiden Abenteurer eines. Er ist der unabhängige Reisende, der in der Fremde „heimisch” wird oder für den das Reisen Elemente der Assimilation und eigenen Veränderung beinhaltet. Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 323 Ein weiter Horizont Die Berichte von Marco Polo oder Afanassi Nikitin waren wichtige Zeugnisse. Denn ihre Leserschaft begriff, dass es auch außerhalb des christlichen Europas Länder gab, die zivilisiert und deren Kulturen beeindruckend waren. Das galt allerdings auch umgekehrt: Sultan Mehmed II., der Konstantinopel eroberte, erhielt durch Händler und Diplomaten einen guten Eindruck der Kultur des christlichen Europas – was ihn allerdings nicht abhielt, Eroberungszüge dorthin zu unternehmen. Anthony Bale nennt Mehmed zurecht einen osmanischen „Renaissancefürsten“. Sein Buch „Reisen im Mittelalter“ gibt einen sehr genauen Überblick zu den stets abenteuerlichen und oft gefährlichen Reiseunternehmen von damals. Bale hat akribisch geforscht und kann sein Wissen in gut lesbarer, oft auch in witziger Form weitergeben. Und der Autor stellt eines klar: Der Horizont der Menschen im Spätmittelalter war keineswegs so beschränkt wie manchmal behauptet wird.
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Jun 30, 2024 • 55min

Wettlesen am Wörthersee

Zur ganzen Sendung
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Jun 30, 2024 • 10min

Hinter der Bühne – Welche Bedeutung hat der Bachmann-Wettbewerb aus Verlagsperspektive?

Carsten Otte im Gespräch mit Jessica Beer (Lektorin Residenz Verlag, Wien) zu den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024)
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Jun 30, 2024 • 12min

Gute und schlechte Texte

SWR-Literaturredakteur Carsten Otte im Gespräch mit Dr. Katrin Schumacher (Literaturwissenschaflterin, Literaturchefin MDR Kultur) zu den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024).
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Jun 30, 2024 • 6min

Kritik der Kritik – Die Jury des Bachmann-Wettbewerbs

Doch der nach Schwens-Harrant das Wort ergreifende Philipp Tingler beklagte Selbstbezüglichkeit und Immanenz des Textes, nannte Brylas Literatur altbacken, „obsolet“, „einen begleitenden Katalogtext.“ Das wiederum wollte Schwens-Harrant nicht auf sich sitzen lassen: „Das ist aber jetzt auch knapp behauptet, ohne einen Beleg.“  Tingler geriet danach argumentativ in die Bredouille - so wie Mara Delius kurz zuvor Schwierigkeiten hatte, das von ihr ausgemachte „Konservative" in Olivia Wenzels Text zu erklären, als die Autorin das noch einmal näher erläutert haben wollte. 48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt Das Wortgefecht von Schwens-Harrant und Tingler stand bei diesem 48. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb stellvertretend für die Diskussionen innerhalb der Jury, gerade wenn die Einschätzungen der Texte höchst unterschiedlich ausfielen.  Die Juroren stellten dann häufig die Literatur- und Kritikbegriffe der jeweils anderen in Frage. Wenn jemand nur ein Geschmacksurteil abgab, wurden Argumente gefordert, wenn Mithu Sanyal von einem „originellen Text“ sprach, der sie „tief berührt“ habe, fragte der neben ihr sitzende Philipp Tingler sofort: „Warum?“. Er wollte von der gern in Elke-Heidenreich-Manier überschwänglichen, emotionalen, stets mit ihren Händen herumfuchtelnden Mithu Sanyal literaturkritische Argumente hören, vor dem Hintergrund von Form und Sprache Urteile gefällt bekommen.  Und trotzdem: Auch der neue Juryvorsitzende Klaus Kastberger ließ es sich nicht nehmen, einen Text „langweilig“ zu nennen, wie den von Denis Pfabe. Oder er rief einfach mal so ins ORF-Studio: Ich kann Texte, in denen Gegenstände sprechen, nicht ausstehen, ich hasse den Kleinen Prinzen, ich hasse Harry Potter, das geht mir auf den Nerv. Quelle: Klaus Kastberger, Juryvorsitzender Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Um einen Tag später das von ihm an dieser Stelle beklagte „Kindergartenniveau“ zu widerlegen, als er Henrik Szantos begeistert feierte: Hier erzählen die Wände und Räume eines Hauses in der ersten Person Plural. Quelle: Klaus Kastberger, Juryvorsitzender Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Was aber wie in den beiden vergangenen Jahren auffiel: Die jeweiligen Literatur- und Kritikbegriffe sind mehr und mehr politisch eingefärbt. Ästhetische Kriterien werden dann schon mal zur Auslegungssache und hängen eng zusammen mit der politischen Haltung. Lebendige Jurydiskussionen Ja, Körperlichkeit, Empathie und Ethik haben Einzug gehalten bei der Bewertung von Texten. Mithu Sanyal ist dafür das herausragende Beispiel, das identifikatorische Lesen ist Teil ihrer Art von Literaturkritik. Was man problematisch finden kann, den Jurydiskussionen in Klagenfurt aber eine zusätzliche Lebendigkeit verleiht, gerade weil sich Philipp Tingler oder auch Mara Delius daran notorisch stoßen.  Offensichtlichste Antipoden deshalb in diesem Jahr: Mithu Sanyal und Philipp Tingler. Sanyal feierte Tijan Silas Text zum Beispiel auch deshalb, weil sie glaubte, dass dieser den deutschen Rassismus anprangert, was Tingler und andere nicht so sahen; und Tingler begegnete Sanyals Schwärmerei für Olivia Wenzels Text sofort damit, dass dieser mit „modischen Begriffen von Identitäten“ arbeite. Um später, als die weibliche Erzählerin in Johanna Sebauers „Gurkerl“-Text sagt, sie sei kein Meinungsschreiber, und sich Sanyal nicht daran störte, ironisch triumphierend ausrief: „Mithu Sanyal hält ein flammendes Plädoyer für das generische Maskulinum.“  Gerade aber auch bei Wenzels Text, der in den sozialen Medien über die Maßen gefeiert wurde, taten sich die auch in der Literaturkritik entstandenen ideologischen Gräben auf. Delius und Tingler wollten einen reinen „Thesentext“ gelesen haben. Mithu Sanyal und Laura de Weck bekamen sich nicht ein vor Begeisterung. Laura de Weck sprach gar von „Stolz“, diesen Text mitgebracht zu haben. Ähnliches passierte nach der Lesung von Miedya Mahmod, da Tingler und Delius versuchten, die Euphorie von Sanyal und Kastberger zu dämpfen und von „ästhetischen Überdehnungsübungen“ sprachen.   De Weck, die für die ausgeschiedene Juryvorsitzende Insa Wilke in die Jury nachrückte, war dann leider auch das blasseste Jurymitglied; in der Regel beurteilte sie die Texte danach, ob diese zeitgemäß seien oder aktuelle Themen aufgriffen. Viel mehr kam von ihr nicht; dass sie immer von „Traumas“ statt Traumata sprach und einer eindeutig psychiatrischen Krankheit wie der Schizophrenie mit dem Psychologen beikommen wollte: geschenkt.  Doch diese Blässe gehört womöglich zu einem Jury-Debüt dazu: Auch Mara Delius und Brigitte Schwens-Harrant wirkten bei ihren ersten Klagenfurter Jury-Auftritten unsicher und nervös. Jetzt sind sie angekommen. Sie ragten dieses Jahr heraus. Sie argumentierten zumeist nahe am Text, ohne sich, wie der stets Textstellen suchende, findende und dann zitierende Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, darin zu verlieren. Und Delius und Schwens-Harrant kamen ganz ohne den angeberischen Furor aus, der Klaus Kastberger und den ansonsten häufig richtig liegenden und auf den Punkt kommenden Philipp Tingler auszeichnet. Tingler immerhin gestand ein, auch ein bisschen ein Angeber zu sein.  Kastberger wiederum scheint sich ähnlich wie de Weck noch einfinden zu müssen in seine neue Rolle. Zu oft ging sein von Selbstgefälligkeit nicht ganz freies Temperament mit ihm durch, zu wenig versuchte er sich als Mittler seiner Mitstreiter, zu offensichtlich führte er immer mal wieder die Fußball-Europameisterschaft ins Diskursfeld. Doch mochte man ihn nicht immer witzig finden, wenn er seine Baumarkt-Aversion zum besten gab oder gestand, mittags immer ein Gurkenglas in seinem Büro zu haben: Kastberger weiß am Ende nur zu genau, dass der Bachmann-Wettbewerb vor allem auch ein Fernsehformat ist und darin die unterhaltenden Momente nie fehlen dürfen.
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Jun 27, 2024 • 4min

Eric de Kuyper – An der See

Die Kindheit, ob sie glücklich verläuft oder desaströs, ist der Urquell des Schreibens. Manche Schriftsteller schöpfen ein Leben lang aus ihr, aus den Gerüchen und Gefühlen, der kindlichen Neugier und der ersten naiven Weltbegegnung. Manche kehren hin und wieder zu ihr zurück, um das Spielerische und den Zauber des Anfangs hervorzukitzeln. Eine gewisse Melancholie mag da immer mitschwingen, denn das ursprüngliche Vertrauen und die unschuldige Gewissheit ins Gelingen nutzen sich im Laufe des Lebens ab. So schleicht sich in den Blick zurück Wehmut ein, eine Sehnsucht nach Heimat, etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, wie es bei Ernst Bloch so schön heißt. Auch Eric de Kuyper kennt diese Sehnsucht und die Fallstricke des Älterwerdens.  Schon als Kind hatte er vermutet, dass er beim Erwachsenwerden vieles von dem vergessen würde, was für das Leben, das glückliche Erleben des Alltags, unverzichtbar war. Wie zutreffend war diese Intuition gewesen, wie begründet seine panische Angst davor, erwachsen zu werden. Er würde vergessen und sich selbst untreu werden, das hatte er befürchtet.  Quelle: Eric de Kuyper – An der See Mit allen „Kinners“ nach Ostende  Vergessen etwa wird das intuitive Wissen um die Beschaffenheit und Verschiedenartigkeit des Sands, das durch ernsthaftes und weltabgeschiedenes Kinderspiel erworben wird. Wie viel in der Erinnerung aber doch bewahrt ist, wie diese Erinnerung auch den Älteren ins Kindheitsglück zurückzuversetzen vermag, das können wir in Eric de Kuypers „An der See“ nachlesen. Darin erzählt er, wunderbar übersetzt von Gerd Busse, wie die ganze Brüsseler Großfamilie de Kuyper die Sommermonate nach 1945 samt einer Schar von „Kinners“ unterschiedlichen Verwandtschaftsgrads in Ostende verbringt. Eine Vorkriegstradition wird so fortgeführt.  In den ersten Jahren nach dem Krieg waren die Häuser am Zeedijk fast alle vernagelt. Manche waren total zerstört, andere standen nur leer und waren unbewohnt. Von Jahr zu Jahr zeigten sie mehr Anzeichen von Leben: Hotels, Restaurants und Café-Terrassen öffneten, und kleine Läden kamen hinzu, in denen Postkarten, Fischernetze, Bälle, Tennisschläger, Badeanzüge, -kappen und Sonnenöl verkauft wurden. Quelle: Eric de Kuyper – An der See Für den jungen Ich-Erzähler stellen die Wochen am Strand das eigentliche Leben dar: Die Sinne sind geschärft, er beobachtet das Treiben um sich herum, die Verhaltensweisen der Erwachsenen, deren Benehmen untereinander, deren Schwärmereien und Genervtsein, den gedankenverlorenen Blick rüber zur englischen Küste. Er erinnert sich an die endlosen Stunden des Spiels und Müßiggangs, an Freundschaften und die ersten erotischen Impulse, ritualisierte Freuden und überraschende Wendungen. Ostende ist Paradies und Schule in einem, eine sich endlos dehnende Zeit des Sammelns von Eindrücken und Empfindungen.    Die Sehnsucht nach dem Meer  …denn sie lebten schließlich einen ganzen Sommer lang am Strand, und zwar jedes Jahr, seit Menschengedenken und für immer und ewig. Quelle: Eric de Kuyper – An der See Für immer und ewig, manchmal sogar in den geruhsamen, merkwürdig ereignislosen Tagen außerhalb der Saison – denn für das kränkliche Kind ist die Luft an der See auch eine Therapie. Dass der ältere Erzähler mit einer gewissen Schwermut zurückschaut, verwundert nicht und ist ihm nicht zu verdenken: Der Kindheit wohnt eine pralle, gedankenlose Gegenwärtigkeit inne, die der Schreibende durch die Sprache zurückbringen muss. Das Wunder des puren Daseins am Meer – es kann heraufbeschworen, aber nicht neuerlich erlebt werden. Eric de Kuyper gelingt die sprachliche Vergegenwärtigung auf betörende Weise. Das liegt an seiner Fähigkeit, das jugendliche Ich in diesen autobiographischen Aufzeichnungen nicht zu sehr durch Erfahrungen des Erwachsenen zu trüben, seine Lust und Angst nicht nachträglich zu verniedlichen; und es gelingt ihm durch einen feinen Humor, der gerade in den Schilderungen von Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins aufblitzt und eine Stimmung erzeugt, die in uns nur einen Wunsch entfacht: sofort ans Meer zu fahren und in Erinnerungen zu baden.
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Jun 26, 2024 • 4min

Michael E. Mann – Moment der Entscheidung | Buchkritik

Was haben Donald Trump und der König des vor mehr als 4000 Jahren untergegangenen akkadischen Reichs gemeinsam? Beide wollten sich mit baulichen Maßnahmen Probleme vom Leib halten, der eine mit einer Mauer zwischen den USA und Mexiko, der andere mit einer hunderte Kilometer langen Mauer zwischen Euphrat und Tigris. Den Niedergang Akkads hat die Mauer nicht verhindert. Eine langanhaltende Dürre ließ Felder und Teiche vertrocknen, um die verbliebenen Ressourcen entbrannte ein mörderisches Gemetzel.   Aus der Erdgeschichte lernen  Solche Blicke in die Vergangenheit sollten uns eine Lehre sein, meint der US-amerikanische Paläoklimatologe Michel E. Mann, der für sein neues Buch 250 Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück schaut. Dabei geraten allerdings auch Konflikte unserer Zeit in seinen Fokus, die im deutschsprachigen Raum im Kontext der Klimadebatte bestenfalls Randnotizen waren: Zum Beispiel der Bürgerkrieg in Syrien, der schon Hunderttausende Leben gefordert und noch viele Menschen mehr in die Flucht geschlagen hat.  Die tieferliegende Ursache war eine jahrzehntelange Dürre in Syrien, die wahrscheinlich die schlimmste seit mindestens einem Jahrtausend ist. Die beispiellose Dürre, die durch den Klimawandel verschärft, wenn nicht gar verursacht wurde, dezimierte die Landwirtschaft in der Region. Sie zwang die Landwirte in die Städte Aleppo und Damaskus, wo sie mit den dort lebenden Menschen um Nahrung, Wasser und Platz konkurrierten. Der daraus resultierende Konflikt, die Unruhen und die Gewalt schufen ein ideales Umfeld für Terrororganisationen.   Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 56 Konsequenzen einer verfehlten globalen Klimapolitik  Michael E. Mann verfällt leider oft in einen Fachjargon, der die Lektüre für Klimatologie-Laien stellenweise erschwert. Aber es ist gleichzeitig Manns großes Verdienst, dass er die Konsequenzen einer verfehlten globalen Klimapolitik sehr deutlich benennt. Noch sei es nicht zu spät, das Ruder herum zu reißen. Denn die Voraussetzungen dafür seien durchaus vorhanden. Die Politik müsste dies nur erkennen und entsprechend handeln:  Die Hürden, die dem Handeln im Wege stehen, sind nicht physischer oder gar technologischer Natur, sondern – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – ausschließlich politischer Natur.  Die Auswirkungen des Klimawandels stellen zweifelsohne eine existenzielle Bedrohung dar, wenn wir nicht aktiv werden. Aber wir können handeln.   Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 295 Hoffnung auf eine effizientere Klimapolitik  Auch das Zählen von Toten bietet Michael E. Mann Argumentationshilfe. Fünf Millionen Tote durch Hitzestress, vier Millionen durch Luftverschmutzung, jedes Jahr. Das sind wissenschaftliche Prognosen, selbst wenn die Klimaerhitzung auf zwei Grad begrenzt werden kann. Das sind doppelt so viele Tote wie durch Covid 19 während der gesamten Zeit der Pandemie. Von depressiver Untergangsstimmung will Michael  E. Mann jedoch nichts wissen.   Politische Entscheidungsträger, Meinungsführer und Unternehmen müssen in die Verantwortung genommen werden. Denn obwohl die Bevölkerung selbst inzwischen mit überwältigender Mehrheit konzertierte Klimaschutzmaßnahmen befürwortet, kann sie die notwendigen Veränderungen nicht selbst herbeiführen. Wir als Individuen können zwar als Verbraucher klimafreundliche Entscheidungen treffen. Aber wir können nicht die Subventionierung der Erneuerbaren Energien-Branche erzwingen oder gar die Beihilfen für die fossile Brennstoffindustrie abschaffen.   Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 319 Hoffnung machen ihm Australien und Neuseeland, wo es trotz einer mächtigen Presse rund um den Klimaleugner Rupert Murdoch bei Wahlen Mehrheiten für eine effizientere Klimapolitik gab. Der US-amerikanische Klimawissenschaftler hat ein wichtiges Buch vorgelegt: mit seinem Wissen über die Erdgeschichte rückt er die beschwichtigenden Aussagen von Politikern und Konzernchefs, deren Denken häufig nicht über die nächste Wahl und Aktionärsversammlung hinaus reicht, in ein anderes Licht.
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Jun 25, 2024 • 4min

Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern

Ein Autor mit dem jiddischen Pseudonym „Der Nister“, das heißt „Der Verborgene“ – hier ist schon der Name Programm. Der jüdische Schriftsteller Pinchas Kahanovitsch stammte aus dem Gebiet der heutigen Ukraine. Er überlebte die Pogrome in der Folge der Russischen Revolution und den Zweiten Weltkrieg mit der Shoa. 1950 aber fiel er einer antisemitischen Kampagne Stalins zum Opfer. Vor wenigen Jahren wurde sein Grab wiederentdeckt. Auch sein Werk galt lange als Geheimtipp. Daniela Mantovan hat den verborgenen literarischen Schatz nun gehoben: Insgesamt sechs märchenhafte, aber nicht immer ‚schöne’ Erzählungen des Nister liegen jetzt als Neuübersetzung vor. Der Titel: „Von meinen Besitztümern“. Die Grenzen der Tradition Der Nister verstand sich zeitlebens als Symbolist. Die Härten des Lebens schildert er in poetisch verdichteten, zum Teil surrealen Bildern. Dabei stellt er Grundlegendes in Frage – etwa den Wert der überlieferten Schriften oder den Sinn weltabgewandter Gelehrsamkeit. Die Erzählung „Unterm Zaun“ beispielsweise kostet die tragikomische Fallhöhe aus, wenn der hoch angesehene Lehrer einer jüdischen Eremitenschule sich ausgerechnet in eine Zirkusartistin verliebt. Sein Liebeswahn gipfelt in der Vision eines Gerichtsverfahrens in der Manege, für das der Zirkusdirektor auf Plakaten wirbt: Der letzte Eremit wird über seine Vorgänger und Lehrer, über seine Nachfolger und Schüler zu Gericht sitzen. Dann war zu lesen, dass als Beisitzer und stellvertretende Richter die weltbekannten Clowns Jack, Mac und Schlimm-Schlammassel auftreten würden. Und ferner hieß es, das Publikum werde großen Spaß haben, weil sicher alle Angeklagten zum Tod durch Verbrennen verurteilt werden würden. (S. 84) Quelle: Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern Es ist ein schwacher Trost, dass sich ein Teil dieser Schrecknisse als Alptraum eines Betrunkenen entpuppt. Denn so oder so ist dem Außenseiter, der die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen überschreitet, ein böses Ende beschieden. Eine politische Botschaft Die titelgebende Geschichte „Von meinen Besitztümern“ ist eine Variante des Märchens „Vom Fischer und seiner Frau.“ Der Nister selbst erscheint hier als zweifelhafter Held, der hoch steigt und tief fällt, weil er nicht genug kriegen kann. Nach einer Himmelsreise in ein Land des Drecks wird Schmutz zu Gold, so dass er alles kauft, was man für Gold kaufen kann. Dann bittet er den russischen Bären zum Tanz, der als gottgleiche Instanz im Zeichen des Sowjetsterns regiert und besiegelt damit seinen Untergang. Fortan muss er zehn irdische Bären füttern, bis ihm nur noch seine Finger bleiben, um deren Hunger zu stillen. Ist das der Wahn eines Irren? Oder belegen die blutigen Hände des Nister, dass die Bedrohung durch den „Sternbären“ real ist? Am Ende blieb nur – und es gab keinen anderen Ausweg –, dass der Nister alles dem Doktor des Irrenhauses schreiben solle und sich wegen der ungebetenen Gäste und der häufigen Besuche beklagen solle. Der Vorschlag wurde angenommen und es blieb dabei. Der Nister schrieb alles auf, aber weil er keine Finger mehr hatte, schmierte er dem Doktor die ganze Geschichte mit Blut hin, und seitdem wartet er auf eine Antwort. (S. 131) Quelle: Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern Die Kunst des Märchens Der Nister schildert eine zutiefst körperliche, zugleich aber magische Welt: Übergänge zwischen Himmel und Erde sind jederzeit möglich, alternative Realitäten durchdringen sich. Menschen und Tiere, Sterne und Winde treten in Dialog. Seine Geschichten erinnern nicht zufällig an Gemälde von Marc Chagall, an Kafka und das romantische Kunstmärchen. Sie sind ein wichtiger Teil der jiddischen Literatur, deren Wiederentdeckung dringender ist denn je.
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Jun 24, 2024 • 4min

Björn Vedder – Das Befinden auf dem Lande | Buchkritik

Vor einigen Jahren hat der Autor und Publizist Björn Vedder das gemacht, wovon viele Städter träumen. Er ist mit seiner Familie aus München hinaus gezogen in ein Dorf am Ammersee. Seine gar nicht so ausgezeichneten Erfahrungen haben ihn nun dazu gebracht, das erzählende Sachbuch „Das Befinden auf dem Lande“ zu schreiben. Befürchtet Vedder, dass er nach Veröffentlichung des Buches aus seinem Dorf wegziehen muss?  Björn Vedder:„Nee, es haben schon einige gelesen und die finden es alle gut und sagen, das seh ich genauso.“   Das Dorf kommt nicht gut weg  Im Buch kommt das Dorf nicht gut weg. Das Landleben tut eigentlich niemandem wirklich gut, das zeigt Vedder an vielen Beispielen. Unter anderem berichtet er davon, wie es ihm erging, als einem von Zuhause aus arbeitenden Mann, der sich tagsüber um die Kinder kümmert, während seine Frau einer abhängigen Berufstätigkeit außer Haus nachgeht. Nicht gut kam das in seinem Dorf an, wo sich, wie er schreibt, nicht nur das traditionelle Familienbild noch gut hält, sondern es überhaupt ein ausgeprägtes und allgemein gültiges Verständnis gibt, für das, was man tut und das, was man lässt.   „Das Merkmal von Landleben ist, dass es da eine Form von Gemeinschaft gibt, die eine Art von kollektiver Identität ausgebildet hat, die bestimmte Werte, Normen, auch Praktiken etabliert hat und die das mit moralischen Qualitäten versieht, also die glaubt, dass die Art und Weise, wie sie Dinge bewerten, nicht eben zufällig ist, sondern dass es richtig so ist, und die davon ausgeht, dass es im Leben nicht nur richtig und falsch, also gelingend und ungelingend gibt, sondern gut und böse. Und dass das, was sie machen, gut, und was die anderen machen, böse ist“, sagt Vedder.   Gesellschaft gegen Gemeinschaft  Der Autor unterscheidet die Daseinsformen Stadt und Land, und entspinnt daraus eine These, der er über weite Teile des Buches nachgeht. Gesellschaft, das ist die Stadt, in der jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich frei zu entfalten. Gemeinschaft ist das, wozu einen das Land erzieht, schreibt Vedder:  Als wir aufs Land zogen, dachten wir, wir zögen von der Stadt an den See, aus den engen Straßenschluchten in die Weite der Natur, aus der stickigen Wohnung in das großzügige Haus mit dem sonnigen Garten. Das war jedoch eine viel zu oberflächliche Sicht der Dinge. Tatsächlich zogen wir aus der Gesellschaft in die Gemeinschaft. Der Umzug aufs Land ist ein Auswandern in eine andere Kultur, eine andere Zeit.   Quelle: Björn Vedder – Das Befinden auf dem Lande In Kapiteln wie Mia san mia, Im dunklen Tale der Gemeinschaft, Scham und Beschämung, Ekel und Macht oder Überkompensation und dicke Hosen arbeitet Vedder die Mechanismen heraus, mit denen das Dorf versucht, anders Denkende, anderes Ausschauende, anders Handelnde nicht nur auf Linie zu bringen, sondern auch Hierarchie innerhalb der dörflichen Gemeinschaft herzustellen. Besitz und ökonomische Verteilung spielen dabei eine bedeutende Rolle.  Urbanisierung der Dörfer als Lösung?  Björn Vedder:„Nach einem Wert zu leben, heißt ja, den Wert zu verteidigen. Werte können aber nur durch andere Werte verteidigt werden und das führt sozusagen zu einer permanenten Abwehrhaltung, die Menschen immun macht gegen Kritik und Veränderung.“   Es ist also ziemlich eng auf dem Land, und von Selbstentfaltung keine Spur. Vedder arbeitet die Mechanismen der Denunziation, Beschämung, Kontrolle heraus. Die Dorf-Bewohner kommen eigentlich nie gut weg. Das ist zuweilen irritierend, und man fragt sich, ob der Autor Menschen überhaupt mag. Irgendwann aber kapiert man, dass Vedder eben gern zugespitzt erzählt. Lösungen sieht er auch und die haben mit der Urbanisierungen der Dörfer zu tun. Je näher wir uns rücken, desto ferner können wir uns werden. Tolle Thesen sind das, und weil Vedder sehr gut schreiben kann, ist es auch ziemlich unterhaltsam zu lesen.
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Jun 23, 2024 • 55min

lesenswert Magazin: Ab in die Ferien!

Neue Bücher von Judith Poznan, Jörg Später, Marion Löhndorf, John Wray und der Klassiker "Fahrenheit 451“ als Graphic Novel

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