

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Jul 17, 2024 • 4min
Ika Sperling – Der große Reset
Ein Vater, der an eine Weltverschwörung glaubt. Seine Familie, die aufgegeben hat, mit ihm darüber zu sprechen. Oder miteinander. Das klingt nach großer Tragödie. Doch Ika Sperlings Comic-Debüt „Der Große Reset“ verbreitet von Seite 1 an vor allem eines: Leichtigkeit.
Mit schwungvollem Strich und vielen Aquarellfarben schickt sie ihr Alter Ego, das wie sie Ika heißt, in die pfälzische Provinz. Wochenende. Heimatbesuch. Mit der großen Schwester daddeln oder abhängen. Nur verrät schon ihr erstes Gespräch: Unbeschwert wird der Besuch nicht.
Ika: U..und? Was macht er? Hat er seinen Job schon gekündigt? Hat er schon einen Flug. Glaubst du, er macht dieses Mal Ernst? Hat er was darüber gesagt, ob er das Haus verkauft? Lernt der schon spanisch? Lässt er sich dann auch scheiden? Und was ist dann mit uns? Was genau ist dann sein Plan? Was passiert dann mit dem Hund? (kurze Pause) Bella: Ika. Das kannst du ihn gleich alles selbst fragen.
Quelle: Ika Sperling – Der große Reset
Tragik in den Dialogen, Komik in den Bildern
Damit ist die Fallhöhe gesetzt. Für die Familie geht es ums Ganze. Von nun an kippt „Der Große Reset“ zwischen zwei Polen hin und her. In den Dialogen offenbaren sich Verzweiflung und Resignation, die jeder in Ikas Familie mit sich herumschleppt. Die Bilder aber verbreiten weiter bunte Leichtigkeit.
Auch, weil sie den Alltag in der Familie und im Dorf zeigen. Dabei fühlt man sich bisweilen an Sketche von Loriot erinnert. Kleinbürgerleben hat ungeheuer komisches Potenzial und Ika Sperling hat ein Auge dafür, wie sich Menschen ungewollt lächerlich machen. Die übergriffige Mutter, die Teilnahme heuchelnde Nachbarin, ihr eigenes ungelenkes Alter Ego – sie schont niemanden.
Ihre Figuren zeichnet sie bisweilen, als seien sie überdrehten Cartoons entsprungen. Sie verzerrt die Gesichter oder lässt Schweißtropfen fliegen. Und doch ist die ganze Zeit eine große Zärtlichkeit spürbar, für Schwester, Mutter und sogar für den fremd gewordenen Vater. Ihn entwirft sie als amorphes durchsichtiges Wesen, halb gefüllt mit Flüssigkeit. Tropfen rinnen als Verschwörungsmythen nach und nach aus ihm heraus. Denn er wähnt sich als Opfer böser Mächte und will raus aus Deutschland.
Aber ich muss mich beeilen. Die scheinen ihre Pläne schneller umzusetzen als gedacht. Der Krieg für Europa war erst für 2024 vorhergesagt. Und gerade sieht es so aus, als ob sie das vorgezogen hätten. Wahrscheinlich weil immer mehr Leute wie ich aufwachen und bei dem Mist nicht mehr mitmachen und sich jetzt wehren. Zuerst Corona, dann der Krieg, jetzt die Inflation. Es ist alles so gekommen, wie ich gesagt habe. Wach endlich auf!
Quelle: Ika Sperling – Der große Reset
Verschwörungsglauben entsteht nicht im luftleeren Raum
Redet sich der Vater in seine Wut hinein, verlieren seine Umgebung und Tochter Ika ihre Konturen und Farben, alles fließt ineinander. Auch wenn die Zeichnerin danach zu ihrem lockeren Strich und bunten Bildern zurückkehrt – es wird klar: Der Vater lebt in seiner eigenen Realität. Ika Sperling lässt uns aber nicht im Glauben, seine Radikalisierung sei ein Sonderfall. Sie porträtiert ein Umfeld, in dem andere ganz ähnlich denken.
Gespaltene Gesellschaft – gespaltene Familie
Glücklicherweise erspart „Der Große Reset“ uns Lesenden moralische Verurteilungen. Ika Sperling hält in ihrem Comic einfach fest, wie die politische Spaltung der Gesellschaft sich ins Private fortsetzt. Bei Konflikten lässt sie ihre Ika einfach aus dem Bild spazieren. Oder sie zeichnet immer wieder einen Querschnitt vom Haus der Familie.
Unter dessen Dach leben zwar alle, aber jeder in einem anderen Raum. Und so endet ihr Debüt nicht hoffnungslos, aber ernüchtert. Aus Ikas Vater ist zum Schluss alle Flüssigkeit herausgesuppt. Vielleicht, weil die beiden sich endlich offen auseinandergesetzt haben. Und seine Entscheidung getroffen ist.
„Reset“ ist ja auch übersetzbar mit „Neustart“. Ein großartiges Comic-Debüt.

Jul 16, 2024 • 4min
Ingrid Robeyns – Limitarismus
Sinnvolle Forderungen gegen Armut und Ungleichheit
Die Österreicherin Marlene Engelhorn hat rund 25 Millionen Euro geerbt und wird ein Großteil ihres Erbes nicht behalten. Ein Rat aus fünfzig Bürgerinnen und Bürgern wird darüber entscheiden, was damit geschehen soll. Engelhorn tritt dafür ein, die Erbschaftssteuer zu erhöhen und große Vermögen mit saftigen Steuern zu belegen, um Armut und Ungleichheit entgegenzuwirken.
Den Schluss, dass diese Forderungen sinnvoll sind, legt auch das Buch „Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss“ nahe. Das leidenschaftliche Plädoyer für die Deckelung von Vermögen stammt aus der Feder der niederländischen Wirtschaftswissenschaftlerin und Ethikprofessorin Ingrid Robeyns.
Sie liefert Belege für die weltweit wachsende Ungleichheit und erklärt, warum diese schädlich für die Stabilität der Demokratie und das Klima ist. In einem zweiten Schritt zeigt sie Wege auf, diese Ungleichheit wieder zu verringern. Die Forscherin schreibt,
(...) dass in den vergangenen fünf Jahren jeder der zehn reichsten britischen Milliardäre mindestens 10 Milliarden Pfund besaß oder das Äquivalent von zehntausend Dreizimmerwohnungen mitten in London. Zehntausend Dreizimmerwohnungen.
Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus
Zwei Millionen Dollar Stundenlohn
Zu Elon Musk, der 2022 die Spitze der Milliardärsliste des US-Magazins Forbes anführte, heißt es bei Robeyns:
Damals belief sich der geschätzte Wert seines Vermögens auf 219 Milliarden US-Dollar. Welchem lebenslangen Stundenlohn entspricht Musks Vermögen? Antwort: 1.871.794 US-Dollar pro Stunde. Annähernd zwei Millionen Dollar pro Stunde. Fünfundvierzig Jahre lang für jede Arbeitsstunde.
Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus
Robeyns macht in ihrem gut lesbaren Buch mit solch eindrücklichen Beispielen klar, was es heißt, unermesslich reich zu sein. Sehr große Vermögen, so schreibt sie, wurden meist nicht nur auf saubere Weise angehäuft, sondern profitierten von Steuerbetrug, Korruption oder Geldwäsche und bauten auf ausbeuterischen Gewinnen aus der Kolonialzeit auf.
Robeyns schreibt großen Vermögen auch zu viel politischen Einfluss zu, etwa durch Lobbyismus. Dadurch werde das Prinzip „eine Person – eine Stimme“ ausgehebelt. Wachsende Ungleichheit und Armut seien jedoch noch weitaus gefährlicher für die Demokratie:
Wenn unterschwellige Unzufriedenheit über die Verhältnisse herrscht, kann ein einziges Ereignis sehr schnell eine Eskalation auslösen und zu Protesten, Aufständen und sogar Regimewechseln führen. Die einzige Möglichkeit, solche dramatischen Umwälzungen zu verhindern, ist, den Gesellschaftsvertrag so zu überarbeiten, dass er allen einen gerechten Nutzen gewährleistet.
Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus
Vielfältige Wege zu mehr Gleichheit
Für Robeyns gibt es verschiedene Wege, um mehr Gleichheit zu erreichen. Hohe Steuern für Vermögende sind ein Weg, die Besteuerung von Erbschaften ein weiterer. Und Steueroasen und Steuervermeidungsstrategien gehörten abgeschafft. Am liebsten würde die Autorin ein Limit für Reichtum einführen, zumal ab einer bestimmten Vermögenshöhe der Wohlstand eines Menschen nicht mehr wachsen könne.
Eine Million Euro pro Person ermögliche einem Menschen ein sehr gutes Leben, habe beispielsweise eine Umfrage in den Niederlanden ergeben. Robeyns weiß, dass drastische Eingriffe wie eine Obergrenze für Reichtum utopisch sind. Überdenkenswert sind ihre Vorschläge aber durchaus, zumal es auch die Reichen sind, die am meisten zum Klimawandel beitragen.
Wie Marlene Engelhorn ist inzwischen eine wachsende Zahl von Vermögenden zu dem Schluss gekommen, dass ungezügelt wachsender Reichtum nicht von Nutzen sei. Wie Taxmenow in Deutschland, fordern inzwischen weltweit Vereinigungen von Vermögenden die Einführung gerechterer Steuersysteme, berichtet Ingrid Robeyns – nicht zuletzt aus Angst vor Gewalt und politischer Instabilität.

Jul 15, 2024 • 4min
Paula Irmschler – Alles immer wegen damals
Müsste man das Leben von Karla mit einem Satz zusammenfassen, so lautete er vermutlich: Es ist kompliziert. Sie ist 29, lebt in Köln in prekären Verhältnissen, ist verliebt in eine Frau, die weit weg ist, und mit ihrer Mutter Gerda hat sie seit zwei Jahren kein Wort gewechselt. Warum genau, ist nicht so leicht zu sagen. Eine Antwort könnte darin liegen, dass Karla 1989 in Leipzig zur Welt kam.
Ihre Mutter hatte da bereits drei Kinder, musste sich nach der friedlichen Revolution plötzlich in einem neuen System zurechtfinden und hatte kaum Zeit und Nerven, sich der sensiblen Karla ausreichend zu widmen. Und weil auch der Vater abwesend war, musste das Mädchen sich eben selber helfen, was einerseits in tiefsitzende Ängste und Selbstzweifel und anderseits in einer tiefen Entfremdung zwischen Tochter und Mutter mündete.
Es klingt dramatisch und das ist es auch, doch Paula Irmschler findet in ihrem Roman „Alles immer wegen damals“ einen Ton für ihre Geschichte, der schön schnoddrig ist und doch berührt.
Erst als sie 17 wurde, erfuhr Mutti, dass Karla schon lange ihre Tage hatte und war enttäuscht, sie hätte das gern gewusst, es sei doch eine große Sache, man wird zur Frau. Karla fühlte sich überhaupt nicht als Frau, nur weil sie einmal im Monat ultrafiese Schmerzen und eklige Suppe im Schlüpfer hatte. Sie wartet noch heute auf das Gefühl. Auch ihr Körper hat sich nicht verändert. Sie ist bis heute dünn und flach, sie findet sich viereckig. Sie ist eine Sache.
Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals
Der Ossi in ihr
Immer im Wechsel erzählt Paula Irmschler von Karla in Köln und Gerda in Leipzig. Karla wollte zwar so schnell und so weit wie möglich weg von der Mutter, aber auch in Köln fühlt sie sich unfertig und verloren. Allerdings bemerkt sie in der Ferne, dass sie ihre Herkunft nicht einfach abstreifen kann.
Und so zeichnet Paula Irmschler nicht nur das Porträt einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, sondern wie nebenbei auch das einer nicht weniger schwierigen Ost-West-Beziehung, die sich in Karla auf interessante Art und Weise personifiziert. So, wenn sie allein in einem Kölner Café sitzt und die einladenden Blicke einer Frau am Nebentisch abwehrt.
Karla ist ein unzugänglicher Millennial, obendrauf ist sie noch, wie sie ist, und dann steckt da leider auch immer ein unaufgeschlossener Ossi in ihr, der skeptisch gegenüber allen ist, die ihr fremd sind, also alle, die sie kürzer als ein Jahr kennt. Wann wird sie endlich zur Kölnerin und schmatzt einfach alle ab?
Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals
Und wo bleibt unsere Geschichte?
Mutter Gerda dagegen gehört zu der Generation Ostdeutscher, die im wiedervereinigten Deutschland tapfer ihren Weg gegangen sind und dabei zugesehen haben, wie Leute aus dem Westen auch im Osten zunehmend das Sagen hatten. Mit ihrer Freundin Karin erträgt sie in Leipzig die Höhen und Tiefen dieser Entwicklung und bemerkt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine gewisse Selbst-Musealisierung.
Die Lebensgeschichten der beiden sind jetzt Systembiografien. Das Leben von damals befindet sich nun in Museen und Dokus, aber nirgendwo findet Gerda ihres. Vieles war eigentlich so unspektakulär, findet sie. Ja, richtig langweilig, ergänzt Karin. Aber dann sagt sie: Das sollte man nicht öffentlich sagen, sonst verharmlost man die Diktatur.
Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals
Weil sowohl Karla als auch Gerda im November geboren sind, schenken ihnen die Geschwister zum 30. bzw. 60. Geburtstag schließlich eine gemeinsame Reise nach Hamburg, die Karla nur zähneknirschend antritt und die sie unverhofft an die Ostsee führt. Dort kommen Tochter und Mutter sich immerhin wieder so nahe, dass sie erst über Wessis und deren Macken lästern und sich dann ihre Versionen der gemeinsamen Geschichte erzählen können.
Der Titel von „Alles immer wegen damals“ ist also Programm, ein manchmal trauriges, oft komisches, aber immer unterhaltsames Programm. Paula Irmschler schafft es, das zumindest im Osten immer noch heiße Eisen der ungleichen Verhältnisse anzufassen ohne in Larmoyanz zu verfallen.
Dass der Roman ein bisschen zerfasert und kein richtiges Ende findet, liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache: Familie ist nie zu Ende und auch die deutsche Wiedervereinigung ist, wenn man ehrlich ist, noch in vollem Gange.

Jul 14, 2024 • 6min
Die gute alte Landkarte hat noch nicht ausgedient | Gespräch
Sein persönlicher Lektüretipp: Anne Webers „Bannmeilen“.

Jul 14, 2024 • 55min
lesenswert Magazin: (Nicht ganz leichte) Sommerlektüren
Ein gutes Buch darf in keinem Reisegepäck fehlen - und da hat das Lesenswert-Magazin einige Tipps.

Jul 14, 2024 • 5min
Charly Hübner – „Wenn du wüsstest, was ich weiß ...“: Der Autor meines Lebens | Buchkritik
1989 der Mauerfall, dann der politische Umbruch mit einer Welt voll neuer Möglichkeiten in diese und jene Richtung. Charly Hübner, ein seinerzeit 16jähriger Mecklenburger, will Schauspieler werden, und er ist bereit, all das Neue ringsum zu erkunden, zu erkennen, zu erleben und – auch das – zu erlesen. Hans Fallada ist bis dahin sein Lieblingsautor, Fallada mit seiner Mischung aus genauer Beobachtung, sozialer Anteilnahme und klarer, stets im Dienst der Erzählung stehender Sprache. Aber dann - auch der Buchmarkt ist ja nun ein großer, gesamtdeutscher - geraten ihm die „Jahrestage“ in die Hände, das Meisterwerk des Uwe Johnson – auch er ein ostdeutsches Nordlicht.
Gut fünf Jahrzehnte später spricht der inzwischen als Schauspieler bekannt gewordene Charly Hübner Johnsons Romanchronik als Hörbuch ein und liefert dazu noch eine Art Liebeserklärung - eben an Uwe Johnson.
Johnson ist für Charly Hübner der Autor seines Lebens
Johnson ist für Hübner der Autor seines Lebens und einer der größten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Manche Eingeweihte werden Hübner hier zustimmen, andere Johnson doch eher eine Kategorie unter Mann, Musil, Keller und Kafka einsortieren, vielleicht auch noch unter Günter Grass und Martin Walser. Was letztlich egal ist, denn solche Rankings haben immer etwas irgendwie Verfehltes und Angestrengtes. Viel interessanter ist es, dem Schauspieler Hübner bei seinen Umkreisungen des Johnsonschen Erzählstils zu folgen:
„Es geht eben nicht nur darum, cool eine Geschichte zu erzählen, sondern auch darum, wie man diese spezielle Geschichte erzählt und mittels Sprache, das, was die Helden der Geschichte erleben, spürbar macht.“
„Uwe Johnson suchte in der Sprache nach einem Ausdruck, der Tatsache und Empfindung, persönliche Sorge und historischen Fakt verbindet. Er erfand Sätze, die mir sowohl die Vertracktheit der politischen Situation als auch die persönliche Empfindung der erlebenden oder berichtenden Person widerspiegeln, wie zum Beispiel die rasenden Gedanken des trainierenden Radrennfahrers Achim in dem 1964 erschienen Roman „Das dritte Buch über Achim“.“
Hübners Biografie verbunden mit Johnsons Leben
Immer tiefer wird Johnson die verschiedenen Zeit- und Ereignisebenen verdichten, immer offener und freier wird er das Abgelauschte gegen das von ihm Erfundene, das Geschnatter neben das Chronologische stellen und es dann in den „Jahrestagen“ zu seinem Großroman zusammenbinden.
„Das gezierte Sprachbild ist ein Code für eine Wirklichkeit, für einen Gedanken, den Johnson nicht direkt erzählen will. Er nimmt einen Umweg. Im Umweg liegt Johnsons Geheimnis, als würde er sich auf vielen Wegen und mit allen möglichen, lyrischen, journalistischen, erzählerischen Mitteln diesem Geheiminis (einem Lebensgeheimnis?) nähern.“
Uwe Johnson neu entdecken
Charly Hübner verbindet seine eigene Biografie unaufdringlich mit dem Lektüreerlebnis, er ruft spezielle Lebensstationen Johnsons auf und kehrt von da zurück zur großen Herausforderung der Hörbuchproduktion der Jahrestage.
Die Jahrestage hat Hübner mit Moderatorin Caren Miosga eingelesen, und warum die beiden genau so und nicht anders gelesen haben – auch das erschließt sich mit diesem Buch. Und so ist Charly Hübners Johnson-Würdigung eine feine, an jedem Punkt gut nachvollziehbare Lesehilfe fürs Entdecken oder Bewundern des Schriftsellers Uwe Johnson.

Jul 14, 2024 • 6min
Rachel Cusk – Parade | Buchkritik
Schon der Anfang ist typisch Rachel Cusk: präzise, kühl und treffend genau.
Ab einem gewissen Punkt in seiner Laufbahn begann der Künstler G – vielleicht weil er keine andere Möglichkeit sah, sich zeitlich und räumlich in der Geschichte zu orientieren -, auf dem Kopf zu malen.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Wo findet die künstlerische Frau ihren Platz?
Die Kunstwelt reagiert begeistert: Die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt - was für ein genialer Einfall! Eine Betrachterin aber steht wie erstarrt:
Als Gs Frau die umgedrehten Bilder zum ersten Mal sah, fühlte sie sich, als hätte jemand sie geschlagen. Das Gefühl, dass alles richtig erschien und doch grundlegend falsch war, erkannte sie auf Anhieb wieder. Dies war ihre Befindlichkeit, die Befindlichkeit ihres Geschlechts.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Damit ist auch schon das Thema auf dem Tisch, das fast das ganze Werk von Rachel Cusk beherrscht: Wo findet die Frau, vor allem die künstlerische Frau ihren Platz? Wie kann sie ihre Talente erkennen und umsetzen? Und wie schützt sie sich vor den Anforderungen des Alltags, der Familie, der Liebe, die sie von ihrem Weg abbringen? Das fragt sich auch Gs Frau, findet dann aber einen Ausweg, mit dem sie einigermaßen leben kann:
Seine Erfolge - seine Leistungen – waren auch ihre, besser gesagt hatte sie ihm ihr Leben und ihre Kraft gewidmet und auf die Möglichkeit verzichtet, es selbst zu etwas zu bringen. Deshalb beanspruchte sie nun einen Teil seiner Macht für sich.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Themenwechsel: es geht um Mutterschaft
Doch kaum hat man sich als Leser auf dieses Malerpaar und seine Probleme eingelassen – da bricht die Geschichte auch schon ab. Übergangslos übernimmt eine andere Frau den Erzählfaden, die einfach nur als „Ich“ auftritt, vielleicht sogar die Autorin selbst ist. Sie berichtet von einer Künstlerin, die auch G heißt und ziemlich jung im Kindsbett gestorben ist. Plötzlich geht es also um Mutterschaft und ob sie die schöpferische Arbeit von Frauen behindert oder sogar zerstört. Auch die Erzählerin fühlt sich davon bedroht.
Manchmal scheinen in dieser Stadt alle Kinder zu weinen. Sie werden in Buggys durch die Straßen geschoben und heulen wie Sirenen.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
stellt sie genervt fest.
Während die Kinder schreien, erscheint mir meine eigene Geschichte der Mutterschaft wie ein hoch flussaufwärts gelegener Ort, von dem ich weit abgedriftet bin. (…) Das Geschrei der Kinder weckt meine Ungeduld und so etwas wie Angst, als verkörperten sie eine universelle Einsatztruppe, aus der ich niemals entlassen werde.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Später wird dieser Gedanke aus der Sicht einer Tochter aufgegriffen.
Denkt denn nicht jeder, seine Mutter hätte eine Künstlerin sein können? Vielleicht glauben wir das, weil wir uns schuldig gemacht und das Leben unserer Mutter ruiniert haben.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Rachel Cusk ist nicht ohne Grund eine hochgelobte Schriftstellerin - wenn auch in Deutschland weniger bekannt als im englischsprachigen Raum. Schon zu Beginn ihrer literarischen Karriere 1993 wurde sie als eine der besten jungen britischen Autorinnen gefeiert und dann auch mit Preisen überhäuft. In nahezu allen ihren Büchern umkreist sie Themen wie Mutterschaft und weibliches Künstlertum. Fast zornig verteidigt sie das Recht der Frau, eine eigene Sicht auf die Welt zu haben und die auch kreativ umzusetzen.
2022 sagte sie in einem Interview:
„Muss eine weibliche Stimme denn ungelebt und unentdeckt bleiben? Besteht ihr Wert darin, überhaupt nicht oder nur stumm zu existieren? Nicht frei zu sein, keine Dinge zu besitzen und nicht das Wissen, das daraus entsteht? Oder ist sie in Wirklichkeit eine eigenständige Existenz und ein als eigenständig erkennbares geistiges Wesen?“
Ein Plädoyer für weibliche Eigenständigkeit
Auch Rachel Cusks neues Werk „Parade“ ist ein Plädoyer für die Eigenständigkeit der Frau und für den Respekt vor ihrer künstlerischen Kraft. Denn trotz aller Gleichberechtigung gibt es immer noch die vertrauten Rollenverteilungen, die Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern. Manchmal brutal direkt, manchmal nur wie ein feines Gespinst, eine Art Spinnennetz - Gelegenheit für schön fiese Bemerkungen:
Einem Mann ihre Alpträume aufzubürden, war womöglich ihr Abschiedsgeschenk an das männliche Geschlecht. Vielleicht lässt mich dieser Gedanke heute Nacht besser schlafen.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Leider hat Rachel Cusk ihrem Roman eine ziemlich komplizierte Form verpasst. Er zerfällt in oft unverbundene Einzelteile. Männliche und weibliche Künstler tauchen auf und verschwinden wieder und alle heißen sie G. Oft rätselt man, an welchem Ort und in welcher Zeit man sich denn jetzt befindet. Doch immer wenn man kurz davor ist, das Buch beiseite zu legen, genervt von dem ewigen Hin und Her und dem vielen Theoretisieren, fegen wunderbar dichte und klare Passagen allen Frust weg.
Nach der Parade bedeckte eine flockige Schicht aus Müll und Glasscherben die Straße (…) An manchen Stellen lag er fast einen halben Meter hoch, größtenteils leere Flaschen und Verpackungen. Wie Tiere, die in freier Wildbahn einen abgenagten Kadaver zurücklassen, hatte die Leute gegessen, getrunken und die Behältnisse einfach zu Boden geworfen. In den Schaufensterscheiben spiegelte sich der rosa Himmel.
Quelle: Rachel Cusk – Parade
Solche sprechenden Bilder sind eine der großen Stärken von Rachel Cusk. Sie ist eine erbarmungslos genaue Beobachterin von Menschen, von kleinen, erhellenden Szenen, in denen sie viel mehr erkennt, als an der Oberfläche erscheint.
Besonders genau aber beobachtet sie sich selbst, klug und fast übersensibel. Es lohnt sich also, sie näher kennenzulernen, mit ihren Gedanken und ihrer Dünnhäutigkeit – doch „Parade“ ist dafür leider kein guter Einstieg: zu theoretisch, zu kopflastig, zu kompliziert. Deshalb lieber „Arlington Park“ oder „Der andere Ort“. Oder die vielgelobte „Outline“-Trilogie. Alle aber mit punktgenauen Erkenntnissen wie diese:
Gottseidank sind wir nicht verheiratet, sagte sie, denn so kann ich ihn trotzdem lieben.
Quelle: Rachel Cusk – Parade

Jul 14, 2024 • 6min
Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy | Buchkritik
Schwarze, wilde Wolken türmen sich am Himmel auf. Ein Sturm fegt mit mächtiger Kraft über die Erde. Unter einer Plane, die notdürftig an einem Stock festgebunden ist, liegen Vater und Sohn, kaum geschützt vor der Naturgewalt, die um die beiden tost. Das ist die Eingangssequenz der Comicadaption von „Die Straße“ von Manu Larcenet – sie ist eine Methapher für all das, was die beiden in diesem Road Movie erwartet.
Überleben in der Hölle
Eine nicht näher erklärte Katastrophe hat die Erde zerstört. Die wenigen Überlebenden müssen in einer Welt klarkommen, in der keine Pflanze mehr wächst und das Wasser versiegt ist. Sie suchen nach den letzten Konserven der untergegangenen Zivilisation – viele jagen die letzten Tiere und Menschen, um sie zu essen. Das Leben in dieser Welt ist die Hölle.
Werden wir sterben? – Irgendwann schon.– Und was… würdest Du machen, wenn ich sterben würde? – Dann würde ich auch sterben wollen.
Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy
10 Jahre alt ist der Sohn – und genauso lange irrt der Vater mit ihm durch die kaputte Welt. Das geht aus einem Brief hervor, den der Vater im Comic auseinanderfaltet. Es ist der Abschiedsbrief der Mutter, die ihren Sohn kurz nach der Katastrophe entbunden hat. Sie hatte keine Hoffnung, menschenwürdig in dieser zerstörten Welt zu leben und erschoss sich. Nun irrt der Vater mit der Pistole durch die Welt und hat noch genau zwei Kugeln übrig.
Bilder, die an die biblische Apokalypse erinnern
Warum unter diesen Umständen weiterleben? Diese Frage stellt (er) sich immer wieder. Manu Larcenet zeichnet die bis auf die Knochen ausgemergelten Körper von Vater und Sohn so, dass sie an die Darstellungen der biblischen Apokalypse der Renaissance erinnern. Allerdings fehlt den meisten Zeichnungen der üppige Hintergrund. Die Welt von Manu Larcenet ist öde und leer, nur die Äste einiger toter Bäume ragen gespenstisch in die Bilder. Jedes einzelne Bild in diesem Comic ist ein Kunstwerk der Hölle.
Geht´s? Dir ist kalt, mh? – Ja. Können wir anhalten?
Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy
Cormac McCarthy lässt in seinem Roman „Die Straße“ abwechselnd Vater und Sohn von ihrer Odyssee erzählen. Manu Larcenet streicht den Text des gut 250-Seiten Romans radikal zusammen. Sprache ist in dieser unmenschlichen Umwelt kein facettenreiches Kommunikationsmittel, das Grauen ist unaussprechlich. Vater und Sohn haben keine Namen und unterhalten sich fast ausschließlich über Praktisches. Umso bedrohlicher werden die kleinsten Wendungen in der kargen Kommunikation.
Ich versuche, ein Feuer zu machen. Gib mir die Streichhölzer. – Ich… Ich hab sie verloren, Papa. – Was? – Ich hab sie verloren, ich weiß nicht wann. Ich wollte es Dir nicht sagen, tut mir leid, Papa.
Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy
Im Roman bezeichnen sich Vater und Sohn als diejenigen, die „das Feuer bewahren“. Damit meint Cormac McCarthy, dass sie trotz aller Widrigkeiten ein moralisch integres Leben führen. Das wird bei all dem Hunger und dem Schrecken immer wieder auf die Probe gestellt. Als der Sohn von einem Kannibalen gefangen wird, befreit ihn der Vater mit einem Kopfschuss. Die halb verhungerten Menschen, die sich andere Kannibalen in einem Keller als Vorratslager halten, werden dagegen von Vater und Sohn nicht befreit, aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen.
Keine Hoffnung, auch nicht am Meer
Die beiden folgen einfach nur der Straße quer durch den Kontinent, die sie ans Meer bringen soll - weil der Vater gute Erinnerungen ans Meer hat. Als sie dort ankommen, ist es aber nicht besser als im Landesinnern: schwarze Wolken hängen über dem Meer, ein zerborstener Kutter liegt am Strand und tote Fische liegen zwischen menschlichen Skeletten.
Papa? – Mmh? – Was sind unsere langfristigen Ziele? – Wo hast Du das denn her? – Das hast Du gesagt. – Wann? – Vor langer Zeit. – Und was war die Antwort? – Das weiß ich nicht mehr. – Ich auch nicht.
Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy
Und dann werden sie auch noch beraubt. Alles Hab und Gut, das die beiden in einem Einkaufskorb den weiten Weg bis ans Meer geschoben haben, die Konserven, die sie in mühevoller Arbeit zwischen Leichen und anderen grausigen Funden zusammengeklaubt haben, um zu überleben, ist nach der ersten Nacht am Meer weg. Wie ein Wahnsinniger sucht der Vater nach dem Dieb, flitzt von der Deckung eines Autos über die Straße, findet einen verlotterten Mann mit dem Einkaufswagen - und rächt sich.
Das Messer runter… Zieh dich aus, alles runter – und zwar schnell… Leg alles in den Wagen. – Mach das nicht. – Die Schuhe auch. Ich verhungere.. Du hättest dasselbe getan. Du weißt, ohne Kleider verrecke ich. – Du wolltest uns töten. Ich lass Dich genauso zurück, wie Du uns.
Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy
In einem Anfall von Wut und Verzweiflung hat der Vater seinen Vorsatz vergessen, moralisch integer zu bleiben. Will man in so einer Welt wirklich überleben? Cormac McCarthy gibt darauf keine Antwort. Stattdessen zeigt er den Niedergang aller Menschlichkeit in einer zerstörten Welt.
Als der Roman vor knapp 20 Jahren erschien, vermuteten viele Kritiker, dass McCarthy die Folgen des Klimawandels (beschrieben/aufgezeigt) hat. Heute erscheint das noch wahrscheinlicher. Manu Larcenet hat die Sprache des Romans in eindrückliche und zeitgemäße Bilder des Grauens verwandelt, mit facettenreichen Grauschattierungen. Das ist keine erbauliche Sommerlektüre, sondern ein postapokalyptisches Meisterwerk.

Jul 11, 2024 • 4min
Franz Friedrich – Die Passagierin
Angenommen, man könnte in die Vergangenheit reisen und Menschen mit sich zurück in die Zukunft nehmen – welche Personen wären das? Jedenfalls nicht die großen Namen der Geschichte. Einen Buddha, Jesus oder Platon ihrer Epoche zu entreißen hätte schließlich unabsehbare Folgen für den Geschichtsverlauf. Die Zeitreisenden in Franz Friedrichs Roman „Die Passagierin“ konzentrieren sich daher auf tragische Einzelschicksale, auf vergessene Selbstmörder oder Opfer kollektiver Gewalt.
Zeitreisen zur Gewissensberuhigung
Um es gleich zu sagen: Plausibel ist dieser Einfall nicht. Man sollte meinen, dass es auch in der Zukunft mehr als genug Menschen geben wird, warum also noch Abertausende aus der Vergangenheit holen? Doch Friedrichs Retter sind Gutmenschen par excellence; was sie antreibt, ist eine Variante der Überlebensschuld: Wer das Glück hat, in einer Zeit zu leben, in der alle Menschheitsprobleme gelöst sind, möchte zur Gewissensberuhigung wenigstens ein paar Einzelne an diesem Glück teilhaben lassen. Menschen wie Matthias, einen verbitterten Landsknecht aus dem späten Mittelalter:
So wie hier würde es nicht ewig sein – daran erinnere ich mich noch genau –, das haben sie gesagt (…). Es gebe Türen in andere Zeiten, Korridore, die sich durch die Epochen schlängeln würden, es sei möglich, so weit zu reisen, dass alle Kriege und Hungersnöte überwunden seien, vor und wieder zurück, die Jahrhunderte überspringen. Am liebsten hätte ich mich ihnen sofort angeschlossen.
Quelle: Franz Friedrich – Die Passagierin
Die uneingelösten Potenziale einer Epoche
Dass dennoch vieles an diesem Rettungsprogramm unklar bleibt, liegt daran, dass der Autor darauf verzichtet, die zukünftige Welt seines Romans detaillierter zu beschreiben. Was schade ist, da so die vermeintlich bessere Welt bloße Behauptung bleibt. Sicher ist nur, dass es dieses Programm zur Zeit der Handlung schon nicht mehr gibt. Es wurde kurz vor Beginn des Romans eingestellt, nachdem eine der Geretteten, ein Opfer der Hexenverfolgungen, lieber wieder in ihre Zeit zurückkehren wollte. Das Ende der Rettungsmissionen ist für die übrigen Evakuierten ein Schock ebenso wie für die, die diesen Einsätzen ihr Leben gewidmet haben.
Friedrichs Ich-Erzählerin Heather ist sogar beides, eine Evakuierte, die später selbst Menschen aus ihren Unglücksepochen gerettet hat. Mit dem Autor teilt sie das Geburtsjahr, 1983, und die Jugend im tristen Ostdeutschland der Neunziger mit Arbeitslosigkeit und Neonazis. Zu Romanbeginn sucht sie ein Sanatorium auf, einen kafkaesken, verfallenden Rückzugsort der letzten Evakuierten. Dort – in einer nicht genauer spezifizierten Zukunft – bilden Menschen aus allen möglichen Epochen eine Art Selbsthilfegruppe, unter der Leitung einer früheren Schamanin. Die interessiert sich in den therapieähnlichen Gesprächsrunden vor allem für die individuellen Traumata der Geretteten; zum Ärger von Landsknecht Matthias, dem die Möglichkeiten einer Epoche wichtiger sind.
Jede Epoche verfügt ja auch über Potenziale, das Bestreben, es besser zu machen, schöner und gerechter, das finde ich viel interessanter, Chancen, an denen sie sich zu messen hat. (…) Der Fokus auf das individuelle Leid verstellt da manchmal den Blick.
Quelle: Franz Friedrich – Die Passagierin
Ein Landsknecht als Utopist
Ästhetisch kann man Friedrichs geschichtsphilosophischem Zeitreise-Roman leider einiges vorwerfen: seinen allzu haushälterischen Umgang mit Informationen über die Zukunft etwa. Oder Unglaubwürdigkeiten wie die Annahme, dass sich Menschen mit komplett anderen Prägungen via Crash-Kurs in gebildete, moderne, westliche Menschen verwandeln lassen – wer will, mag darin einen sarkastischen Kommentar auf die Migrationsdebatten unserer Tage sehen.
Zugleich aber hat die Figur des „sanften Melancholikers“ Matthias etwas Großartiges: Ein ehemaliger Landsknecht, der zur Zeit der Bauernkriege aufseiten der reaktionären Kräfte stand. Und sich in der Zukunft zu einem erfinderischen Utopisten mausert und sich den Kopf zermartert, warum die Menschheit ein ums andere Mal unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Das ist wirklich originell!

Jul 10, 2024 • 4min
Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Dieses Buch bietet die Quintessenz eines Intellektuellen, der nie den Bezug zu den großen Lebensfragen verloren hat, über die Menschen seit Jahrtausenden nachdenken. Lorenz Jäger geht deshalb mit Selbstbewusstsein und Demut vor. Anstatt selbst drauflos zu ratgebern, bringt er Traditionen zum Sprechen und Schwingen, moderiert die großen Texte und Stimmen, vom Gilagemesch-Epos, der Bibel und den griechischen Epen bis zu Arno Schmidt und Joni Mitchell. Das ist anspruchsvoll, aber dank des unprätentiösen Tons immer zugänglich.
In neunzehn Kapiteln geht es um Themen und Motive wie die Entfaltung des Unsterblichkeitsglaubens, Begräbnisrituale, die Lebensalter, das Leben-Geben und Leben-Nehmen, aber auch um das Nicht-Leben-Wollen, also die Selbsttötung.
Die Frühverstorbenen und die Uralten
Jäger umkreist die Todesahnungen früh verstorbener Genies wie Hauff, Kafka oder Georg Büchner, der nur zweiundzwanzig wurde, in seinen Werken aber so wirkt, als würde er die Bitterkeit von Jahrhunderten destillieren. Ein volles Leben muss nicht lang sein:
Achilles also stirbt jung. Er ist dafür der schönste unter den Männern, die vor Troja stehen, und der kühnste Krieger. Wir sehen einen James Dean der Antike. Erfüllt kann ein Leben ohne weite zeitliche Ausdehnung sein; auch Romeo und Julia mag man sich nicht alternd vorstellen.
Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Auf der anderen Seite ergründet er die Lebenskunst derjenigen, die uralt wurden, wie Ernst Jünger oder Hans-Georg Gadamer. Gemeinsam ist ihnen, dass sie schon früh damit begonnen haben, weiträumig ins Überzeitliche, Überhistorische zu denken
Lob der Vergänglichkeit
Im Gegensatz zu den Tieren wissen Menschen, dass sie Geborene und deshalb auch Verfallende und Sterbende sind. Der Tod ist die Bedingung des Lebens und verleiht ihm den Reiz des Unwiederbringlichen. In diesem Sinn zitiert Jäger Thomas Manns Essay „Lob der Vergänglichkeit“. Verschwendet wäre solche Lebensklugheit an die neuen Biotech-Utopisten und Transhumanisten, die den Tod besiegen wollen, indem sie das Bewusstsein eines Menschen auf Datenträger laden und dann auf einen Klon übertragen. Jäger gibt ihnen Antwort:
Die Vision der Transhumanisten ist die furchtbarste, die man sich je von der Unsterblichkeit gemacht hat. Wenn die Menschen fünfhundert Jahre alt werden, würden Kinder nicht mehr gebraucht, eigentlich müssten sie dann verboten werden. (…) Utopien sehen meistens schön aus, betrachtet man sie aber näher, so ähneln sie einem Sanatorium – sie sind nur möglich, wenn man sich den Abbau aller Spannungen zwischen den Menschen ausmalt. Das hätte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, wie er uns bekannt ist.
Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
Im Kapitel „Die Gräber“ entwickelt Jäger eine kurze Geschichte der Erd- und Feuerbestattung. Bei Homer werden Leichen der Helden feierlich verbrannt. Anders in der Bibel. Bei einem eingeäscherten Jesus wäre die Auferstehung weniger plausibel gewesen, weshalb die christlichen Kirchen bis vor kurzem die Feuerbestattung abgelehnt haben. Die Aufklärung plädierte auch aus antiklerikalen Motiven für die Kremierung. Dieser Stoßrichtung folgten der Nationalsozialismus, der die Feuerbestattung 1934 rechtlich gleichstellte, und die DDR. Heute dominieren zunehmend Asche und Urne. Ein unauffälliges, ressourcenschonendes und preisgünstiges Verschwinden scheint angeraten. Sagt dies – jenseits der Sonntagsreden über die „unantastbare Würde“ – etwas über den gegenwärtigen Wertverfall des Menschenlebens?
Um den eigenen Tod betrogen
Rilkes Sorge, dass der Mensch um seinen ureigenen Tod betrogen werde, erhält im modernen Medizinbetrieb mit seinen lebens- oder elendsverlängernden Maßnahmen neue Relevanz. Statt des eigenen Todes bekomme der Mensch das technisch Mögliche, schreibt Jäger. Wissenschaftliche Expertokratien wollen das Schicksal austreiben und sich die Verfügungsgewalt über das Leben und Sterben der Menschen aneignen. In seinem klugen, anregenden Buch animiert Lorenz Jäger zur „Wieder-Aneignung der enteigneten Künste des Lebens und Sterbens“. Das Schöne bei der Lektüre ist: Es geht ums große Ganze, aber immer mit dem scharfen, feinsinnigen Blick aufs Detail.


