Rechtswissenschaft - Wie der Begriff "Rechtsstaat" instrumentalisiert wird
Nov 29, 2024
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Maximilian Pichl, Rechts- und Sozialwissenschaftler sowie Professor für Soziales Recht an der Hochschule Rhein-Main, erklärt, wie der Begriff 'Rechtsstaat' in der politischen Debatte umdefiniert wird. Er thematisiert die Auswirkungen sicherheitspolitischer Maßnahmen auf Grundrechte und die Instrumentalisierung durch extrem rechte Strömungen. Pichl beleuchtet die Komplexität des Begriffs und fordert einen kritischen Umgang mit der politischen Rhetorik, um die Errungenschaften des sozialen Rechtsstaats zu bewahren.
Der Begriff des Rechtsstaats wird zunehmend für autoritäre Maßnahmen instrumentalisiert, was die ursprünglichen Werte der Rechtsstaatlichkeit untergräbt.
Die Vertrauenskrise in den Rechtsstaat beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung und fördert eine Politik der verstärkten Kontrolle und schnelleren Abschiebungen.
Maximilian Pichl fordert eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung sozialer Gerechtigkeit in der aktuellen politischen Debatte.
Deep dives
Die Idee des Rechtsstaates
Der Rechtsstaat wird als ein System beschrieben, das die Grundrechte der Bürger schützt und staatliche Macht begrenzt. Historisch entstand der Rechtsstaat als ein Gegenpol zu autoritären Polizeistaaten, mit dem Ziel, die Freiheit des Individuums vor willkürlicher Bevormundung zu schützen. In der aktuellen politischen Debatte hat sich dieser Begriff jedoch stark verschoben und wird zunehmend im Kontext repressiver Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung und Kontrolle von Flüchtlingen verwendet. Dies zeigt sich an der steigenden Rhetorik, die fordert, der Rechtsstaat müsse 'härter durchgreifen', was zu einer Erosion der ursprünglichen Ideen von Rechtsstaatlichkeit führt.
Vertrauenskrise des Rechtsstaats
Die öffentliche Wahrnehmung des Rechtsstaats erfährt eine Krise, die sich nicht auf die grundrechtliche Absicherung konzentriert, sondern vielmehr auf das Vertrauen der Bürger in die Effizienz des Staates hinsichtlich der Flüchtlingspolitik. Politische Akteure nutzen diese Vertrauenskrise, um ihre Agenda voranzutreiben, die oft einen Fokus auf schnellere Abschiebungen und ein strengeres Gewaltmonopol beinhaltet. Christian Lindner beschreibt diese Vertrauenskrise als eine Verschiebung weg von den ursprünglichen Prinzipien des Rechtsstaats hin zu einem System der reinen Kontrolle. Diese Entwicklung hat konkrete Auswirkungen auf die Sensibilität in der Justiz und das rechtliche Vorgehen, insbesondere gegenüber vulnerablen Gruppen.
Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs
Maximilian Pichel argumentiert, dass der Begriff des Rechtsstaats aktuell umgedeutet wird, vor allem in der politischen Mitte, wo Law-and-Order-Politik an Bedeutung gewinnt. Politiker verwenden den Rechtsstaatsbegriff, um populistische Maßnahmen zu legitimieren, die häufig im Widerspruch zu den eigentlichen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit stehen. Dies führt zur Entstehung von Diskursen, die Sicherheit über individuelle Rechte stellen und somit die vielschichtigen Dimensionen der Rechtsstaatlichkeit ignorieren. Diese Verschiebung ist nicht nur rhetorisch, sondern hat auch weitreichende gesellschaftliche und politische Konsequenzen, die den Umgang mit Asylsuchenden und Kriminalität betreffen.
Historische Kämpfe um den Rechtsstaat
Die Entwicklung des Rechtsstaats ist über die Jahrhunderte von Kämpfen und Diskussionen geprägt, die seine Definition und Anwendung betreffen. In der Weimarer Republik beispielsweise wurde der Rechtsstaatsbegriff von verschiedenen politischen Strömungen, einschließlich konservativer und sozialistischer Parteien, umstritten betrachtet und instrumentalisierte. Die Aufarbeitung dieser historischen Kämpfe zeigt, dass der Rechtsstaat immer auch ein Kampfbegriff war, der verschiedenen Interessen diente, einschließlich des Schutzes von Eigentum und sozialen Rechten. Pichel hebt hervor, dass die aktuellen Debatten um den Rechtsstaat in diesem historischen Rahmen betrachtet werden müssen, um die gegenwärtigen Herausforderungen besser zu verstehen.
Gegenstrategien zur Verteidigung des Rechtsstaats
Pichel schlägt mehrere Strategien vor, um den ursprünglichen Geist des Rechtsstaats zu verteidigen und zurück zu gewinnen. Dazu zählt die Sichtbarmachung und Kritik der gegenwärtigen Umdeutungen und die aktive Teilnahme an Rechtskämpfen, um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit wieder stärkeren Einfluss zu verleihen. Eine weitere Strategie umfasst die Entwicklung eines progressiven Rechtsstaatsprojekts, das sich dem Schutz der Rechte aller Bürger, einschließlich Minderheiten, verpflichtet. Pichel betont, dass der Rechtsstaat nicht statisch ist und eine fortwährende Auseinandersetzung und Anpassung erfordert, um den sozialen und politischen Veränderungen angemessen Rechnung zu tragen.
Ein Vortrag des Rechtswissenschaftlers Maximilian Pichl Moderation: Nina Bust-Bartels
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Unser Rechtsstaat dient der Begrenzung staatlicher Macht. Der Begriff wird jedoch aktuell im Sinne eines starken Staates, der hart durchgreift umgedeutet. Ein Vortrag des Rechtswissenschaftlers Maximilian Pichl über die Folgen dieser Umdeutung.
Maximilian Pichl ist Rechts- und Sozialwissenschaftler und Professor für Soziales Recht an der Hochschule Rhein-Main. Sein Buch "Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat" ist 2024 bei Suhrkamp erschienen. Seinen gleichnamigen Vortrag hat er am 29. Oktober 2024 an der Uni Kassel gehalten. Veranstaltet wurde der Vortrag von der Professur für Politische Theorie. Der Beitrag spiegelt die Ansichten des Vortragenden wider.