Verkannte Leistungsträgerinnen – Berichte aus der Klassengesellschaft – #601
Oct 10, 2021
auto_awesome
Oliver Nachtwey, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler und Autor des Buches "Verkannte Leistungsträgerinnen", diskutiert im Gespräch mit Barbara Tóth essentielle Themen rund um die Herausforderungen von Frauen in der Arbeiterklasse. Er beleuchtet das neue Klassenbewusstsein nach der Pandemie und die Sichtbarkeit systemrelevanter Berufe. Zudem thematisiert Nachtwey die Wohnungskrise, soziale Gerechtigkeit und die Verantwortung des Staates. Die Rolle von Gewerkschaften sowie die Probleme der Selbstvertretung im Niedriglohnsektor sind ebenfalls zentrale Punkte.
Das nach der Pandemie entstandene Klassenbewusstsein erkennt die essenzielle Rolle systemrelevanter Berufe in der Gesellschaft an.
Die Vision eines ökosozialen, investiven Staates kann die soziale Mobilität verbessern und faire Entlohnung für alle gewährleisten.
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Leistung hat sich verändert, wodurch systemerhaltende Berufe oft abgewertet und unsichtbar gemacht werden.
Um Gewerkschaften neu zu stärken, müssen die Stimmen von Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen gehört und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden.
Deep dives
Neues Klassenbewusstsein in der Post-Pandemie-Zeit
In der Zeit nach der Pandemie hat sich ein neues Klassenbewusstsein herausgebildet, das als der Systemerhalter bezeichnet wird. Oliver Nachtwey argumentiert, dass die Gesellschaft nun die Menschen sieht, die während der Krise systemrelevante Dienstleistungen erbracht haben, und erkennt deren wertvolle Rolle an. Früher wurden systemerhaltende Berufe oft als weniger bedeutend angesehen, was zur Unsichtbarkeit dieser Arbeit führte. Nun jedoch gibt es die Chance, diese Berufe als essenziell für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft zu begreifen und ihnen den nötigen Respekt entgegenzubringen.
Die Bedeutung des ökosozialen Staates
Nachtwey sieht die Möglichkeit der Entstehung eines ökosozialen, investiven Staates, der die sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit angehen kann. Ein solcher Staat kann den Wert von Arbeit neu definieren und sicherstellen, dass alle, die zur Gesellschaft beitragen, auch fair entlohnt werden. Damit einher geht die Konzeptualisierung des Staates als wichtigem Akteur, der in soziale Sicherheit und Infrastruktur investieren sollte. Diese Vision wirft die Frage auf, wie der Staat eine integrative Gesellschaft fördern kann und welche politischen Maßnahmen erforderlich sind, um dies zu erreichen.
Veränderung des Leistungsbegriffs
Der Leistungsbegriff hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, wodurch bestimmte Berufsgruppen an Bedeutung verloren haben. Nachtwey argumentiert, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von Leistung zunehmend an diejenigen geknüpft ist, die in wohlhabenden und angesehenen Berufen tätig sind, während die Arbeit von Menschen in der Pflege oder Reinigung oft ignoriert wird. Diese Verschiebung führt zu einer Abwertung von alltäglicher Arbeit, die für das Funktionieren der Gesellschaft unerlässlich ist. Um die Leistungsträger der Zukunft zu identifizieren, sollten wir die Konzepte von Leistung und Anerkennung hinterfragen.
Klassengesellschaft und Mobilität
Nachtwey erklärt, dass die moderne Klassengesellschaft immer sichtbarer wird, während die Diskussion über soziale Mobilität an Komplexität zunimmt. In der Vergangenheit gab es eine starke Aufwärtsmobilität, während die Chancen für Menschen im Niedriglohnsektor aufgrund von Fragmentierung und Prekarisierung abgenommen haben. Dies führt zu einer neuen Unterklasse, die oft migrantisch geprägt ist und in systemrelevanten Berufen arbeitet. Die soziale Mobilität hat sich in letzter Zeit stark verändert, sodass viele Menschen im Niedriglohnsektor gefangen sind und die Möglichkeit für den sozialen Aufstieg weiter sinkt.
Die Rolle der Pflege- und Dienstleistungsberufe
Die Diskussion über systemrelevante Berufe hat während der Pandemie an Bedeutung gewonnen. Nachtwey betont, dass Berufe wie Pflegekräfte, Erzieherinnen und Reinigungspersonal oft unzureichend anerkannt und entlohnt werden, obwohl sie für die Gesellschaft unverzichtbar sind. Diese Berufe müssen besser sichtbar gemacht und deren Wert neu eingestuft werden, um die notwendige Wertschätzung zu erhalten. Die Anerkennung der Herausforderungen und ihrer Wichtigkeit ist der erste Schritt hin zu entsprechenden Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen und der Vergütung.
Herausforderungen der Gewerkschaften
Nachtwey thematisiert die Herausforderungen, vor denen Gewerkschaften heute stehen, insbesondere in der organisierten Vertretung von Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen. Die bestehenden Gewerkschaften müssen innovative Wege finden, um mit den Sorgen der Arbeiterinnen und Arbeiter umzugehen und deren Selbstbewusstsein zu stärken. Ein zentraler Aspekt ist, die Menschen als aktive Akteure und nicht als passive Opfer zu betrachten, um ihren Kampfgeist zu mobilisieren. Es ist wichtig, die Stimme der Beschäftigten zu hören und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen.
Die Querdenker-Bewegung und soziale Kritik
Nachtwey beleuchtet auch die Querdenker-Bewegung als eine Form sozialer Kritik, die während der Pandemie hervorgetreten ist. In dieser Bewegung äußern viele Menschen ihre Bedenken und Sorgen über Einschränkungen ihrer Freiheiten und der gesellschaftlichen Ordnung. Die Forschung zeigt, dass diese Gruppe nicht nur aus politischen Extremisten besteht, sondern auch aus Menschen, die sich durch die Maßnahmen benachteiligt fühlen. Um mögliche Lösungen zu finden, ist es wichtig, einen Dialog zu führen und die zugrunde liegenden Sorgen ernst zu nehmen.
Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey im Talk mit Barbara Tóth beim Wiener Stadtgespräch. Oliver Nachtwey forscht im Bereich von Ökonomie, Sozialem und Politik. Für die Zeit nach der Pandemie diagnostiziert Nachtwey ein neues Klassenbewusstsein der Systemerhalter und er sieht die Chancen auf einen ökosozialen, investiven Staat. Einleitende Worte spricht Raimund Löw.
Lesen Sie den FALTER vier Wochen lang kostenlos: https://abo.falter.at/gratis