Rebellische Demokratie oder autoritäre Wende? - #839
Nov 27, 2022
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Oliver Nachtwey, Soziologe und Buchautor, teilt seine Erkenntnisse zur Radikalisierung während der Corona-Proteste und die Rolle des libertären Autoritarismus. Gemeinsam mit Journalist Robert Misik diskutiert er, wie neoliberale Ideen die Freiheit und soziale Normen beeinflussen. Sie analysieren auch die Wurzeln von Verschwörungsdenken und die Herausforderung autoritärer Charaktere in der Gesellschaft. Zudem werden innovative ökonomische Vorschläge zur Bewältigung der ökologischen Krise erörtert.
Oliver Nachtwey thematisiert die Radikalisierung des libertären Autoritarismus, der individuelle Freiheit über soziale Bedingungen stellt, was zu einer Abwertung anderer Perspektiven führt.
Die Idee einer 'rebellischen Demokratie' wird als Möglichkeit diskutiert, um gesellschaftliche Entfremdung zu überwinden und mehr Teilhabe an politischen Entscheidungen zu ermöglichen.
Deep dives
Rebellischer Autoritarismus und die gesellschaftlichen Normen
Die Untersuchung von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger thematisiert einen neuen Typ des Autoritarismus, der in der Form eines rebellischen Verhaltens auftritt, das sich gegen gesellschaftliche Normen wie Gendersprache und Maskentragen richtet. Dieser sogenannte libertäre Autoritarismus stellt die individuelle Freiheit über die sozialen Bedingungen, die diese Freiheit ermöglichen, und wird oft von einem starken Individualismus begleitet. Die Forschung zeigt, dass viele Anhänger dieser Bewegung in binären Machtkategorien denken und eine Abneigung gegenüber vermeintlichen Gegnern zeigen, was auf eine gewisse Abwertung von anderen Perspektiven hinweist. Zudem wird ein Zusammenhang zwischen Anti-Autoritarismus und einem Verschwörungsdenken festgestellt, das in diesen Bewegungen weit verbreitet ist und oft mit einem Gefühl der Bedrohung von Autorität einhergeht.
Die Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft
Im Gespräch wird hervorgehoben, wie sich das Individuum in der modernen Gesellschaft entwickelt hat und wie bedeutend es für die Freiheit war, vor allem in sozialistischen Bewegungen, die stets auf dem Prinzip der Selbstbestimmung basierten. Die Autor:innen argumentieren, dass die heutige Auffassung von Freiheit oft eine Form von 'verdinglichter' Freiheit ist, bei der die gesellschaftlichen Voraussetzungen für individuelles Handeln ignoriert werden. In dieser Perspektive wird Freiheit nicht mehr als das Resultat kollektiver Kämpfe gesehen, sondern eher als individuelles Besitzrecht betrachtet, das verteidigt werden muss. Diese Abkopplung von gesellschaftlichen Bedingungen führt dazu, dass neue Normen oder Regeln als persönliche Angriffe wahrgenommen werden.
Die Verbindungen zwischen Kritik und Verschwörungstheorie
Die Diskussion thematisiert, dass das Verschwörungsdenken nicht zwingend erst zu einer autoritären Haltung führt, sondern oft aus einer existenziellen Krise in der Konfrontation mit Regierungsentscheidungen entstehen kann. Die Protagonisten in diesen Bewegungen sehen sich selbst als kritische Beobachter einer als willkürlich empfundenen Politik, was zu einem starken Misstrauen gegenüber Experten führt. Während die gesellschaftlichen Umstände betrachtet werden, muss auch die Rolle von sozialen Problemen in der Corona-Pandemie hervorgehoben werden, die viele Menschen direkt in ihrer finanziellen und sozialen Existenz getroffen hat. Diese Unsicherheiten steigern das Suchen nach alternativen Erklärungen und Nachvollziehbarkeit und manifestieren sich in einer Suche nach vermeintlicher Wahrheit im Internet.
Die Notwendigkeit einer rebellischen Demokratie
Abschließend wird die Idee einer 'rebellischen Demokratie' vorgestellt, die als Antwort auf die Entfremdung der Menschen von traditionellen demokratischen Strukturen dient. Nachtwey schlägt vor, dass eine solche Demokratie Alternativen beleuchten und gestalten sollte, um gesellschaftliche Sachzwänge herauszufordern, die oft als unangreifbar gelten. Diese demokratische Rebellion könnte dabei helfen, die Interessen der Massen gegenüber autoritärer Politik zu stärken und mehr Teilhabe zu ermöglichen. Um solch eine rebellische Demokratie zu realisieren, ist es notwendig, dass soziale Bewegungen neue Anstöße geben, die politische Mitbestimmung und echte Alternativen zu den herrschenden Sachzwängen fördern.
Buchautor Oliver Nachtwey seziert die Radikalisierung rund um die Corona-Proteste und sucht nach Auswegen aus der großen Verunsicherung. Ein Gespräch mit Robert Misik im Bruno Kreisky Forum.