

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Jul 10, 2024 • 4min
Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Dieses Buch bietet die Quintessenz eines Intellektuellen, der nie den Bezug zu den großen Lebensfragen verloren hat, über die Menschen seit Jahrtausenden nachdenken. Lorenz Jäger geht deshalb mit Selbstbewusstsein und Demut vor. Anstatt selbst drauflos zu ratgebern, bringt er Traditionen zum Sprechen und Schwingen, moderiert die großen Texte und Stimmen, vom Gilagemesch-Epos, der Bibel und den griechischen Epen bis zu Arno Schmidt und Joni Mitchell. Das ist anspruchsvoll, aber dank des unprätentiösen Tons immer zugänglich.
In neunzehn Kapiteln geht es um Themen und Motive wie die Entfaltung des Unsterblichkeitsglaubens, Begräbnisrituale, die Lebensalter, das Leben-Geben und Leben-Nehmen, aber auch um das Nicht-Leben-Wollen, also die Selbsttötung.
Die Frühverstorbenen und die Uralten
Jäger umkreist die Todesahnungen früh verstorbener Genies wie Hauff, Kafka oder Georg Büchner, der nur zweiundzwanzig wurde, in seinen Werken aber so wirkt, als würde er die Bitterkeit von Jahrhunderten destillieren. Ein volles Leben muss nicht lang sein:
Achilles also stirbt jung. Er ist dafür der schönste unter den Männern, die vor Troja stehen, und der kühnste Krieger. Wir sehen einen James Dean der Antike. Erfüllt kann ein Leben ohne weite zeitliche Ausdehnung sein; auch Romeo und Julia mag man sich nicht alternd vorstellen.
Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Auf der anderen Seite ergründet er die Lebenskunst derjenigen, die uralt wurden, wie Ernst Jünger oder Hans-Georg Gadamer. Gemeinsam ist ihnen, dass sie schon früh damit begonnen haben, weiträumig ins Überzeitliche, Überhistorische zu denken
Lob der Vergänglichkeit
Im Gegensatz zu den Tieren wissen Menschen, dass sie Geborene und deshalb auch Verfallende und Sterbende sind. Der Tod ist die Bedingung des Lebens und verleiht ihm den Reiz des Unwiederbringlichen. In diesem Sinn zitiert Jäger Thomas Manns Essay „Lob der Vergänglichkeit“. Verschwendet wäre solche Lebensklugheit an die neuen Biotech-Utopisten und Transhumanisten, die den Tod besiegen wollen, indem sie das Bewusstsein eines Menschen auf Datenträger laden und dann auf einen Klon übertragen. Jäger gibt ihnen Antwort:
Die Vision der Transhumanisten ist die furchtbarste, die man sich je von der Unsterblichkeit gemacht hat. Wenn die Menschen fünfhundert Jahre alt werden, würden Kinder nicht mehr gebraucht, eigentlich müssten sie dann verboten werden. (…) Utopien sehen meistens schön aus, betrachtet man sie aber näher, so ähneln sie einem Sanatorium – sie sind nur möglich, wenn man sich den Abbau aller Spannungen zwischen den Menschen ausmalt. Das hätte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, wie er uns bekannt ist.
Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Im Kapitel „Die Gräber“ entwickelt Jäger eine kurze Geschichte der Erd- und Feuerbestattung. Bei Homer werden Leichen der Helden feierlich verbrannt. Anders in der Bibel. Bei einem eingeäscherten Jesus wäre die Auferstehung weniger plausibel gewesen, weshalb die christlichen Kirchen bis vor kurzem die Feuerbestattung abgelehnt haben. Die Aufklärung plädierte auch aus antiklerikalen Motiven für die Kremierung. Dieser Stoßrichtung folgten der Nationalsozialismus, der die Feuerbestattung 1934 rechtlich gleichstellte, und die DDR. Heute dominieren zunehmend Asche und Urne. Ein unauffälliges, ressourcenschonendes und preisgünstiges Verschwinden scheint angeraten. Sagt dies – jenseits der Sonntagsreden über die „unantastbare Würde“ – etwas über den gegenwärtigen Wertverfall des Menschenlebens?
Um den eigenen Tod betrogen
Rilkes Sorge, dass der Mensch um seinen ureigenen Tod betrogen werde, erhält im modernen Medizinbetrieb mit seinen lebens- oder elendsverlängernden Maßnahmen neue Relevanz. Statt des eigenen Todes bekomme der Mensch das technisch Mögliche, schreibt Jäger. Wissenschaftliche Expertokratien wollen das Schicksal austreiben und sich die Verfügungsgewalt über das Leben und Sterben der Menschen aneignen. In seinem klugen, anregenden Buch animiert Lorenz Jäger zur „Wieder-Aneignung der enteigneten Künste des Lebens und Sterbens“. Das Schöne bei der Lektüre ist: Es geht ums große Ganze, aber immer mit dem scharfen, feinsinnigen Blick aufs Detail.

Jul 9, 2024 • 4min
Stephan Schmidt – Die Spiele
Shanghai 2021. Der Journalist Thomas Gärtner will sich am Rand eines Meetings des Internationalen Olympischen Komitees mit dem mosambikanischen Sport-Funktionär Charles Murandi treffen. Kurz darauf wird Gärtner von der Shanghaier Polizei verhaftet, denn Murandi wurde tot in seinem Hotelzimmer gefunden. Die Überwachungskameras zeigen, dass Gärtner dort kurz vorher war. Das Problem: Er kann sich an dieses Treffen nicht mehr erinnern.
Er hätte nicht herkommen dürfen, das ist die einzige Gewissheit, über die er an diesem Morgen verfügt.
Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele
Mit Gärtners Vernehmung im Hauptquartier der Polizei in Shanghai beginnt Stephan Schmidts Kriminalroman „Die Spiele“. Vorangestellt ist ein kurzer Prolog, der davon erzählt, wie Gärtner Charles Murandi vor über 30 Jahren zum ersten Mal traf: 1990 war er Auslandskorrespondent in Afrika, Murandi führte einen Protest in Maputo an, bei dem ehemalige DDR-Vertragsarbeiter die Auszahlung ihres noch ausstehenden Lohns einforderten.
Damit sind die Orte gesetzt: Zwischen Mosambik, China und Deutschland entspinnt sich die nicht ganz unkomplizierte Handlung, die nach und nach die Hintergründe des Mordes in Shanghai offenbart. Erzählt in zwischen den Zeiten und Orten wechselnden Kapiteln. Grundsätzlich ein gutes Mittel, das Spannung erzeugen kann. In „Die Spiele“ aber stimmt die Struktur nicht: Der Einstieg ist mühsam, der Mittelteil überfrachtet – und am Ende dann wird jedes kleine, bisher offen gebliebene Detail der Handlung noch auserklärt.
Diese Schwächen im Aufbau des Romans erstaunen. „Die Spiele“ ist zwar das Krimi-Debüt von Stephan Schmidt, aber unter dem Namen Stephan Thome hat der in Taiwan lebende Autor bereits einige hochgelobte Romane geschrieben. Hier aber stehen kluge Passagen über hochbrisante politische Fragen neben schematischen und flachen Handlungselementen. So ist Thomas Gärtner zunächst der moralisch aufrechte Journalist, der alles riskiert, und dann der romantische Held, seit Jahren verliebt in die deutsche Botschaftsangestellte Lena Hechfellner, die gerade in Shanghai arbeitet – und bereit, alles für sie zu tun. Langweilig!
Lena Hechfellner ist die zweite Hauptfigur, wie eine femme fatale attraktiv und eiskalt. Fast alle Männer wollen sie.
Am liebsten wäre er einer der Wassertropfen, die von ihrem Hals abwärtsrollten.
Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele
Solche kitschigen Passagen gibt es immer wieder.
Nein, am allerliebsten wäre er eines ihrer Handtücher: das kleine zum Abrubbeln oder das große karierte, auf dem sie sich danach bäuchlings ausstreckte.
Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele
Unerwiderte Liebe ist ein altbackendes Handlungsmotiv, das gerade bei diesem Kriminalroman unnötig wäre. Allein eine polizeiliche Ermittlung in China bietet durch die allgegenwärtige Überwachung viel Spannungspotential. Das lässt Schmidt weitgehend ungenutzt, sondern greift stattdessen auf überholte Mittel zurück: So zieht ein vermeintlich geheimnisvoller Mitarbeiter der chinesischen Staatssicherheit im Hintergrund die Fäden – und hat ein Muttermal mit fingerlangen Haaren am Kinn, damit klar wird: Diesem Mann ist nicht zu trauen!
Dass Stephan Schmidt bessere Figuren kann, beweist er mit dem chinesischen Kommissar Luo, der die Ermittlungen formell durchführt und jahrelang gelernt hat, sich innerhalb des kommunistischen Staatsapparats zu bewegen.
Scheiß drauf, denkt er. Irgendwann beißt jeder ins Gras, aber wenn er je an etwas geglaubt hat, dann an ein Leben vor dem Tod.
Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele
Diese Egal-Haltung führt nicht zu einer Ermittlung, die die Wahrheit zutage fördert, naiv ist Stephan Schmidt nämlich nicht. Aber er vertraut nicht seiner hochspannenden und guten Idee, Menschen aus verschiedenen politischen Systemen aufeinandertreffen zu lassen – mit allen historischen Altlasten und verlorenen kommunistischen Idealen. Stattdessen lässt er sie ständig aus rein persönlichen Motiven handeln. Verschenkt! Wie die abschließende Notiz des Autors, dass die Corona-Pandemie absichtlich nicht vorkommt. In einem Roman, der 2021 in China spielt.
Fazit: Überfrachtet, fehlkonstruiert und überraschungsfrei – „Die Spiele“ ist ein Kriminalroman mit hochbrisanter Ausgangslage und völlig verstaubter Krimielemente.

Jul 8, 2024 • 4min
Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit
Als die neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren die ökologische Krise für sich entdeckten, veränderte das die Umweltbewegung von Grund auf. Waren es bis dahin vor allem Bürgerinitiativen, die sich für einen behutsameren Umgang mit der Natur eingesetzt hatten, kamen nun die studentischen Rebellen mit ihrer Forderung nach einer neuen Gesellschaft hinzu. Von da an stand die Zerstörung der Natur in einer Reihe mit der Unterdrückung der Frauen, der Ausbeutung der Arbeiter und der Marginalisierung von Minderheiten.
Die sozialökologische Transformation
Aus der Umweltbewegung wurde so das Projekt einer sozialökologischen Selbstbefreiung. Zwar gab es bereits eine lange Tradition des Naturschutzes, aber erst das Versprechen einer alternativen Gesellschaft machte die Naturschützer zu progressiven Streitern für eine bessere Zukunft. Sie setzten sich mit Nachdruck dafür ein, das moderne Ideal individueller Selbstbestimmung endlich zu verwirklichen.
In seinem Buch „Unhaltbarkeit“ sieht der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn dieses Projekt nun an sein Ende gelangt. Auch wenn der ökologische Umbau inzwischen zur Agenda der Regierung gehöre, sei von den ursprünglichen Anliegen nur noch wenig übrig geblieben.
Ähnlich wie man sich Ende der achtziger Jahre von der Idee des sozialistischen Umbaus der kapitalistischen Industriegesellschaft verabschiedete, verabschiedet man sich heute […] heimlich von der Utopie der sozialökologischen Transformation der Gesellschaft.
Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit
Das ökologische Paradox
Den Grund für dieses Scheitern sieht Blühdorn allerdings nicht in äußeren Widerständen. Verantwortlich sei weder der gesellschaftliche Backlash, den wir zurzeit erlebten, noch ein grüner Kapitalismus, der sich die emanzipatorischen Anliegen angeeignet habe. Dass die Bewegung trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge das eigentliche Ziel einer grundlegenden Erneuerung der Gesellschaft nicht erreichen konnte, liege vielmehr an ihren inneren Widersprüchen:
[…] der Schutz der Unversehrtheit von Natur und Umwelt unter dem Vorzeichen der Autonomie des Selbst oder des Subjekts […] bedeutet einen Widerspruch in sich: Die Integrität der Natur erfordert die Begrenzung und Unterordnung des Subjekts; die Autonomie des Subjekts hingegen bedeutet das Überschreiten vermeintlich natürlicher Grenzen und die Beherrschung der Natur.
Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit
Dieser Selbstwiderspruch wird für Blühdorn besonders anschaulich an dem Umstand, dass es gerade der emanzipatorische Erfolg der Bewegung war, der das Erreichen ihrer Ziele verunmöglichte. Denn keine andere Bewegung habe einen derart großen Anteil an der Entstehung eines Ich-Ideals, bei dem die Selbstverwirklichung an erster Stelle stehe und das keinen allgemeinen Imperativ mehr als gesellschaftliche Autorität anerkenne.
Die emanzipatorische Katastrophe
Am Anfang der Bewegung stand die Hoffnung auf die treibende Kraft der Zivilgesellschaft, die niemand so intensiv begleitet hat wie der Soziologe Ulrich Beck. Auf ihn bezieht sich Blühdorn, wenn er seinen Untertitel „Auf dem Weg in eine andere Moderne“ von dessen Buch zur „Risikogesellschaft“ von 1986 übernimmt. Für Beck war die „andere Moderne“ eine erneute Aufklärung, die ihren Ausgang vom heilsamen Schock der ökologischen Krise nehmen sollte. Für Blühdorn folgt nun eine „dritte Moderne“, in der die Emanzipation mit ihren geschlossenen Ich-Welten die Bedingungen der Aufklärung aufgezehrt hat:
[…] der Glaube an die vernunftbestimmte Welt freier Subjekte erscheint als illusionär, als untragbare Belastung und – mit ihren ökologischen Imperativen, demokratischen Zumutungen und sozialen Verpflichtungen – als inakzeptable Beschränkung aktualisierter Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung.
Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit
Übrig bleibt unter diesen Umständen nur noch, die Resilienz der Gesellschaft für die kommenden Katastrophen zu erhöhen. Das ist das nüchterne Fazit, das Blühdorn zieht. Man mag seinen Argumenten nicht in allen Punkten folgen, aber eine Auseinandersetzung mit ihnen ist überaus lohnend.

Jul 7, 2024 • 21min
Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz | Lesung und Diskussion
Sansibar, in den 1970er-Jahren. Salims Vater verschwindet, als der Junge sieben Jahre alt ist. Erst als junger Erwachsener, als er im fremden London zu überleben versucht, wird er dem Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur kommen.

Jul 7, 2024 • 18min
Albrecht Selge: Silence
Albrecht Selge hat bereits in seinen vorangegangenen Büchern sein großes musikalisches Wissen und Verständnis in Literatur hineingearbeitet. Sein Ich-Erzähler leidet unter dem Lärm der Welt und redet darüber. Über das Schweigen lässt sich viel sagen.

Jul 7, 2024 • 1h 14min
SWR Bestenliste Juli - August mit Büchern von Abdulrazak Gurnah, Albrecht Selge, Ronya Othmann und Thomas Kunst
Am Spitzenreiter scheiden sich die literaturkritischen Geister in der Kakadu Bar des Mainzer Staatstheaters.
Zunächst ging es aber um den neuen Roman des in Heidelberg geborenen Schriftstellers Albrecht Selge. „Silence“ (Rowohlt Berlin) heißt das schmale Buch auf Platz 6 der SWR Bestenliste im Juli und August. Der Vater dreier Kinder versucht, dem Lärm der Welt und dem Krach in der eigenen Familie zu entkommen. Die Jury ist begeistert vom geistreichen Gedankenfluss des Erzählers, in dem zahlreiche literarische und musikalische Referenzen auftauchen. Ein zentrales Thema des Textes ist die ewige Ruhe und das Sterben. Selge hat zudem ein Faible für Witzel-Vergleiche: „Im Alkoholismus gleicht der Literaturbetrieb der Siebzigerjahre-CDU“.
Auf Platz 5 der Sommer-Bestenliste steht ein grundlegendes Werk des dokumentarischen Erzählens: „Vierundsiebzig“ heißt das Buch von Ronya Othmann aus dem Rowohlt Verlag, das vom Genozid an den Êzîden erzählt, verübt 2014 von den Terroristen des „IS“. Zu Beginn heißt es in dem Buch: „Die Sprachlosigkeit strukturiert den geschriebenen Text, legt seine Grammatik fest, seine Form, seine Worte.“ Die Jury zeigt sich durchweg beeindruckt von diesem wichtigen Buch, das für das Grauen die richtige Form findet, nämlich bewusst fragmentierte Erinnerungssplitter, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen.
Auf Platz 2 der SWR Bestenliste im Juli und August steht der Gedichtband „WÜ“ von Thomas Kunst (Suhrkamp), in dem das lyrische Ich von einem Ort zum nächsten und von einer sprachlichen Form zur nächsten unterwegs ist. Der Band beginnt mit lyrischer Prosa in freien Rhythmen und geht über ins streng komponierte Sonett. Später lesen wir noch japanische Kurzgedichte. Die Jury zeigt sich beeindruckt von der sprachlichen Formenvielfalt. Inhaltlich drehen sich die – wie Kirsten Voigt lobt – „rauschhaften und oft surrealen“ Texte um fragile Familienverhältnisse, das Älterwerden, Diskrepanzen zwischen Stadt und Land, aber auch deutsch-deutsche Dissonanzen zwischen Ost-Vergangenheit und West-Gegenwart. Eine Katze namens WÜ hört dem Dichter zu, der auch den poetischen Mainstream zu kritisieren weiß. Einhellige Empfehlung!
Die meisten Voten der Bestenliste-Jury hat im Juli und August der in Tansania geborene Schriftsteller Abdulrazak Gurnah erhalten. Nachdem Gurnah 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war, werden seine Werke sukzessive ins Deutsche übertragen. 2017 erschien sein Roman „Gravel Heart“ im englischsprachigen Orginal. „Das versteinerte Herz“ lautet nun der deutsche Titel in der Übersetzung von Eva Bonné (Penguin Verlag).
Im Mittelpunkt der Geschichte, die sich über viele Jahrzehnte spannt, steht der zunächst siebenjährige Salim, der in den 1970er Jahren auf der Insel Sansibar in komplizierten Familienverhältnissen aufwächst. Sein Onkel Amir holt ihn nach London zum Wirtschaftsstudium, doch Salim interessiert sich nur für Literatur. Während Eberhard Falcke die Milieubeschreibungen lobt, kritisiert Hubert Winkels die allzu durchsichtige Anlage des Romans, der sich an Shakespeares Komödie „Maß für Maß“ orientiert und kaum eigene literarische Impulse aussendet.

Jul 7, 2024 • 18min
Ronya Othmann: Vierundsiebzig | Lesung und Diskussion
Im August 2014 beginnt die Terrormiliz Islamischer Staat den Völkermord an den Eziden in der Region Shingal. Ronya Othmann reist in die Region, trifft Augenzeugen. Und versucht zugleich, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden.

Jul 7, 2024 • 17min
Thomas Kunst: WÜ | Lesung und Diskussion
Neue Gedichte von Thomas Kunst, aufgeteilt in sechs Kapitel, adressiert jeweils an ein Familienmitglied. WÜ ist eine Katze; auch sie wird angesprochen. So leicht und mit feinem Humor schreitet sonst niemand durch die lyrischen Formen.

Jul 5, 2024 • 56min
lesenswert Quartett mit Denis Scheck
Das „lesenswert Quartett“ zum Anhören: In der Aufzeichnung vom 18. Juni 2024 diskutieren Denis Scheck, Ijoma Mangold, Anne-Dore Krohn und Samira El Ouassil über vier Neuerscheinungen.

Jul 4, 2024 • 4min
Maria José Ferrada – Der Plakatwächter
Es ist ein Arbeitsangebot, das zu gut ist, um wahr zu sein: Ramón soll auf ein riesiges Plakat und die dazugehörigen Scheinwerfer aufpassen. Mehr nicht. Eines Abends klettert Ramón auf das Plakatgerüst am Straßenrand und beschließt, von nun an oben zu bleiben. María José Ferradas Roman „Der Plakatwächter“ sucht das Absurde im Alltäglichen – und spitzt es zu. Ramón wird dabei immer mehr zum Säulenheiligen. Schon als Kind bevorzugte er die Stille, um sich in Ruhe einen Eindruck von der Welt zu verschaffen.
Die Arbeit als Plakatwächter kommt ihm da gerade recht:
Beziehungen zwischen dem, was oben, und dem, was unten passiert – von ihrer Existenz war Ramón überzeugt. Er hatte sechsunddreißig Jahre gebraucht, um den passenden Beobachtungsposten zu finden, an dem er seine mit neun Jahren unterbrochene Suche nach der Stille fortsetzen konnte. Einen Beobachtungsposten und zugleich eine Arbeit, die ihn keine Zeit kostete, ihm aber trotzdem ermöglichte, sich einen guten Mantel zu kaufen, und seinen täglichen Teller Reis sicherte. Und sein Bier. (Maria José Ferrada – Der Plakatwächter, S.22)
Ein Familienleben als Stummfilm
Erzählt wird der Roman von Ramóns elfjährigen Neffen Miguel. Aus seiner Sicht erscheinen Ramóns Entscheidungen verständlich. Schließlich ähnelt auch der Erwachsene einem staunenden Kind, das die Welt besser verstehen will. Aber auch so haben beide eine besondere Beziehung: Nachdem Miguels Vater die Familie verlassen hat, sorgt die Mutter für ihn. Sein Onkel Ramón und seine Tante Paulina wohnen im gleichen Haus und füllen diese Leerstelle, auch wenn Ramón eher ein wunderlicher Freund ist und weniger eine Vaterfigur. Sein Familienleben spielt sich in Miguels Vorstellung als absurder Stummfilm ab:
Eine Stimme aus dem Off sagt: Das werde ich deinem Vater heimzahlen. (Bis auf das Geschepper der Teller und die Musik läuft der Rest als Stummfilm ab.) 1. Meine Mutter nimmt einen Teller und schmeißt ihn an die Wand. 2. Ich verlasse die Wohnung und klingele nebenan. 3. Paulina, die dort wohnt, öffnet die Tür und macht eine Handbewegung, die besagt: deine Mutter ist verrückt. 4. Paulina schließt die Tür und stellt laute Musik an, um den Lärm der zu Bruch gehenden Teller zu überdecken. 5. Ich tue so, als würde ich von dem Geschepper nichts mitbekommen. Paulina tut so, als wäre alles in bester Ordnung, und irgendwann höre ich den Lärm tatsächlich nicht mehr, bis meine Mutter erscheint und sagt: Komm, Miguel, Zeit zu essen. (Maria José Ferrada – Der Plakatwächter, S.22)
Ausgerechnet ein Plakat von Coca-Cola
Mal erinnert der Roman an einen Stummfilm von Charlie Chaplin, mal an ein Theaterstück von Samuel Beckett. Er greift auch einige von Becketts Themen auf, etwa die Erfahrung von existenziellem Verlust und Einsamkeit. Zudem sind die Figuren, bei aller Komik im Roman, tragische Figuren: Ramón hat in der Plastikfabrik, in der er zuvor gearbeitet hat, einen schlimmen Arbeitsunfall mitansehen müssen. Außerdem trinkt er seit seiner Jugend, um sich vom Lärm der Welt abzuschirmen. Auch wenn Ramón für seine Arbeit bezahlt wird, stellt sein Entschluss, auf dem Plakatgerüst zu wohnen, die bestehende Ordnung der Dinge in Frage. Kapitalismuskritik schwingt im Roman schon deshalb mit, weil Ramón ausgerechnet ein Plakat bewacht, das für den Getränke-Riesen Coca-Cola wirbt.
Sprühende Komik und philosophische Tiefe
Die Arbeit der Siedlungsbewohner erscheint in ihrer monotonen Art nicht weniger merkwürdig als Ramóns Aufgabe, auf ein Plakat aufzupassen. „Der Plakatwächter“ stellt so die Absurdität unserer Arbeitswelt und der Welt insgesamt heraus: Der Roman beeindruckt vor allem mit seiner Komik und philosophischen Tiefe. Mit funkensprühender Fantasie wirft María José Ferrada die Frage auf, ob es möglich ist, einen neuen Blick auf das eigene Leben zu gewinnen und vorgegebene Bahnen zu verlassen. Denn mitunter reicht ein schlichter Perspektivwechsel, um das Absurde im Alltäglichen zu finden.


