SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Apr 7, 2024 • 1h 12min

SWR Bestenliste April mit Büchern von Anne Weber, Valerie Fritsch u.a.

Viel Lob und Kritik im Detail: Martina Läubli, Beate Tröger, und Gerrit Bartels diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im April verzeichneten Werke im gut besuchten Friedrichshafener „Kiesel“. Auf dem Programm standen mit „James“ von Percival Everett eine gewagte Überschreibung von Mark Twains Abenteuergeschichten rund um Huckleberry Finn, mit „Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde ein symboldichter und zugleich drastischer Roman über Femizide, mit „Zitronen“ von Valerie Fritsch die kaltschöne Abrechnung eines jungen Mannes, der von der eigenen Mutter misshandelt wurde, sowie mit „Bannmeilen“ von Anne Weber ein „Roman in Streifzügen“ über die ruppigen Verhältnisse in den Pariser Banlieues, in denen die französische Kolonialgeschichte immer präsent ist. Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Sebastian Mirow. Moderation: Carsten Otte.
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Apr 4, 2024 • 5min

Franziska Setare Koohestani – Hairy Queen. Warum Körperbehaarung politisch ist

Manche Haare finden wir schön, andere sind unerwünscht. Doch woher stammen diese Behaarungsnormen und wie wirken sie sich auf unser Leben aus, fragt Franziska Setare Koohestani in ihrem Buch „Hairy Queen – Warum Köperbehaarung politisch ist“. Sie nimmt ihre persönlichen Erfahrungen als „Hairy Queen“ zum Anlass, das Thema Körperbehaarung aus feministischer und kapitalismuskritischer Perspektive zu beleuchten.
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Apr 3, 2024 • 5min

Jamaica Kincaid – Talk Stories. Kolumnen aus dem New Yorker

Die heute weltweit bekannte Schriftstellerin Jamaica Kincaid begann ihre Karriere in den 1970er Jahren als Kolumnistin des Magazins „The New Yorker". Ihre frühen journalistischen Texte, durch die sie sich schon deutlich als begabte Erzählerin zu erkennen gibt, versammelt nun der Band „Talk Stories“.
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Apr 2, 2024 • 5min

Frances Stonor Saunders – Der Koffer. Sechs Versuche, eine Grenze zu überqueren

Die spannende Odyssee einer rumänischen Familie, die im Zweiten Weltkrieg über Umwege nach England gelangte. Ein Land, das erst für die Enkel zur Heimat wurde.
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Apr 1, 2024 • 27min

Anja Utlers Gedichtband über den russischen Angriffskrieg – „Litanei von größter Intensität“

Putins Angriffskrieg war für die Slawistin und Lyrikerin Anja Utler ein Schock. In ihrem Gedichtband „Es beginnt“ reagiert sie darauf. Sie erhält dafür den Peter-Huchel-Preis 2024.
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Mar 31, 2024 • 6min

Lucía Lijtmaer – Die Häutungen

Zwei Frauen fliehen vor dem Schmerz und suchen Heilung. Vier Jahrhunderte trennen die beiden. Lucía Lijtmaer erzählt in ihrem Roman Die Häutungen zwei Parallelgeschichten. Nur auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun. In sich abwechselnden Kapiteln lernen wir die zwei Protagonistinnen kennen. Zunächst eine namenlose Ich-Erzählerin aus Barcelona, die von ihrem Partner, einem ziemlichen Macho, verlassen worden ist. Gleich im ersten Satz erfahren wir von den Selbstmord-Gedanken der Frau Ende dreißig. Und wenn sie nicht daran denkt, sich umzubringen, phantasiert sie vom Untergang ihrer Stadt: Depressiv, wie ein Zombie bewegt sich die verlassene Frau durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Überall lauern Erinnerungen: An unbeschwerte Momente mit Freundinnen, an glückliche Liebesaffären, aber auch an die toxische Beziehung, in der sie sich nach und nach selbst verlor. Die Frau dröhnt sich mit Pillen zu, weil sei nicht schlafen kann, geht nicht zur Arbeit und hält es schließlich nicht mehr aus in Barcelona, sie taucht in der ihr fremden Metropole Madrid unter. Eine Landbesitzerin im puritanischen Salem Vier Jahrhunderte zuvor, im 17. Jahrhundert, ist auch die Engländerin Deborah Moody auf der Flucht: Unter anderem vor den Schulden, die ihr gerade verstorbener Mann angehäuft hat. Die tiefgläubige Frau besteigt mit ihrem Sohn ein Schiff und reist in die neue Welt, lässt sich in Salem nieder, im heutigen US-Bundestaat Massachusetts. Deborah Moody hat es wirklich gegeben, sie ist bekannt als erste Landbesitzerin in den britischen Kolonien und als erste Frau, die dort eine Siedlung gründete. Eine für ihre Zeit emanzipierte, unabhängige Frau, die auf subtile, geschickte Weise gegen die mächtigen Pastoren rebelliert, die die puritanische Gemeinschaft kontrollieren. Salem war für mich wie ein leeres Blatt, das ich beschreiben musste, eine weiße Leinwand, auf die ich meine eigene Zukunft zeichnen konnte, wenn auch nicht nach Belieben, da ich eine Reihe von Vorgaben befolgen musste. Die Sünde lauere allenthalten, sagten sie. Und doch hatten uns die Gründerväter einen dünnen Faden gegeben, an dem wir ziehen konnten. (…) Uns Frauen überließen sie den häuslichen Bereich und die Aufgabe, einander Moral und Glauben zu predigen. Und entsprach das nicht unserer Vorstellung vom Paradies? Quelle: Lucía Lijtmaer – Die Häutungen Romanautorin Lucía Lijtmaer fiktionalisiert Deborahs Geschichte. Sie erzählt von ihrer unglücklichen Ehe – damals, in der Alten Welt – und davon, wie in der Männer-dominierten englischen Kolonie so etwas wie Sisterhood entsteht: Frauen, die sich im Verborgenen treffen und solidarische Netze spannen, sich unterstützen, sich Mut und Trost zusprechen. Am Ende flieht Deborah dann noch einmal: Vor religiöser Intoleranz und der Unterdrückung des Patriarchats. Roman über weibliche Selbstbehauptung und Rache Lucía Lijtmaer hat einen Roman über weibliche Selbstbehauptung und Rache geschrieben. Das verbindet die beiden parallel erzählten Geschichten über Raum und Zeit hinweg. Deborah Moody führt den Männern durch die Gründung ihres eigenen Dorfes vor, dass sie als Frau ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen kann. Lijtmaers andere Romanheldin, die Frau aus Barcelona, überwindet ihren Trennungsschmerz, als sie sich mit einem bösen, aber genialen Streich an ihrem Ex-Partner rächt. Nicht weniger als dessen Karriere als aufstrebender Jungpolitiker könnte dadurch ins Wanken geraten.  Beide Handlungsstränge sind nicht miteinander verknüpft, sie treffen sich erst am Ende, aber lesen sich jeder für sich höchst interessant und unterhaltsam. Es ist originell und glänzend gelungen, wie sich die Autorin in Deborah und ihr Leben in der puritanischen Gemeinschaft hineinfühlt und denkt. Deborah erzählt ihre Geschichte übrigens ihrem Gott, mit einer immer selbstbewussteren Stimme. Die verlassene Frau dagegen wendet sich an ihren Ex. Kurioserweise ist sie, die sich dem Mann in der Beziehung immer mehr untergeordnet hat und ohne ihn in eine tiefe Krise stürzt, längst nicht so mutig und unabhängig wie Deborah. Und die Protagonistin aus dem Hier und Jetzt ist zudem ganz allein, ohne weibliche solidarische Netze. Aufschlussreicher und bissiger Blick auf Barcelona Indem sie die Figur aus dem 17. Jahrhundert als emanzipierter beschreibt als die Frau aus der Gegenwart, kritisiert Lucía Lijtmaer auf subtil-elegante Weise, dass es mit weiblicher Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und auch Sisterhood heutzutage oft noch nicht so weit her ist. Sprachlich mitreißend, oft ironisch und bissig, wirft der Roman Die Häutungen auch einen aufschlussreichen Blick auf Lijtmaers Heimatstadt Barcelona, auf urbane Arm-Reich-Kontraste, den Touristen-Overkill, Gentrifizierung und scheinheilige progressive Politiker. Ein kluger und im besten Sinne feministischer Roman und nicht umsonst ein großer literarischer Erfolg in Spanien.
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Mar 31, 2024 • 7min

François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo

Aus dem dunklen Ozean steigt dieses Wesen auf, aus der Tiefe eines Meeresgrabens. Acht meterlange Tentakeln und davor ein riesiges leuchtendes Auge. Doch dieses Auge ist kein Auge, nur ein Bullauge. Und der vordere Teil des Wesens mit dem Bullauge ist auch kein riesiger Krakenkopf, sondern ein stählerner U-Boot-Rumpf. Dieser seltsame Oktopus ist wie ein neues Unterwasserboot, eine zweite Nautilus… Ein Nautipus, genau! Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Als ob ein riesiger Oktopus die Nautilus, das legendäre Boot des Kapitän Nemo halb verschluckt hätte, so sieht es aus. Aber statt des ewigen Kampfes der Technik gegen die Natur, haben sich Technikmonster und Meeresungeheuer hier miteinander verbunden, sind eins geworden, eine lebende, denkende Maschine. Die wundersame Reise des Nautipus – halb Oktopus, halb Nautilus Mit ganzseitigen Zeichnungen erzählen Schuiten und Peeters von der Reise des Nautipus, durch Friedhöfe riesiger gesunkener Schlachtschiffe am Meeresgrund, aber auch an Land, durch Landschaften und Städte, die fremd und vertraut zugleich erscheinen: Parallelwelten aus den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts. Wo sind wir jetzt? Wir haben den Ozean schon vor Tagen verlassen. Der Nautipus kommt lange Zeit ohne Wasser aus, und er bahnt sich seinen Weg durch vielfältige, sogar feindliche Umwelten. Der Nautipus scheint genau zu wissen, wohin er will. Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Ganzseitig illustriert mit feinem Strich, der die atmosphärischen Radierungen aus den alten Jules Verne-Bänden zum Vorbild hat, findet die Reise des Nautipus jeweils rechts auf jeder Doppelseite statt. Und links sehen wir den, der diese Reise erlebt und erzählt, eingeschlossen in den Nautipus. Kapitän, ich war Kapitän… ich bin Kapitän Nemo… Die Nautilus… versunken… Der Vulkan… Die Lincoln-Insel… zerstört… vernichtet… Wie durch ein Wunder bin ich dem Tod entronnen. Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Kapitän Nemo verwandelt sich in Jules Verne Der Malstrom in „20.000 Meilen unter dem Meer“, der Vulkanausbruch in „Die geheimnisvolle Insel“ – Kapitän Nemo hat sie doch überlebt. Und während der Nautipus ihn durch die fremd-vertrauten Welten von Schuiten und Peeters trägt, erzählt Kapitän Nemo uns noch einmal seine Geschichte. Von seiner indischen Herkunft, der Revolte gegen die britische Kolonialmacht, der Ermordung seiner Familie. Mein Vaterland war unterjocht, mein Volk versklavt. Mein Leben auf der Erde hatte keinen Sinn mehr. Ich entschied mich für die Tiefen des Meeres, wohin mir niemand folgen konnte. Damals wurde ich zu Nemo… Kapitän Nemo… Mein zweites Leben begann. Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Während Kapitän Nemo in den Parallelwelten seiner Erinnerungen versinkt, uns seine Abenteuer nacherzählt, nähert sich der Nautipus beharrlich seinem Ziel. "Ich spürte, auch ich war am richtigen Ort angekommen. Der Nautipus hielt auf eine riesige Halle zu, als wäre seine Reise zu Ende. Als hätte er seinen Platz gefunden. Nur mit allergrößter Mühe konnte ich den Nautipus verlassen. Aber ich verspürte die Dringlichkeit. Sobald ich an Land war, erstarrte der Nautipus, als wäre er versteinert." Der Nautipus wird zur Statue und Kapitän Nemo ist angekommen, in Amiens, dem Wohnort von Jules Verne nördlich von Paris. In seiner Tasche findet er den Schlüssel zum Haus des Schriftstellers und die Heimkehr vollendet sich. Nichts schien verändert. Ich wusste, weshalb ich zurückgekommen war. Die Möbel, die Gemälde, alles war mir vertraut. Kein Zweifel, hier war ich zu Haus. Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Vor dem Porträt von Jules Verne verharrt Nemo. Er hat ganz die Gestalt des Schriftstellers angenommen, setzt sich an den Schreibtisch und bringt dann die ersten Sätze des Romans aufs Papier, der Jules Verne berühmt gemacht hat: „20.000 Meilen unter dem Meer“. Keine bloße Hommage, sondern ein Traum von der Moderne Für das Jules Verne-Haus in Amiens hat François Schuiten ein Wandgemälde geschaffen. Der Nautipus ist der Entwurf für eine Statue am Wohnort des Dichters. Ist also auch dieser Comic nicht mehr als ein nostalgischer Blick zurück, eine ehrfürchtige Hommage an den Vater der modernen Science-Fiction? Nein, diese Comic-Geschichte von Kapitän Nemo, der zu Jules Verne wird wie das U-Boot Nautilus zum Hybrid-Wesen Nautipus, ist ein Comic-Essay, der klug die dunklen Seiten der Moderne auslotet. Denn neben dem Jules Verne mit einem ungebrochenen Zukunfts-Optimismus, gibt es den, der nicht nur U-Boot und Mondreise, sondern auch die Atom-Bombe vorausgesehen hat. Der fortschrittsoptimistische Verleger von Jules Verne mochte den düsteren, manisch-depressiven Kapitän Nemo nicht. Doch Jules Verne hielt an seiner komplexesten Figur fest. An diesen Jules Verne erinnern Schuiten und Peeters. Die Abenteuerreise, auf der Jules Verne und Kapitän Nemo eins werden, bleibt also nicht eine postmoderne Spielerei, sondern wird zum kritischen Spiel mit verschiedenen Ebenen. Denn die Kunst-Figur Nemo-Jules Verne spiegelt besonders auch unsere Zeit. Nemos Technologiegläubigkeit ist so voller Allmachtsfantasien wie die von Elon Musk. Und das Hybrid-Wesen Nautipus erinnert als Krake mit künstlicher Intelligenz an die künstliche Intelligenz, der wir Menschen immer mehr unsere natürliche Intelligenz ausliefern. Schuiten und Peeters sind kritisch mit der technisch-kalten Moderne, aber sie bewahren sich einen modernen Traum: Der von der Menschheit verstoßene Kapitän Nemo kann doch nach Hause zurückkehren, zu einem Leben mit einer Lebensgeschichte. Und der unbeirrbare Weg des Roboter-Kraken Nautipus birgt den Funken utopische Hoffnung, dass die Technik friedlich von der Natur lernt, ohne die Natur dabei zu zerstören. Gewiss, manche Menschen laufen bei seinem Anblick davon. Andere wiederum heißen ihn wie ein legendäres Wesen willkommen. Der Nautipus kann zwar bedrohlich wirken, aber ich habe nie erlebt, dass er jemanden angreift, der sich friedlich nähert. Quelle: François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo
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Mar 31, 2024 • 54min

SWR2 lesenswert Magazin u. a. mit neuem Buch von Pedro Almodóvar

Auf TikTok erreicht die Satirikerin Irina alias Toxische Pommes Hundertausende: Mit ihren pointierten Videos parodiert sie die österreichische Gesellschaft. Unter ihrem Künstlernamen tritt sie jetzt auch als Buchautorin auf: „Ein schönes Ausländerkind“ heißt ihr Debütroman. Darin erzählt sie die Geschichte einer Familie, die vor dem Jugoslawienkrieg nach Österreich flieht. Eine Familie, die ihrer eigenen wahrscheinlich sehr ähnlich ist. Fast schon filmreif ist die Entstehungsgeschichte von Pedro Almodóvars erstem Buch: Die zwölf Erzählungen hatte seine Assistentin Lola Garcia über etliche Umzüge hinweggerettet und archiviert. Sie war es auch, die den Anstoß für die Veröffentlichung gab. Das Ergebnis: Eine kryptische Autobiografie mit Figuren, wie wir sie aus Almodóvars Filmwelten kennen. Issa ging es schon mal besser: Sie muss sich ständig übergeben und ist mitten in einem großen Familienstreit: Denn Issa ist schwanger. Ihr Freund will das Kind unbedingt, ihre Mutter aber möchte, dass sie abtreibt. Um Abstand zu gewinnen, reist Issa zu ihren Großmüttern nach Kamerun. Dort erwarten sie einige Rituale, die sie als Schwangere durchlaufen soll. „Issa“ ist der erste Roman der Theatermacherin und Aktivistin Mirrianne Mahn. Zwei Frauen, die eine in Barcelona, die andere in Salem in Nordamerika. Vierhundert Jahre trennen die beiden. Ihr Schicksal könnte nicht unterschiedlicher sein, aber gemeinsam ist ihnen ihre Flucht, ihre Rebellion, ihr Kampf um Selbstbehauptung. Davon erzählt, mitreißend und ironisch, Lucía Lijtmaer in ihrem Roman „Die Häutungen“. Und wir tauchen ab in die Welt von Kapitän Nemo, mit dem Comic „Die Heimkehr des Käpitan Nemo“. Darin schicken der Zeichner François Schuiten und der Comicautor Benoît Peeters Jules Vernes totgeglaubten Kapitän Nemo auf eine neue Abenteuerreise. An Bord eines neuen U-Boots, das halb Maschine, halb lebendige Riesenkrake ist. Toxische Pommes – Ein schönes Ausländerkind Zsolnay Verlag, 208 Seiten, 23 Euro ISBN 978-3-552-07396-8 Lesung und Gespräch mit Toxische Pommes Pedro Almodóvar – Der letzte Traum. Zwölf Erzählungen Aus dem Spanischen von Angelica Ammar S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-10-397569-7 Rezension von Juliane Bergmann Mirrianne Mahn – Issa Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-498-00390-6 Gespräch mit Mirianne Mahn Lucía Lijtmaer – Die Häutungen Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt Suhrkamp Verlag, 219 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-518-43143-6 Rezension von Victoria Eglau François Schuiten und Benoît Peeters – Die Heimkehr des Kapitän Nemo Schreiber und Leser Verlag, 96 Seiten, 26,80 Euro ISBN 978-3-96582-141-5 Rezension von Max Bauer Musik: Mine – Baum Label: Virgin Music LAS
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Mar 31, 2024 • 4min

Pedro Almodóvar – Der letzte Traum. Zwölf Erzählungen

Die typische Almodóvar-Handschrift Eine Frau, Mitte 20, skandalös aufgebrezelt, platzt ins Büro beim Direktor einer spanischen Ordens-Schule. Sie berichtet vom Tod ihres Bruders Luis, dem ehemaligen Lieblingsschüler des Direktors, und sie konfrontiert den Schulleiter mit Luis’ Memoiren: Seit der Kindheit wurde er in diesem Haus sexuell missbraucht – unter Stillschweigen der Erwachsenen. „Ich fühlte mich in seinen Händen wie eine Lumpenpuppe … " liest sie dem Direktor vor. Der schnaubt. Sein Vertuschen ist aufgeflogen. Die Begegnung nimmt ein dramatisches Ende – mit überraschendem Wendepunkt. Die Erzählung „Der Besuch“ hat die typische Almodóvar-Handschrift: dunkle Geheimnisse, jahrzehntealte Verletzungen, Kritik an der Kirche und sexuelle Freizügigkeit als Selbstermächtigung. »Sie sehen aus wie eine Prostituierte.«»Guter Riecher …« Quelle: Pedro Almodóvar Stolz ist die Schwester auf die Empörung, die ihr Äußeres auslöst. Aus diesem Text macht Almodóvar 2004 den Film „Schlechte Erziehung“. Ein Wiedersehen mit Figuren aus Almodóvars Schaffen Fast filmreif ist schon die Entstehungsgeschichte des Buchs. Die zwölf Erzählungen von Pedro Almodóvar hatte seine Assistentin Lola García aus dem Chaos des Filmemachers über etliche Umzüge hinweggerettet und archiviert. Einige davon 50 Jahre lang. Die Assistentin gab den Anstoß für die Veröffentlichung. Eine „kryptische Autobiographie“ ist entstanden, sagt Almodóvar selbst im Vorwort. Die Sammlung zeigt die enge Verbindung zwischen dem, was ich schreibe, was ich filme und was ich lebe. Quelle: Pedro Almodóvar Es sind mal mehr, mal weniger offensichtliche Wiedersehen mit Figuren, Konflikten und Fragen aus Almodóvars Schaffen. So erfindet er zum Beispiel in einer dieser Erzählungen 1979 die Porno-Darstellerin Patty Diphusa, die er später zur Heldin einer Kolumne macht – und die er eine zeitlang als sein Alter Ego empfindet. Er schreibt über toxische Beziehungen am Filmset, über einen lichtscheuen Grafen aus Transsilvanien und er wagt das Experiment, das Leben seiner Figur Miguel rückwärts zu erzählen. Wenige Tage später steht seine Mutter aus dem Bett auf, ihr Bauch ist aufgebläht, weil Miguel sich darin befindet. Während der nächsten neun Monate wird Miguel nach und nach in ihr erlöschen. Quelle: Pedro Almodóvar Filmische Erzählungen Auch wenn man einigen Geschichten das Suchen anmerkt und sie noch ein bisschen Feinschliff vertragen hätten – Almodóvar hat sie bewusst unverändert gelassen – so sind sie doch vor allem aufregend und berührend melancholisch. Entschlossen wechselt Almodóvar immer wieder den Fokus und hebt vermeintliche Randgeschehen, Nebenfiguren oder Hintergrundmusik plötzlich hervor. Da spüren wir den Filmemacher. Die Dialoge sitzen, das Setting auch. Etwa wenn zwei frustrierte Freundinnen beim Musikhören erkennen, dass unweigerlich ein Abschied bevorsteht… Almodóvar lässt in dieser Geschichte Chavela Vargas singen. Er liebte die markante Stimme der Mexikanerin, machte sie in den 1990ern zur Interpretin seiner Soundtracks. In einem der vier autobiografischen Texte beschreibt er die Sängerin mit Worten, die auch viel über ihn selbst sagen – mit almodóvarschem Pathos übersetzt von Angelica Ammar: Chavela Vargas hat aus Verlassenheit und Trostlosigkeit eine Kathedrale errichtet, in der wir alle Raum fanden und die man versöhnt mit den eigenen Fehlern verließ, bereit, sie weiter zu begehen, alles noch einmal zu versuchen. Quelle: Pedro Almodóvar Ein fein-komponiertes Buch mit zwölf Erzählungen Überraschend gut weben sich die autobiografischen Texte in diese Reihe ein. Wir erleben Almodóvar also nicht nur als Erfinder pointierter, melodramatischer Geschichten, sondern auch als scheiternden Romanautor, als vereinsamten Misanthropen und – im stärksten, titelgebenden Text „Der letzte Traum“ – als Sohn, der um die verstorbene Mutter trauert. Sie hat ihr Geld als Briefevorleserin verdient und dabei stets eigene Passagen hinzugedichtet. Jede Wirklichkeit braucht Fiktion – das hat seine Mutter ihm mitgegeben: Für einen Erzähler ist es eine zentrale Lektion. Mit der Zeit habe ich sie begriffen. Quelle: Pedro Almodóvar Ein fein-komponiertes Buch, das Selbstporträt und Sammlung von Erzählungen gleichzeitig ist. Und ein bisschen auch: Lebensfazit des Geschichtensuchers Pedro Almodóvar.
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Mar 31, 2024 • 14min

Mirrianne Mahn – Issa

Geteilte Erfahrungen Im Gespräch mit SWR2 sagt Mirrianne Mahn, sie teile neben dem Geburtsland Kamerun auch einige Erfahrungen mit ihrer Hauptfigur: „Wir teilen ein Stück weit eine Lebensrealität. Und die ist es: Zu schwarz für Deutschland und zu weiß für Afrika zu sein.“ Als Issa in Kamerun ankommt, sei ihr zwar ganz viel vertraut wie etwa das Essen, die Gerüche, die Menschen. Das alles fühle sich für sie nach zuhause an. Gleichzeitig sei sie aber auch eine Fremde: „Sie darf in der Öffentlichkeit, zum Beispiel auf dem Markt, nicht reden, weil sie sonst direkt übers Ohr gehauen wird. Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die viele in der Diaspora kennen“, sagt Mahn. Rituale für eine gute Schwangerschaft Issas Mutter möchte, dass ihre Tochter einige Zeremonien und Rituale in Kamerun vollzieht, damit sie eine gute Schwangerschaft hat und ein gesundes Kind zur Welt bringt. Issa ist anfangs skeptisch und weiß nicht, worauf sie sich damit einlässt. Schnell muss sie aber ihre Vorstellung von diesen Zeremonien und auch vom Schamanen ablegen. Denn dieser entpuppt sich als attraktiver, sportlicher Mann in modernen Turnschuhen. Mirrianne Mahn erzählt, dass sie bei der Arbeit an ihrem Roman interessiert habe, welche Spiritualität es in Kamerun vor der Kolonialzeit gegeben hat. Und welche Traditionen nach der Kolonialzeit erhalten geblieben und an unsere moderne Welt angepasst worden sind: „Issas Hauptmotivation liegt darin, ihre Mutter und ihre Oma zu verstehen. Ich wollte mit meinem Buch ein Stück weit die Antwort auf die Frage geben ‚Wo kommst du her?‘“ Frauen, die nicht vergessen werden Als Theatermacherin war für Mirrianne Mahn von Anfang an klar, dass sie kein Sachbuch, sondern einen Roman schreiben möchte. Es gäbe genug Sachbücher zu den Themen Rassismus, Diskriminierung und die deutsche Kolonialzeit. Mahn verstehe sich als Geschichtenerzählerin: „Ich wollte eine Geschichte von einzelnen Frauen erzählen und ihnen so gerecht werden, damit sie nicht vergessen werden. So verstehe ich meinen Aktivismus. Nämlich die Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern mit ihr umzugehen“, so Mirrianne Mahn.

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