

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Aug 11, 2024 • 5min
Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung
„Die große Versuchung“ heißt Mario Vargas Llosas jüngster Roman – und sein letzter, wenn man der Schlussbemerkung im Buch Glauben schenken darf. Er handelt von dem abgehalfterten Musikkritiker Toño Azpilcueta, der sich in den Kopf gesetzt hat, der kreolischen Musik endlich den ihr gebührenden Rang zukommen zu lassen.
Kreolische Musik wird auch „peruanischer Walzer“ genannt, es ist eine Variante des europäischen Walzers im ¾ Takt - für Toño Azpilcueta eine identitätsstiftende, zwischen Arm und Reich vermittelnde Kunst.
Die tiefsten Schichten dessen, was Peru als Nation ausmachte, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zusammengehalten von ein und denselben Nachrichten und Verordnungen, sie waren durchdrungen von volkstümlicher Musik und volkstümlichen Gesängen.
Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung
Toño, der proletarische Intellektuelle
Toños Universitätskarriere endete einst in einer Sackgasse. Er schlägt sich nun mit Artikeln für kleine Zeitschriften durch, hat geheiratet und eine Familie gegründet, die er nicht ernähren kann; er sucht den Dunstkreis der Musiker, die er verehrt, und liebt heimlich die Sängerin Cecilia Barraza. Eines Tages hört er einen unbekannten, aber höchst virtuosen Gitarristen namens Lalo Molfino.
Es war Weisheit, Konzentration, meisterliche Beherrschung, ein Wunder.
Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung
Dieses geradezu erleuchtende Erlebnis weckt neue Energien: Toño schreibt nun über Jahre an einem Buch, das ihm schließlich mindestens so viel Begeisterung wie Spott einträgt.
Immer mehr verrennt er sich in seine Idee, Peru sei Dank der Huachafería entstanden – ein Wort mit schillernder Bedeutung, das eigentlich so etwas wie Kitsch oder Affektiertheit bedeutet, mit dem Toño aber die eigentümliche Sentimentalität der kreolischen Musik zu beschreiben sucht.
Der „proletarische Intellektuelle“ Toño ist einer jener in Vargas Llosas Werk öfter auftauchenden Träumer und Utopisten –obsessiv, sich unverstanden fühlend, leidgeprüft.
Toño will Peru mit seinen Thesen einigen
Es sind die 1980er und 90er Jahre in Peru. Eine Zeit, als die kommunistische Partei „der Leuchtende Pfad“ zum bewaffneten Kampf aufruft und das Land zerrissen scheint. Toño hat die überhebliche Vorstellung, diesen Riss durch seine Thesen zu kitten. Nicht zuletzt aber gehen Risse durch ihn selbst, lauern in ihm gefährliche Dämonen.
Als wären da Ratten, die an meinem Rücken knabbern. Und dann möchte ich das Hemd ausziehen, die Hose. Und mich kratzen, bis ich tot umfalle.
Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung
„Die große Versuchung“ ist der Roman über einen Mann, dessen Leidenschaft mit seinem Hang zur Depression konkurriert. Dazu ein Künstlerroman, den Toño dem musikalischen Erneuerer Lalo Molfino widmet, einer schemenhaften Gestalt.
Und es ist eine Geschichte der kreolischen Musik – zahlreiche Namen bekannter Interpretinnen und Interpreten tauchen auf. Bald merkt man: In eingefügten Kapiteln lesen wir den Essay, den Toño schreibt, in dem er den Spuren Felipe Pinglo Alvas folgt oder den Liedern der gefeierten Sängerin Chabuca Grande lauscht.
In Essays und Artikeln hat der Literaturnobelpreisträger immer wieder den Niedergang der Hoch- und den Siegeszug der Massenkultur angeprangert. In seinem Roman versucht er nun mit seiner Hauptfigur in der Musik des Volkes eine alle Unterschiede überwindende Kunst heraufzubeschwören – ein romantischer Gedanke, ein naiver auch, denn die Kraft der Musik reicht kaum aus, alle Gegensätze zu überwinden.
Diese Ambivalenz – das Überschwängliche und Unbedarfte – ist dem Buch durchaus eingeschrieben. Und eine Trauer darüber, dass Peru den Weg der Einheit immer wieder verfehlt.
Der Abschiedsroman eines 88-jährigen Literaturstars?
Vargas Llosa ist mit diesem Roman ein durchaus würdiger Abschluss seines literarischen Werks gelungen, ein strahlender Abgesang. Gewiss wären einer strengeren Lektorin so manche erzählerische Umständlichkeit und Redundanz aufgefallen, auch gewisse Längen und Verästelungen hätten sich vermeiden lassen.
Aber wer würde einem inzwischen 88-jährigen Literaturstar mit dem Rotstift kommen wollen? Gerade im Moment des Abschieds. Einmal zitiert der Erzähler den früh verstorbenen Gitarristen Lalo Molfino, der zu Cecilia Barraza einen bedeutsamen Satz sagt, der dem Roman „Die große Versuchung“ auch zu seinem viel passenderen Originaltitel „Le dedico mi silencio“ verhalf:
Ihnen widme ich mein Schweigen.
Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung
Fast scheint es, als sei Vargas Llosas Buch um diesen auch an uns Leser gerichteten Satz herum geschrieben worden.

Aug 11, 2024 • 55min
Twitterpoesie, Nietzsche in Venedig und Weltliteratur to go
Diesmal im lesenswert Magazin: Weltliteratur to go und Nietzsche in Venedig. Mit neuen Gedichten von Clemens J. Setz und neuen Büchern von u.a. Nora Bossong

Aug 11, 2024 • 7min
Literaturvermittlung mit Playmobilfiguren
Alte Klassiker von Shakespeare und Schiller, aber auch zeitgenössische Werke wie die von Arno Geiger oder Elfriede Jelinek stellt Michael Sommer in seinen Videos mit Playmobilfiguren nach. Mit seinen bereits über 500 Videos auf YouTube hat Sommer eine Marktlücke gefüllt.
Deutsch-Abitur gerettet
Auf spielerische und unterhaltsame Weise macht Michael Sommer größtenteils Studierenden, Schülerinnen und Schülern die Inhalte von Literatur-Klassikern zugänglich. Vor allem vorm Deutsch-Abitur steigen die Abrufzahlen.
Im Lesenswert Gespräch erklärt Michael Sommer, wie er mit seinen Clips für Literatur begeistert.

Aug 8, 2024 • 4min
Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert
Auch wenn einige seiner Leser dächten, er übertreibe: Jason Stanley will die Sache beim Namen nennen: Faschismus. Nicht: Populismus, Extremismus, Rechtsradikalismus. Nein, Faschismus. Trump ist ein Faschist, Bolsonaro, Le Pen. Faschisten. Dieser Begriff sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert, denn „Faschismus ist eine ständige Versuchung“, so Jason Stanley.
Der Philosophieprofessor der US-Elite-Universität Yale liefert mit seinem Buch „Wie Faschismus funktioniert“ einen knappen, kompakten, auch meist lehrreichen Überblick zum Thema, leider in einer weitgehend formelhaften Sprache.
Aus seiner 10-Punkte-Aufstellung mit den markanten Erkennungsmerkmalen des Faschismus sollen hier nur drei Aspekte wiedergegeben werden:
Faschismus, die immerwährende Versuchung
Zum Beispiel: Der Anti-Intellektualismus. Menschen, die ihre Arbeitszeit mit Denken, Abwägen, präzisem Formulieren verbringen, verachtet der Faschist.
Faschistische Anführer sind ‚Männer der Tat‘, die für Beratungen und Überlegungen nichts übrighaben. (...) In der gegenwärtigen Phase der US-Politik, in der Trump und seine Anhänger die Klimaforschung verspotten und verhöhnen, erleben wir einen Siegeszug der Verunglimpfung wissenschaftlichen Sachverstands.
Quelle: Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert
Der faschistische Anführer ist ein Mann, ein Patriarch. Denn die Frau gehört wie früher an Heim und Herd. Dass allerdings gerade ein paar weibliche Rechtsaußen in Europa an der Spitze ihrer Parteien stehen, ist ein Widerspruch, den Stanley nicht weiter beachtet.
Die Rache der Provinz an der Stadt
Im Kapitel „Sodom und Gomorrha“ fasst Stanley die Dynamik zwischen Stadt und Land ins Auge. Denn der Rechtsruck kommt vom Land. Peter Sloterdijk sagte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“, gemünzt auf die Situation in Frankreich: „Der Populismus ist größtenteils die Rache des Landes an der Stadt.“
Stanley neigt nicht zu solch griffigen Thesen. Aber er sagt auf kompliziertere Art das Gleiche. Sinngemäß etwa: Von den Städtern wirtschaftlich und kulturell abgehängt, fantasiert sich der Faschist vom Land als der wahre, der ehrliche und fleißige Amerikaner und beschere den als faule Schmarotzer empfundenen Städtern eine faschistische Regierung. Stanley zitiert Trump in einer Rede an seine Anhänger aus der Provinz: „Schauen Sie nur die Innenstädte an, da gibt es keine Bildung, da gibt es keine Arbeit, da wird man auf der Straße erschossen."
Obama, der angebliche „Agent Allahs“ und andere Geschichten
Im Kapitel namens „Unwirklichkeit“ behandelt Stanley die absurd klingenden aber viral gegangenen Lügen der Faschisten, etwa die, Präsident Obama sei in Wahrheit Muslim.
Solche Verschwörungstheorien sind wirksam, weil sie rationale Erklärungen für ansonsten irrationale Emotionen wie Ressentiments oder fremdenfeindliche Ängste angesichts einer vermeintlichen Gefahr liefern. Die Vorstellung, Obama sei in Wirklichkeit ein Muslim (...) begründet das irrationale Gefühl der Bedrohung, das viele Weiße bei seinem Amtsantritt hatten.
Quelle: Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert
Stanleys blinder Fleck
Zusammenfassend lässt sich sagen: Stanley beschreibt den „alten“ Faschismus von rechts zutreffend. Wovon sein Buch jedoch nicht handelt, das sind die aktuellen Spielarten eines Faschismus von links. Beispiel: Der Anti-Kolonialismus, unter dessen Banner linke Aktivisten und Studenten, auch in Yale, die Judenhasser, Frauenverächter und Schwulenfeinde der Hamas unterstützen.
Der Jude und frühere Nazi-Jäger Serge Klarsfeld machte im Juni mit einer schockierenden Wahlempfehlung von sich reden. Er habe Angst vor den französischen Linken. Würden sie stärkste Kraft in der Regierung Frankreichs, fühle er sich seines Lebens nicht mehr sicher. Deshalb wähle er zum ersten Mal Le Pen.
So gesehen sollte Jason Stanley sein Buch „Wie Faschismus funktioniert“ unbedingt noch einmal überarbeiten und dem Faschismus-Begriff auch eine linke Facette hinzufügen.

Aug 7, 2024 • 4min
Sidik Fofana – Dünne Wände
Ein Chor aus acht Stimmen – laut, pulsierend, fast wie ein Sprechgesang. Sidik Fofana, Sohn westafrikanischer Immigranten, lässt in seinem Short-Story-Zyklus „Dünne Wände“ acht Mieter*innen aus einem Hochhaus in Harlem ihre Geschichten erzählen. Sie machen uns zu Zeugen einer erbarmungslosen Gentrifizierung.
Acht Nachbarn aus Harlem erzählen
Mit Einfallsreichtum, Kampfgeist und Wohlfahrtsschecks halten sich die meisten Mieter*innen hier knapp über Wasser. Mimi, Mitte zwanzig und alleinerziehende Mutter, ist genervt von dem Gerede über das Haus. Mit welchen Nachbarn sie hier wohnt, stellt sie in der ersten Geschichte „Handbuch für Mieter“ klar:
Manche leben von Kindergeld. Ihre Onkel sind im Gefängnis, ihre Tanten auf Crack, ihre Cousins in Gangs, ihre Schwestern auf dem Strich. Das sind die Geschichten, auf die alle geil sind. Der Scheiß, der vielleicht einmal im Jahr passiert. Da quatschen die niggas heut noch von, als wäre es gestern gewesen.
Quelle: Sidik Fofana – Dünne Wände
Wer das liest, braucht keinen Stadtplan, um zu wissen, wo die Geschichten spielen. Sidik Fofana schreibt über das Leben in einer Schwarzen Nachbarschaft und der Übersetzer Jens Friebe hat das N-Wort politisch korrekt im englischen Original belassen.
Für diese authentischen, frischen Stimmen wünscht man sich sofort ein Hörbuch, das die forschen Töne ebenso zum Klingen bringt wie die bedrückende Hilflosigkeit.
Man hat die Protagonist*innen also im Ohr und fast vor Augen, während man ihre Geschichten liest, die alle aus der Ich-Perspektive erzählt werden: Da ist zum Beispiel Mimis Ex-Freund Swan, der kaum Geld für den gemeinsamen Sohn abdrückt und bei seiner Mutter wohnt, die mit zwei Jobs die Miete finanziert. Oder der schwule Nachbar Dary, der die Kellnerin Mimi bei ihrer Schwarzarbeit als Haarstylistin unterstützt. Ein bisschen Glamour im trüben Alltag. Der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg lässt die Mieter*innen in dem verwohnten Hochhaus mit kaputten Waschmaschinen und defekten Aufzügen nicht aufgeben.
Mahnschreiben und Mieterhöhungen: Gentrifizierung droht!
Dramaturgisch werden die eng verzahnten Geschichten durch die drohende Gentrifizierung des Viertels vorangetrieben. Mit Mahnschreiben und Mieterhöhungen versucht ein Investor, die Bewohner*innen hinauszudrängen. Solidarität, Kreativität und Mut sind die Basis einer Resilienz, die den Menschen am Rand der Gesellschaft hilft, der Macht der Verhältnisse zu trotzen.
Auch wenn sich beim Lesen einzelner Geschichten Resignation einschleichen mag, überwiegt doch der Respekt vor der Widerständigkeit der bedrängten Mieter*innen mit ihren unterschiedlichen Biografien.
Fofanas Perspektivwechsel sind sprachlich gewagt, denn eine gestandene fünfzigjährige Schulbegleiterin spricht und denkt anders als ein Zwölfjähriger, der zwar verblüffende Dance-Moves beherrscht, aber keine Rechtschreibung. Den Brief an die Mutter seines toten Freundes schreibt der Junge nach Gehör.
Gelungene Übersetzung des amerikanischen Slangs
Dem Übersetzer Jens Friebe gelingt es, die Mischung aus Black English mit doppelter Verneinung, Umgangssprache und Jugend-Soziolekt in ein Deutsch zu übertragen, das den Alltag in einem New Yorker Sozialbau zumindest annähernd vermittelt. Dass Friebe auch Musiker ist, kommt der vibrierenden, rhythmisierten Sprache des Buches zugute, denn Fofanas Schreibstil ist von literarischen Vorbildern ebenso geprägt wie von HipHop und Rap.
Besonders aufrüttelnd sind die Geschichten, in denen junge Protagonist*innen sich aus der bitteren Realität hinausträumen. „Luxuswohnungen in den Wolken“ plant der Investor, während Mimis Nachbar Dary überlegt, ob er als Stricher die nächste Miete finanzieren soll.
Kann man sich nicht vorstellen, man würde es einfach aus Spaß machen? Seit meiner Geburt war mir klar, aus mir wird mal was Großartiges. Ich hab das volle Paket, einnehmendes Wesen, Talent, fotogen bin ich auch. Weißt du, wie viele Menschen da draußen keinen Traum haben, für den sie leben? Du musst immer bereit sein für den großen Durchbruch.
Quelle: Sidik Fofana – Dünne Wände
„Das Thema, das die Geschichten verbindet, ist der amerikanische Traum und die Enttäuschung des amerikanischen Traums“, sagt Sidik Fofana. Das ist ihm literarisch so überzeugend gelungen, dass man dieses realitätssatte Buch mit dem gleichen Erkenntnisgewinn liest wie eine gut recherchierte Reportage.

Aug 6, 2024 • 4min
Simon Sahner, Daniel Stähr – Die Sprache des Kapitalismus
In vielen gesellschaftlichen Bereichen spielt Sprachkritik eine immer größere Rolle. Sie basiert auf einer Grundüberzeugung der modernen Sprachphilosophie: Realität werde durch Sprache erst geschaffen oder zumindest stark mitgeformt. Wer die Sprache ändert, ändert auch die Realität, so der Glauben.
In diesem Sinn haben sich der Literaturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr nun die Sprache des Kapitalismus vorgenommen. Sie wollen den Bildern, Mythen und Selbsterzählungen unserer Wirtschaftsform auf den Grund gehen.
Preise, die keine sind
So kritisieren sie die Rede von den „steigenden“ oder gar „explodierenden“ Preisen. Das klinge so, als handelte es sich um einen Automatismus. In Wahrheit würden die Preise jedoch von den Unternehmern erhöht. Die oft katastrophischen Metaphern dienten dazu, davon abzulenken.
Sahner und Stöhr sehen – nicht nur hier – die Notwendigkeit staatlichen Regulierens: „Die ‚Tsunamis‘ der Finanzwelt lassen sich verhältnismäßig einfach aufhalten. Wenn wir Angst vor einer ‚Flut‘ an Preiserhöhungen haben, hat die Regierung die Möglichkeit, durch Preisobergrenzen zu reagieren. Dadurch wird aus dem vermeintlichen Tsunami eine harmlose Welle.”
Das mag in einzelnen Fällen funktionieren. Erstaunlich aber, dass die beiden Sprachkritiker nicht mitbedenken, dass staatlich festgesetzte Preise im Wortsinn gar keine Preise mehr sind. Preise bilden sich per definitionem auf Märkten.
Die Heldengeschichten der Finanzwelt
Interessant sind die Ausführungen über die Helden-Narrative der Finanzwelt, etwa in den Selbstdarstellungen erfolgreicher Börsenhändler oder in Filmen wie „Wall Street“, die vordergründig die Gier kritisieren, deren skrupellose Helden aber vielfach zu Idolen junger Börsenhändler wurden. Auch im Silicon Valley ist der geniale Einzelkämpfer der Protagonist vieler Heldenreisen ins Reich der Milliardäre. Steve Jobs zum Beispiel.
Sahner und Stähr relativieren sein Genie mit Thesen der linken Mode-Ökonomin Mariana Mazzucato, die dargelegt habe, “…dass keines der technischen Bestandteile des iPhones tatsächlich von Apple geschweige denn von Steve Jobs persönlich erfunden wurde. Vielmehr handelt es sich bei allem, was Smartphones so nützlich macht, um staatlich geförderte und innerhalb staatlicher Strukturen entwickelte Neuerungen: der Touchscreen, der Zugang zum Internet oder auch das GPS. Steve Jobs ist kein technischer Visionär, sondern eher ein Marketing-Genie, das staatlich finanzierte Innovationen in die richtige Kombination gebracht hat und so zum Multimillionär geworden ist.”
Eine interessante Perspektive. Allerdings zeigt sich auch hier, dass das Vertrauen der Autoren in staatliche Lenkung und staatliche Institutionen ebenso groß ist wie ihr Misstrauen gegenüber marktwirtschaftlichen Akteuren.
Über weite Strecken ihres Buches stellen sie wirtschaftsliberale Formeln auf den Prüfstand, wie die von „Leistungsträgern der Gesellschaft“, der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der „Gratismentalität“ oder der schwarzen „Welfare Queen“. Manchmal ist das eher banal als augenöffnend, etwa wenn die Autoren uns von der Fragwürdigkeit des Begriffs „Arbeitnehmer“ überzeugen wollen, weil die doch eigentlich ihre Arbeitskraft „geben“.
Ideologische Schlagseite
Am Ende wird die „Sprache des Kapitalismus“ als Hindernis beim Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel kritisiert. Wohllautende Formeln wie „grünes Wachstum“, „Technologieoffenheit“ oder das Konzept der „Klimaneutralität“ würden hinwegtäuschen über die massiven Transformationen, die die Autoren für nötig erachten.
Spätestens, wenn sie eine postkapitalistische Zukunft beschwören und sich dabei auf Theorien wie Ulrike Hermanns „Überlebenswirtschaft“ oder den „Degrowth-Kommunismus“ des japanischen Marxisten Kohei Saito beziehen, wird die ideologische Schlagseite ihres ostentativ gegenderten Buches offenkundig. Wenn man es jedoch kritisch liest, kann man dennoch einige Orientierung für die aktuellen ökonomischen Debatten gewinnen.

Aug 5, 2024 • 4min
Lavie Tidhar – Maror
Mit „Maror“ hat sich Lavie Tidhar etwas vorgenommen: Die Geschichte Israels von 1974 bis 2008 erzählen – und zwar als Geschichte der Gewalt, Korruption und Skrupellosigkeit.
Es kamen immer mehr. Die Diebe, die Vergewaltiger, und hatte Bialik – oder war es Ben Gurion? – nicht geschrieben: »Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.« Hier wurde es wahr, dachte Benny. Hier wurde es Wirklichkeit.
Quelle: Lavie Tidhar – Maror
Das denkt der Verbrecher Benny auf der Party eines russischen Milliardärs in Tel Aviv 1994, auf der Politiker und Armee-Generäle mit Callgirls feiern – und fasst damit das programmatische Anliegen dieses Romans zusammen. Ein brisantes Vorhaben: In Israel ist der im Original auf Englisch geschriebene Roman bisher nicht erschienen.
Bislang sicherheitshalber nur auf Englisch erschienen
In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte Lavie Tidhar dazu, das Land sei noch nicht so weit, in israelischen Krimis gehe es immer darum, mit der Aufklärung der Tat die Welt vor dem Verbrechen wiederherzustellen. In „Maror“ lässt sich nichts wiederherstellen, das System läuft, ist im Innern aber kaputt. Eine streitbare, in sich aber stimmige Darstellung.
Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden.
Quelle: Lavie Tidhar – Maror
Das ist die Überzeugung des korrupten Chief Inspector Cohen, der in diesem gewaltigen Epos im Hintergrund alle Strippen zieht. Ein Mann mit eiskalten Augen, stets ein Bibelzitat auf den Lippen. Ein Polizist, der auch fürs organisierte Verbrechen arbeitet, um die Stabilität des Landes zu wahren. Nach seiner Auffassung. Ob Attentat, Waffenschmuggel oder Landbesetzung, er tut, wovon er glaubt, was getan werden muss. Als der Libanonkrieg die Drogengeschäfte stört, sorgt er für einen neuen Lieferweg. Ab den 1980er Jahren führt ihn der Handel mit Drogen und Waffen bis nach Lateinamerika und Kalifornien. Nie zweifelt er, nie ist er zu fassen. Auch erzählerisch bleibt er im Hintergrund. Eine kluge Entscheidung: So spiegelt die Erzählung sein Wirken, wird er von den Figuren mal als eiskalter Mörder, mal als manipulierender Helfer wahrgenommen.
Knapp 40 Jahre Kriminalitätsgeschichte
In den knapp 40 Jahren, die die Handlung umfasst, steigt Cohen innerhalb der Polizei auf. Aber „Maror“ ist kein linear erzählter Roman: Episodisch springt er durch Raum und Zeit, in 18 Teilen tauchen Figuren auf und verschwinden wieder. Bis auf Cohen. Der bleibt.
Die Verbrechen haben Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten und Personen. Dazu reichert Tidhar seine Verbrechensgeschichte mit vielen Alltagsbeobachtungen an. Wir laufen durch die Straßen von Tel Aviv, besuchen an der Seite von Polizisten, einer Reporterin oder auch einer Dealerin Nachtclubs und Bars. Oft läuft irgendwo Musik, die die Figuren hören und kommentieren. Im Mittelpunkt aber stehen stets die Verbrechen.
Lavie Tidhar wuchs in einem Kibbuz auf
Der 1976 in Israel geborene, in einem Kibbuz aufgewachsene und in London lebende Lavie Tidhar – bisher für seine Science-Fiction-Romane bekannt – ist nicht der erste Autor, der die Geschichte eines Landes anhand seiner Verbrechen erzählt. James Ellroy etwa hat das in seiner „Underworld USA“-Trilogie gemacht. Im Gegensatz dazu ist „Maror“ aber keine Verschwörungserzählung.
Tidhars Erzählung folgt ausschließlich der knallharten Logik von Gier, Korruption und Macht. Es geht nicht um Ideologie, sondern um Kontrolle. In „Maror“ ist Israel ein Staat wie jeder andere – ein Staat, in dem Armeeangehörige unantastbar sind, Politiker, Polizisten und das organisierte Verbrechen zusammenarbeiten. In jeder Generation werden die Hoffnungen junger Menschen auf Frieden und Normalität aufs Neue zerstört.
„Maror“ übt brachiale und provokative Kritik am israelischen Staatsapparat, ist aber niemals moralisierend, sondern mit viel Tempo und Härte erzählt. Fertig ist Tidhar mit seiner erschütternden Gegenerzählung der Geschichte Israels noch nicht: Mindestens einen Teil, der weiter in die Vergangenheit Israels hineinreicht, wird es noch geben.

Aug 4, 2024 • 7min
Can Xue – Schattenvolk
Ein Buch der chinesischen Autorin Can Xue zu lesen, ist als würde man Achterbahn fahren und gleichzeitig halluzinogene Drogen konsumieren. Immer meint man, irgendetwas wie eine Realität zu erkennen – da wird man schon weiterbefördert in eine neue Dimension von Zeit und Raum.
Trotzdem haben Can Xues Geschichten immer eine Basis in der Gegenwart: Ihr geht es um das urbane China – das sich seit Jahrzehnten radikal und schnell verändert, rücksichtslos, teils auch gnadenlos.
Von diesem China handeln auch die 16 Erzählungen, die ursprünglich in den Jahren 1996 bis 2018 erschienen und die nun unter dem Titel „Schattenvolk“ von Eva Schestag nuancenreich ins Deutsche übertragen worden sind. Der Titel ist programmatisch.
Denn Can Xue – die ihre Geschichten bewusst nicht zeitlich verortet – zeichnet ein eher düsteres Bild vom fortschrittsverliebten China, indem sie uns mitnimmt in dessen Unterleib: Ihre Figuren navigieren durch verschmutzte Tunnel, klaustrophobische Räume, durch Höhlen und Abwasserrohre. Sprich: durch ein Welt gewordenes Unterbewusstes.
Gleich die erste Geschichte spielt im Slum einer namenlosen Stadt, von der man einzig erfährt, dass sich dort eine große Chemiefabrik befindet. In diesem Slum lebt auch der Ich-Erzähler.
Für die Menschen ist dieser Ort eine Qual, besonders die Kinder finden nachts kaum Schlaf. Sie schreien vor Schreck auf, springen aus dem Bett und rennen barfuß aus dem Haus. Sie laufen und laufen durch die engen Gassen, sobald sie stehen bleiben, erstarren sie vor Kälte. Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie einzusammeln. Die Väter und Mütter sind ganz schwarze, ganz magere Leute, solche, in deren Gesichtern man nur noch die Augäpfel hin und her rollen sieht.
Quelle: Can Xue – Schattenvolk
Rabenschwarzer Humor, märchenhafte Elemente
Gefahren lauern an diesem Ort überall, auch für den Ich-Erzähler: Der Hausherr versucht, ihn zu vergiften, nachts wird er Zeuge, wie ein Mann wieder und wieder einen schwarzen Kater umbringt. Und dann ist da noch die Hausratte, die sich eines Tages an den Fersen eines Großväterchens festbeißt:
Ich hörte etwas an einem Knochen nagen und dachte, es sei die Katze. Also sprang ich vom Ofen hinunter und lief hin, um nachzusehen. Ah, es war nicht die Katze, es war eine Hausratte, sie war doppelt so groß wie eine gewöhnliche Hausratte. Verdammt! Sie nagte an Großväterchens Ferse. Ich sah den nackten weißen Knochen, doch kein Blut. Die Hausratte war freudig erregt, zitterte am ganzen Körper, als knaknakna-knabbere sie am besten Knochen der Welt.
Quelle: Can Xue – Schattenvolk
Solch rabenschwarze und zugleich märchenhafte Elemente sind immer wieder kunstvoll in Can Xues Geschichten eingestreut. Subtiler Horror wirkt da, aber auch dezenter Humor. Auch Träume und Alpträume, Fakt und Fiktion, Surreales und Reales – wie etwa der Verweis auf Hunger und Not – gehen darin Hand in Hand.
Das macht die Lektüre so rätselhaft wie spannend. Lange fragt man sich etwa in dieser Geschichte, wer und was eigentlich der Ich-Erzähler ist: ein Mensch – oder ein Tier?
Blick in die menschliche Seele durch den Spiegel der Tiere
Kafka – einer von Can Xues favorisierten Autoren – lässt tatsächlich in mehreren Erzählungen grüßen: Verwandlungen durchlaufen viele der Figuren. Und viele von ihnen sind sowieso Tiere: Eine ältere Elster etwa – die jeden Tag fürchtet, dass ihr Nest von böswilligen Menschen zerstört wird. Zikaden, die in der Abenddämmerung singen, notgedrungen von den Menschen geduldet:
Was konnte man schon tun? Die Zikaden, Pappeln und Weiden wuchsen und gediehen zusammen, und die Zikaden waren nicht auszurotten, es sei denn, man fällte die Bäume. Dann aber würde die Temperatur im gesamten Wohnviertel um mindestens drei Grad steigen.
Quelle: Can Xue – Schattenvolk
Can Xue spielt damit womöglich auf die 1958 von Mao ausgerufene Kampagne „Ausrottung der vier Arten“ an, die einst mit zur Großen Hungersnot beitrug. Vor allem aber erzählt sie von den Abgründen der menschlichen Seele im Spiegel der Tiere.
Diese durchleben das ganze Register an Leid, Verzweiflung und Gewalt, das allen widerfährt, die unter die Räder des sich modernisierenden Chinas geraten. Wie die Menschen sind auch die Tiere konfrontiert mit dem Verlust von Heimat und Zugehörigkeit.
Die Landschaften in allen Erzählungen sind entsprechend feindlich gezeichnet: extrem heiß oder heimgesucht von sintflutartigen Unwettern; gleißend grell oder beklemmend dunkel. Leben, so macht Can Xue in solchen Bildern deutlich, bedeutet hier eher Überleben.
Statt Konstanz herrscht Kontingenz: durch Entwurzelung, durch Umsiedelung, ob erzwungene oder freiwillige. So gesteht gleich zu Beginn der titelgebenden Erzählung „Schattenvolk“ der Ich-Erzähler, dass er falschen Verheißungen von einem besseren Leben in der Stadt aufgesessen ist:
Es war ein langer und mühsamer Weg in die Feuerstadt. Bis heute erinnere ich mich an den Durst, die Sehnsucht, die ich unterwegs verspürte. Mir war, als ginge ich zum Kristallpalast! In den Sagen und Märchen ist der Kristallpalast der allerschönste Ort. Ich kam nachts an. Ich erinnere mich, wie mich zwei Hände in ein altes Haus zogen, wo es nach Fleischbrühe roch, und dann irgendjemand sagte: »Der läuft uns nicht weg.«
Quelle: Can Xue – Schattenvolk
Schattenwelten, Parallelwelten: zwischen Himmel und Hölle
Und doch sind die Sinnesorgane aller Lebewesen in diesen Erzählungen mit feinem, ja feinstem Radar ausgestattet. Sie nehmen Kontakt auf mit Geistern, Verstorbenen und Ahnen – und damit mit all jenen, die den verdrängten vergessenen Humus bilden für die von Can Xue beschriebene Gegenwart. Kurz: Das Sichtbare ist in dieser Welt so real wie das Unsichtbare.
Diese Form der Wirklichkeitswahrnehmung prägt die vorliegenden Erzählungen ebenso wie das daoistische Konzept des Wu Wei, das Nichthandeln als Handeln begreift. Das stille Glück aller Figuren liegt genau hierin: zu akzeptieren, was ihnen widerfährt.
An Aufbegehren denkt jedenfalls keine von ihnen. Ist das weise – oder totale Resignation? Zudem schließt der Band mit Geschichten, in denen der Erdenschwere eine erträumte Flucht entgegensteht:
Die Erzählung „Glück“ etwa spielt in einem Haus, das kein Oben und Unten besitzt, sich aber unverkennbar zum Himmel hin öffnet. Und mit einem Sturz in den Himmel endet auch die letzte der Geschichten.
Dante – ein weiterer literarischer Ahnherr der Autorin – dürfte Pate gestanden haben für den formalen Bogen, den auch Can Xues Erzählungen vollzieht: von der Unterwelt hin zu einem nicht verortbaren Anderswo.
Tatsache ist: Mit ihren mesmerisierenden Geschichten lotet Can Xue die Abgründe und Verwerfungen des modernen China aus – und bietet zugleich Erzählkunst auf höchstem Niveau.

Aug 4, 2024 • 6min
Leonardo Padura – Anständige Leute
Havanna im März 2016: Kubas Hauptstadt ist im Ausnahmezustand. US-Präsident Barack Obama wird zu einem historischen Besuch erwartet, wenige Tage später wollen die Rolling Stones zum ersten Mal in dem sozialistischen Inselstaat auftreten.
Als wäre all dies nicht schon genug Arbeit für die Polizei, wird ein ehemaliger hochrangiger Funktionär – ein gefürchteter Kunst-Zensor – tot aufgefunden. Grausam verstümmelt liegt er in seiner Luxuswohnung in einem Hochhaus mit Panorama-Blick.
Mit diesem fiktiven Mord in einem realen zeithistorischen Kontext beginnt Leonardo Paduras Roman „Anständige Leute“. Wieder einmal wird der Ex-Polizist Mario Conde mit dem berühmt-berüchtigten siebten Sinn von seinen ehemaligen Kollegen um Hilfe gebeten, ein Verbrechen aufzuklären. Kurze Zeit später kommt noch ein zweiter Toter hinzu: Ex-Schwiegersohn des ersten Mordopfers. Beide hatten unter Fidel Castro viele Menschen in Angst und Schrecken versetzt.
Die Geschichte eines Kunst-Zensors unter Fidel Castro
In Paduras Roman heißt der Zensor Reynaldo Quevedo. Personen wie ihn gab es tatsächlich im sozialistischen Castro-Regime. Quevedo verfolgte Künstlerinnen und Künstler wegen „ideologischer Abweichung“ und stellte Homosexuelle und Christen an den Pranger.
Im Roman nimmt sich eine Dichterin deswegen das Leben. Nicht nur werden die Geächteten hart bestraft und dürfen ihre Kunst nicht mehr ausüben – Quevedo reißt sich auch Werke seiner Opfer unter den Nagel. Leonardo Padura schreibt:
In den düsteren siebziger Jahren verkörperte Quevedo für die Künstlerkreise des Landes das Böse schlechthin. Er war ein bestenfalls mittelmäßiger Dichter, hatte einen ebenfalls bloß mittelprächtigen militärischen Dienstgrad inne und entsprach in jeder Hinsicht dem Typus des unerbittlichen Politikers, der krank vor Hass und Neid gegen alle Andersdenkenden vorgeht und seine Macht dabei rücksichtslos missbraucht. (…) Offensichtlich wegen seiner ausgeprägten inquisitorischen Neigung und angeborenen Boshaftigkeit hatte man ihn zum Anführer einer mit der Verfolgung, Schikanierung und Ausgrenzung von kubanischen Schriftstellern und Künstlern beauftragten Gruppe bestimmt, die jahrelang ungehindert ihr Unwesen trieb.
Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute
Mit der Unterdrückung der kubanischen Kunstwelt, die in den 1970er Jahren besonders brutal war, berührt Leonardo Padura ein kaum aufgearbeitetes Kapitel der jüngeren Geschichte seines Landes. Dass die beiden Morde in seinem Roman etwas mit diesen schmerzhaften Geschehnissen zu tun haben, wird rasch klar.
Der berühmte kubanische Zuhälter Alberto Yarini (1882-1910) tritt auf
Aber in „Anständige Leute“ gibt es auch noch einen zweiten, nicht minder fesselnden Erzählstrang. Padura vertieft sich in das abenteuerliche Leben einer kubanischen Legende: Alberto Yarini, Zuhälter-König und charismatischer Patriot mit politischen Ambitionen, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Havanna vom Volk verehrt wurde.
Auch sein Leben endete nicht gut. Auf den ersten Blick haben die beiden abwechselnd erzählten Geschichten nichts miteinander zu tun, aber nach und nach offenbaren sich Berührungspunkte.
Anständig, was für ein schönes Wort, nicht wahr? Auch ich war zeitlebens ein anständiger Mensch. (…) Ach ja, und vergessen Sie nicht: Die Vergangenheit lässt sich nicht auslöschen, und die Geschichte geht nie zu Ende.
Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute
schreibt der Mörder des Kunst-Zensors, nachdem er aufgeflogen ist, an den Ermittler Conde. Paduras Roman kommt immer wieder auf den Begriff der Anständigkeit zurück. Kann man einen Mord begehen und trotzdem anständig sein – weil das Opfer ein skrupelloses Monster war?
Oder: Wie bleibt man anständig, wenn Doppelmoral und Korruption alles beherrschen? – ob nun in der heutigen Diktatur oder vor 100 Jahren, als Prostitution, Drogenhandel und Glücksspiel auf Kuba blühten und auch Polizei und Politik durchdrangen. Leonardo Padura schlägt mit diesen Fragen gekonnt einen Bogen zwischen beiden Handlungssträngen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Ermittler Conde wirft einen luziden und desillusionierten Blick auf Kuba
Er lässt sein Alter Ego, den chronischen Pessimisten Mario Conde, luzide und desillusionierte Blicke auf seine Heimat werfen. Gerade auch auf die Prostitution, allgegenwärtig im vorrevolutionären Havanna, aber auch heute für viele Kubanerinnen und Kubaner ein Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Misere.
Wir erleben durch die Augen Condes, der abends in einem angesagten Restaurant als Security-Mann jobbt, die krassen Gegensätze im Land: Da sind die Pechvögel, die im realexistierenden Sozialismus kaum über die Runden kommen, und die Glücklichen, die Devisen ergattern und sich viele Annehmlichkeiten leisten können.
In den Tagen rund um den Obama-Besuch und das Stones-Konzert, in denen Leonardo Padura seinen Roman ansiedelt, herrschte bei vielen Kubanern Euphorie und Hoffnung auf mehr Freiheiten und wirtschaftliche Besserung. Dass das nicht anhalten würde, sieht Ermittler Mario Conde voraus:
Die Leute tun so, als wäre die Schule aus, dabei ist das hier bloß die kleine Pause. Die Lehrer und ihre Helfer stehen immer noch mit dem Stock in der Hand da und überwachen alles, aber das scheinen die Leute überhaupt nicht mitzubekommen.
Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute
Ein unterhaltsamer und traurig aktueller Roman
„Anständige Leute“ ist ein traurig aktuelles Buch, denn die Kunst-Zensur auf Kuba gehört nicht der Vergangenheit an. Auch heute werden unabhängige Kulturschaffende gegängelt. 2018 erließ die Regierung ein Dekret, das Zensur und Einschränkungen der Kunstfreiheit festschrieb.
Auf Proteste aus der Kulturszene folgten Verhaftungen und Verurteilungen. Künstler sitzen im Gefängnis, andere sind ins Exil gegangen. Padura packt das schwere Thema in einen unterhaltsamen, allerdings etwas ausschweifenden Krimi, vor allem aber ist „Anständige Leute“ ein Gesellschaftsroman mit erhellenden Einblicken in Kubas Abgründe und Umbrüche.

Aug 4, 2024 • 6min
40 Jahre E-Mail
Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen.
Quelle: Franz Kafka
Das schreibt Franz Kafka an seine künftige Verlobte Felice Bauer am 4. November 1912. Eine leichte Verzweiflung ist in diesen Zeilen enthalten, aber auch ein behutsamer Vorwurf.
Unzulänglichkeiten des "analogen" Postwegs
Die Unzuverlässigkeit des Fräulein Bauer ist das eine. Das andere ist die Post: Briefe haben einen langen Weg zurückzulegen, und es kann ihnen etwas dazwischenkommen – ein verpeilter Postbeamter, eine Schlamperei, ein ungeplanter Umweg durch fremde Städte, undurchschaubare Briefverteilungszentren.
Wenn das Schreiben nicht bis zu einer gewissen Stunde zugestellt ist, dann heißt es warten bis zum nächsten Tag. Im bürgerlichen Zeitalter des ausgiebigen Briefeschreibens musste man Geduld erlernen und gute Nerven besitzen, gerade wenn es um Liebesdinge ging.
Ein falsches Wort, eine skeptische Anmerkung, eine bohrende Beunruhigung konnte erst zeitverzögert, möglicherweise Tage, wenn nicht Wochen später bereinigt oder geklärt werden. In ganz dringenden Fällen blieb einem nur das Telegramm, in dem man sich kurz zu fassen hatte. Die erste telegrafische Leitung gab es allerdings nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts.
In den frühen 1990er Jahren, als ich bei der Deutschen Bundespost als Eilbote jobbte, war das Telegramm schon vom Faxgerät verdrängt worden – aber ein- bis zweimal am Tag kam es doch noch vor, dass ich ein Fernschreiben mit meinem VW-Post-Golf zustellen durfte, meistens einen Glückwunsch zum Geburtstag oder die Nachricht eines Todesfalls.
Dass ich einer in Kürze aussterbenden Tätigkeit nachging, der des Eilboten, war mir wohl sehr viel weniger bewusst als vielen meiner Generationsgenossen, die bereits ihren Commodore C64 gegen einen Macintosh eingetauscht hatten und die digitale Zukunft am Horizont aufleuchten sahen.
Die erste elektronische Post im Jahr 1971
Ich hingegen schrieb Briefe mit der Hand, Hausarbeiten mit einer Schreibmaschine und las Goethes „Werther“ oder Kafkas schön-schmerzliche Briefe. Spät kapierte auch ich, was das ausgehende Jahrhundert geschlagen hatte: Bereits 1971 hatte der US-amerikanische Informatiker Roy Tomlinson ja den ersten elektronischen Brief verschickt, von einer größeren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Am 3. August 1984 um 10:14 Uhr wurde in Deutschland dann die erste Internet-E-Mail empfangen: Michael Rotert von der Technischen Hochschule Karlsruhe erhielt eine Grußbotschaft von der Internet-Pionierin Laura Breeden. Die saß in Massachusetts, also auf einem anderen Kontinent, und hatte irgendetwas in ihren Computer getippt, was nur Sekunden später seinen Empfänger fand.
360 Milliarden E-Mails täglich
Heute, 40 Jahre danach, werden weltweit jeden Tag gut 360 Milliarden E-Mails verschickt. 360 Milliarden! Täglich! Die E-Mail-Kommunikation ist beruflich und privat inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen können.
Selbst SMS und WhatsApp konnten der E-Mail bislang nichts anhaben. Das hat nicht zuletzt literaturhistorische Folgen: Das Literaturarchiv in Marbach, in dem Hunderte von Dichternachlässen und selbstverständlich auch Briefwechsel wie in einer heiligen Grabkammer verwahrt werden, muss sich nun auch mit den neuen technischen Gegebenheiten arrangieren. Es werden Verfahren entwickelt, wie digitale Nachlässe – wozu auch E-Mails gehören – dauerhaft archiviert werden können.
Der Briefroman des 18. Jahrhunderts erfährt ebenfalls eine Aktualisierung – als E-Mail-Roman. So hat Daniel Glattauer etwa mit „Gut gegen Nordwind“ im Jahr 2006 einen großen Publikumserfolg gefeiert; Zsuzsa Bánk lässt in „Schlafen werden wir später“ zwei Freundinnen von Computer zu Computer schwermütige Nachrichten austauschen.
Im Prinzip aber sind solche Bücher dem klassischen Briefroman verhaftet, auch wenn E-Mail drübersteht – eine ausschweifende, wohlformulierte, auf Antwort und Erwiderung basierende Schriftverkehrs-Prosa.
Schnelligkeit auf Kosten der Sprachfeinheit
Für den Großteil der heute täglich versandten 360 Milliarden Mails trifft weder ausschweifend noch wohlformuliert zu: Das Medium treibt uns zur Eile an, die Feinheiten der Sprache gehen dabei meist verloren. Mails sollen kurz, schnell beantwortet und ohne formalen Schnickschnack verschickt sein.
Manchmal provozieren sie impulsive Reaktionen, die uns später durchaus reuen können. Quillt das Postfach über oder ist man unkonzentriert, vertut man sich auch schon mal im Adressfeld und antwortet dem falschen Empfänger – was fürchterliche Verwicklungen nach sich ziehen kann:
Aus Versehen schickt man einem Bekannten eine gehässige Beschreibung von dessen Charakter, die eigentlich in lästerlicher Absicht an einen gemeinsamen Freund gerichtet sein sollte.
Oder ein grammatikalisch zweifelhaftes Liebesbekenntnis landet – einer Freudschen Fehlleistung geschuldet – bei der falschen Frau respektive dem verkehrten Mann, die oder der daraus wiederum verhängnisvolle Schlüsse ziehen wird.
Die Bedächtigkeit, die sich durch das Schreiben eines Briefes, das Adressieren, das Frankieren, das Zum-Postkasten-Bringen notwendigerweise ergibt, fällt bei der E-Mail dem elektronischen Eilverfahren zum Opfer. Ein Klick auf Senden – und das Unheil ist da.
Schriftliche Kommunikation in Echtzeit
Die Rasanz hat natürlich auch Vorzüge, aber die liegen eher im Ökonomischen. Zeit wird gespart, Porto wird gespart, Schreibarbeit wird gespart. Schriftliche Kommunikation findet in Echtzeit statt, Räume werden in Windeseile überwunden, Wegstrecken sind auf digitalen Autobahnen eigentlich nur noch abstrakte Entfernungen.
Selbst Kafka hätte das wohl als höchst zwiespältig empfunden. Die Gleichzeitigkeit regiert. Keine Postkutsche, kein Flugzeug, kein VW-Post-Golf kann da jemals mithalten.
Wer heute noch von einem Dasein als Eilbote träumt, ist der Gegenwart irgendwie verloren – so viele E-Mails er zu den 360 Milliarden auch täglich beitragen mag.


