

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Aug 15, 2024 • 4min
Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden?
Nach wie vor fehlt es an einer überzeugenden Aufarbeitung der Covid-Pandemie. Doch angesichts der großen gesundheitlichen wie auch gesellschaftlichen Schäden wäre es fatal, wenn aus der Pandemie keine allgemein akzeptierten Lehren gezogen würden, sei es für das Gesundheitswesen, sei es für Medien und Wissenschaft, sei es für das politische Krisenmanagement.
Aus diesem Grund hatte der Virologe Christian Drosten die Idee, zusammen mit dem Journalisten Georg Mascolo ein Gespräch zu führen, in dem nachträglich – ohne Hektik und Aufgeregtheit – ein Resümee gezogen werden sollte.
Was können wir aus der Pandemie lernen?
Was also können wir lernen? Zunächst einmal sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Pandemien immer überraschend kommen und dass die anfängliche Situation immer von zahlreichen Unsicherheiten bestimmt wird. Natürlich kann man es sich bei der weiteren Beurteilung leicht machen und sagen, alles lief falsch, aber wenn man jenseits von Voreingenommenheit und Parteilichkeit urteilen will, fällt das Urteil nicht leicht.
Deutlich arbeiten aber Christian Drosten und Georg Mascolo in ihrem Gespräch heraus, dass die Voraussetzungen in verschiedenen Ländern unterschiedlich waren: dass Schweden sich eher einen lockeren Umgang leisten konnte als Deutschland und Großbritannien aufgrund eben dieses lockeren Umgangs sehr, sehr viele Tote zu beklagen hatte, mit anderen Worten: dort eine hohe Übersterblichkeit aufgrund von Covid zu verzeichnen war.
Klar wird in dem Gespräch auch, dass Schulschließungen – jedenfalls im März 2020 – nicht nötig gewesen waren, aber umgekehrt schnelle Impfungen sehr nützlich waren, je schneller, desto wirkungsvoller. Selbstkritisch gesteht Christian Drosten ein, dass er zunächst allzusehr auf Freiwilligkeit gesetzt hatte:
Ich habe gedacht, das läuft rein über die Kommunikation und übers Erklären, jeder erkennt die Gefahr und verhält sich entsprechend. Ich lag bei meiner persönlichen Einschätzung zur Freiwilligkeit von Verhaltensänderungen komplett falsch.
Quelle: Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden?
Das Präventionsparadox bleibt ein Problem
Ein Problem bleibt – nicht nur bei den Impfgegnern und den Corona-Leugnern – das sogenannte Präventionsparadox. Gerade weil die Maßnahmen Erfolg haben, erkennt man deren Wirkung nicht. Christian Drosten:
Man sieht die Krankheit nicht, die man verhindert hat, und ist dann blind für die Folgen, die ohne Präventionsmaßnahmen eingetreten wären. Man sieht also nur den Schaden der Präventionsmaßnahmen und übersieht den Nutzen.
Quelle: Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden?
Wissenschaftler wie Drosten, die sich damals öffentlich exponiert haben, wurden durch ihre klaren Stellungnahmen verschiedentlich belästigt, angegriffen und mit Hassmails überschüttet. Die Charité schickte die Mails gleich weiter an eine Anwaltskanzlei, sodass inzwischen viele der Absender angezeigt bzw. schon verurteilt sind.
Wir sollten in Sachen Pandemie klüger werden und nicht erregter
Inzwischen wissen wir, dass man zwar nicht verhindern kann, dass sich viele Menschen infizieren, aber durch die Impfungen vermeiden kann, dass sie daran sterben.
Das sollte man sich, so Drosten und Mascolo, für künftige Infektionen merken. Klar ist aber auch, dass durch das Vordringen in tropische Regenwälder, durch Wildtiermärkte, die Art und Weise der Nutztierhaltung und durch den weltweiten Reiseverkehr ziemlich perfekte Voraussetzungen für das Entstehen neuartiger Viren und damit Krankheiten geschaffen werden.
Das Gespräch von Drosten und Mascolo ist zwar keineswegs alarmistisch, lässt aber insofern keine Zweifel offen. In jedem Fall sollte eine mediale Polarisierung vermieden werden, es geht also darum, einen Journalismus zu praktizieren, der klüger macht und nicht erregter.

Aug 14, 2024 • 4min
Paul Lynch – Das Lied des Propheten | Buchkritik
Europa hat Zukunftsangst. Im Zentrum stehen dabei politischer Extremismus, die Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaat, eine gespaltene Gesellschaft und zunehmende Gewalt. Was passieren kann, wenn all diese toxischen Elemente zur vollen Entfaltung kommen, das hat der Ire Paul Lynch in seinem Roman „Das Lied des Propheten” ausgemalt.
Es passiert in einem EU-Land
Der erste dramaturgische Kunstgriff seines dystopischen Romans besteht darin, dass er die Handlung in Irland ansiedelt. Damit stößt er seine Landsleute also gleichsam von den Tribünenplätzen, von denen wir Europäer das Unglück der Welt zu betrachten pflegen, hinab in eine Arena der Grausamkeiten. Dort geht es bald genauso zu, wie in den Ländern, die von Tyrannei und Krieg heimgesucht werden.
Es beginnt mit der klassischen Urszene, die aus allen Diktaturen bekannt ist. Es klingelt, zwei Männer mit Hut verlangen Mr. Stack zu sprechen. Stack ist der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft. Bei der Vernehmung durch die Geheimpolizei wird er beschuldigt, zum Hass gegen den Staat aufzustacheln.
Larry Stack schweigt lange. Damit ich Sie richtig verstehe, sagt er, Sie fordern mich auf, Ihnen zu beweisen, dass mein Verhalten nicht staatsgefährdend ist? Ja, das ist korrekt, Mr. Stack.
Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten
Diktatur, Not, Bürgerkrieg
Larrys Frau Eilish wird ihren Mann nie wieder sehen. In Irland regiert eine Partei namens National Alliance, durch Notverordnungen hat sie sich diktatorische Vollmachten verschafft. Unter diesen Umständen muss sich Eilish mit ihren vier Kindern und ihrem dementen alten Vater allein durchschlagen.
Die Hoffnung der Protagonistin, dass es in einem EU-Land ja wohl nicht zum Äußersten kommen wird, fegt der Autor mit einer unbarmherzigen Eskalation der Handlung hinweg. Eilish wird zum Opfer von Sippenhaft, sie verliert aus politischen Gründen ihren Job als Biotechnikerin, auf Ämtern wird sie schikaniert.
Sie sieht vor sich das Bild einer zerschlagenen Ordnung. Die Welt ergibt sich dem Chaos, der Boden, auf dem man geht, fliegt in die Luft.
Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten
Gegen das diktatorische Regime erhebt sich eine Rebellenarmee, der sich Eilishs ältester Sohn anschließt. Die Städte werden zum Schlachtfeld mit wechselnden Frontlinien. Als Eilish in den Krankenhäusern nach ihrem verletzten jüngeren Sohn sucht, gerät sie in das Visier von Heckenschützen.
Das Lied vom Unglück der Welt
Paul Lynch schildert das Geschehen Schritt für Schritt in aufwühlenden Bildern und gedrängten Satzfolgen, die Eilishs Überlebenskampf bei zunehmender Panik nachzeichnen.
Sie sieht ihre Kinder in eine Welt von Hingabe und Liebe geboren und sieht sie verdammt zu einer Welt des Terrors, und sie sieht, dass aus Terror Mitleid entsteht und aus Mitleid Liebe.
Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten
So geht, durchaus in biblischer Tradition, „Das Lied des Propheten”, auf das der Titel des Romans verweist. Wie es zu dem totalitären Regime in Irland kommen konnte, das lässt der Autor weitgehend im Dunkeln. Umso ausführlicher hebt er die Parallelen zu Krisenregionen wie dem Nahen Osten hervor, deren Bewohner durch Krieg und Gewaltherrschaft zur Flucht gezwungen werden.
Die Botschaft des Romans lautet: Das Unglück der Welt kann überall zuschlagen. Paul Lynch entfaltet diese Einsicht mit beklemmender Intensität und erzeugt damit genau das, worauf es bei jeder dystopischen Schwarzmalerei ankommt: Hochspannung, Schrecken und Anteilnahme.

Aug 14, 2024 • 9min
Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Anfangs brennen noch keine Felder.
Es regnete den ganzen September, den ganzen Oktober und den ganzen November lang.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Über diesen etwas eintönigen Satz denkt Luisa Fischer seit geraumer Zeit nach, weil es vor ihrer Tür offenbar dauernass ist. Das Wetter und die sogenannte Wirklichkeit bieten Luisa den Stoff für einen ersten Roman. Sie ist zurückgekehrt in die oberösterreichische Heimat und möchte sich als Schriftstellerin neu erfinden.
In der von landwirtschaftlichen Betrieben geprägten Region sieht sie auch ihre Halbbrüder Alexander und Jakob wieder, die in Kaiser-Mühleckers Prosawerken „Fremde Seele, dunkler Wald“ bzw. „Wilderer“ im Mittelpunkt standen: Während der ehemalige Soldat Alexander unter den psychischen Nachwirklungen eines Auslandseinsatzes leidet, hat Jakob den verschuldeten Bauernhof der Eltern übernommen.
Beide Söhne schaffen es nicht, sich von familiären Prägungen zu lösen und ein glückliches Leben zu führen. Weil Luisa lange Zeit im Ausland lebte, stand sie bislang am Rand der Verwicklungen im heimischen Rosental. Sie hat zwei Kinder, die in Schweden und Dänemark bei unterschiedlichen Vätern leben und die in Luisas Gedankenraserei gar nicht gut wegkommen.
Ihre beiden Ex-Männer, die Väter ihrer Kinder waren schrecklich gewesen, der eine wie der andere, in gewisser Hinsicht eigentlich richtige Monster, von denen sich zu trennen ihr im Innersten nicht schwergefallen war.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Unzuverlässige Erzählerin
Reinhard Kaiser-Mühlecker hat sich für eine personale Erzählperspektive entschieden: Die Geschehnisse werden ausnahmslos aus der Sicht Luisas vorgetragen, die zwar von Beginn an nicht zuverlässig, aber eben doch so reflektiert wirkt, dass man ihr manche Übertreibung durchgehen lässt.
Andere Menschen waren schon eigenartige Wesen, und wie war man selbst eigentlich? Sich kannte man schließlich auch nicht besonders gut, wenn man ehrlich war.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Das Spiel mit Fremd- und Eigenzuschreibungen, die Projektion eigener Leiderfahrung auf andere Familienmitglieder ist ein zentrales Thema in „Brennende Felder“. Nach dem Scheitern der Ehen beendet Luisa ihre amourösen Eroberungsfeldzüge keineswegs. Auf die „Liste ihrer Liebhaber“ gerät auch Robert Fischer und damit jener Mann, der sie zwar aufgezogen hat, aber nicht ihr leiblicher Vater ist.
Die Mutter hatte einen One-Night-Stand, und der Erzeuger war noch in der ersten Liebesnacht verschwunden. Kein Wunder, dass Luisa oft im „Nebel der Erinnerung“ herumirrt und selten zur Ruhe kommt. Kaum hat sie einen Typen verführt, wird ihr auch schon wieder langweilig.
…allmählich spürte sie, wie diese Unrast und diese Unzufriedenheit zurückkehrten.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Ökonomische und emotionale Verwerfungen in einer Bauernfamilie
Es ist nicht leicht, die emotionalen Wirrnisse und wirtschaftlichen Verwerfungen in der Familie Fischer immer nachzuvollziehen. Im Mittelteil des Buchs fragt man sich, worauf die Geschichte hinauslaufen mag. Auch Luisas Ausführungen zu dem Roman, an dem sie gerade arbeitet, lesen sich alles andere als erhellend. Die Vermutung, man lese das Werk, das Luisa gerade schreibt, wird sich als Trugschluss erweisen.
Fest steht: Die Härte des Bauernlebens hat alle Mitglieder der Familie Fischer schwer gezeichnet. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die im betrieblichen Überlebenskampf nötig ist, scheint auch Luisas Handeln zu bestimmen. So unklar die Motive der Hauptfigur nämlich sein mögen, so dominant zeichnet Kaiser-Mühlecker ihr Verhalten: Mit Robert, den Luisa nun liebevoll Bob nennt, bezieht sie eine Villa am Rande des Heimatdorfs.
Das ungleiche Paar wird von den Nachbarn skeptisch beäugt. Vor allem Halbbruder Jakob, der unter den nicht nur ökonomisch waghalsigen Aktionen des Vaters immer gelitten hatte, lehnt die seltsame Liaison ab. Eines Tages kommt Bob schwerverletzt nach Hause.
Seine eine Gesichtshälfte war völlig zerschlagen, am Jochbein war die Haut abgeschürft und nässte, es sah aus, als wäre er mit dem Gesicht über Asphalt geschleift worden.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Der Tod ist immer präsent
Bob will sich zu den Hintergründen der brutalen Auseinandersetzung nicht äußern, spricht lediglich von einer „alten Geschichte“. Was in diesem Setting nicht ungewöhnlich ist. Alle haben hier irgendwelche Leichen im Keller. Schließlich kommt Robert Fischer auf sehr mysteriöse Weise ums Leben. War es ein tragischer Unfall oder doch Mord, wie Luisa vermutet?
Der Tod ist allgegenwärtig in Kaiser-Mühleckers agrarischen Romanmilieu. Mal stirbt ein Bauer in einem „Futterautomaten“, dann nimmt sich die Frau eines Landwirts das Leben. Luisas Partnerjagd aber geht unverdrossen weiter: Sie lernt Ferdinand kennen, einen Bauern in der Nachbarschaft, den sie zwar erst für Bobs Tod verantwortlich macht, ihn dann aber an sich zu binden weiß.
Ferdinand hat einen autistischen Sohn, was nicht nur in der Schule zu Problemen führt. Der alleinerziehende Vater bewirtschaftet allen Widrigkeiten zum Trotz den Familienbesitz, arbeitet fürs Landwirtschaftsministeriums in Wien und schreibt Fachartikel über „trockenresistente Kulturpflanzen“. Luisa setzt alles daran, sich in die neue Umgebung einzufügen, emotionale Abhängigkeiten zu etablieren.
Sie hilft Anton bei den Mathe-Aufgaben, unterstützt Ferdinand im Haushalt. Doch die Stimmung kippt abermals. Luisa stört sich zunehmend am schwer zugänglichen Anton, der wohl immer auf Hilfe angewiesen sein wird. Auch Ferdinand kann es der Frau, die um mehr Aufmerksamkeit bettelt, nicht länger recht machen, vor allem …
…seit er sich so viel mit dem Thema Wasserrückhaltung und Wasserspeicherung beschäftigte und überall auf der Hofstätte, an den Fallrohre der Dachrinnen, aber auch andernorts, hässliche Wassertonnen und Wassertanks aufstellte.
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Brennende Mähdrescher
Nach den Regenmonaten herrscht nun auch in Oberösterreich eine für die Landwirtschaft bedrohliche Trockenheit. Mit der mühsamen Arbeit der Bauern möchte sich Luisa aber nicht beschäftigen. Fasziniert schaut sie in die Ferne und bewundert das vermeintliche Naturspektakel: Es sieht aus, als würden die Felder brennen. Die Mähdrescher und Ballenpressen sind bei den hohen Temperaturen tatsächlich in Brand geraten, das Feuer hat aber noch nicht auf die trockenen Äcker übergriffen.
Die Wahrheit interessiert Luisa nicht. Im Grunde freut sie sich, dass das Werk der Bauern, unter deren Lieblosigkeit sie in Kindertagen gelitten hat, nun in Flammen steht. Luisa lebt zunehmend in einer Wahnwelt, was sich auch in der Sprache des Romans niederschlägt. Mit unheimlicher Konsequenz hat Kaiser-Mühlecker die regendurchnässte Prosa, die zunächst von dunklen Wäldern und vereinsamten Seelen handelte, in brennende Wortfelder überführt.
Überall lodern nun die Lügen, die sich auf überraschende Weise zu einem stringenten Gesamtbild fügen. Aus einer triebfixierten Narzisstin ist ein Engel des Todes geworden, der Empathie zu simulieren weiß, um die hergestellte Nähe kaltblütig auszunutzen. Luisa wartet nur noch auf die passende Gelegenheit, um Anton aus dem Weg zu räumen.
Ja, Hass. Und wann war er aufgekommen in ihr, dieser Hass, über den sie seit Wochen, ja Monaten Abend für Abend wieder nachdachte, weil sie ihn nicht verstand? Den sie gar nicht wollte. Den sie nicht einmal kannte. Nie empfunden hatte (…). Und jetzt auf einmal doch?
Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder
Abschluss einer herausragenden Familientrilogie
Ob Luisa auch ihre ehemaligen Gatten, die sich inzwischen mit allen Mitteln von ihr fernzuhalten versuchen, mit solchen Hassgefühlen verfolgte? Selbst die eigenen Kinder verweigern sich den Spontanbesuchen in Dänemark und Schweden. Ob sie insgeheim ahnen, wie gefährlich der Umgang mit der Mutter ist?
Die erstaunlichen Wendungen dieser Geschichte lassen auch die beiden vorangegangen Romane von Kaiser-Mühleckers Familientrilogie in einem anderen Licht erscheinen, vor allem das Drama des Bauern Jakob im Vorgängerbuch „Wilderer“. Der Autor führt seine Figuren zwar grundsätzlich in den Abgrund. Aber Luisas Lebensweg ist besonders schrecklich. Was über viele Seiten als weibliche und literarische Selbstbehauptung daherkommt, hat sich zu einem pathologischen Zerstörungsprogramm entwickelt.
„Brennende Felder“ ist der überzeugende Abschluss einer dreiteiligen Familiengeschichte, die als Psychogramm einer bäuerlichen Gesellschaft am wirtschaftlichen und auch kulturellen Abgrund zu lesen ist. Der Schriftsteller und Landwirt Reinhard Kaiser-Mühlecker kann die Nöte seiner Figuren so anschaulich beschreiben wie kaum jemand in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Empathische Introspektion trifft bei ihm auf metaphorischen Realismus.
Die präzisen Naturbeschreibungen kommen dabei ohne Verklärung aus; charakterliche Defizite und verwerfliche Handlungen werden nicht mit moralinsauren Erklärungen entschuldigt. Insofern sind die Stoffe, die der Schriftsteller in langen Spannungsbögen und mit schwarzem Humor auszubreiten vermag, nichts für zarte Gemüter. Reinhard Kaiser Mühlecker hat mit seiner Romantrilogie um die Bauernfamilie Fischer ein herausragendes Werk vorgelegt.

Aug 13, 2024 • 4min
Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland
Der Philosophieprofessor Oliver Schlaudt unternimmt eine Bildungsreise durch Deutschland: Nicht Kirchen, Museen, reizvollen Landschaften gilt sein Interesse, sondern den Müllbergen und unserem Verhältnis zu dieser Hinterlassenschaft. Müll ist in der Moderne immer komplexer und gefährlicher geworden. Wir haben allzu lange verdrängt, dass Schadstoffe überall zu finden sind, von den entlegensten Regionen der Erde bis zum Ungeborenen im Mutterleib.
Eine Deutschlandreise zu den Müllhalden
Oliver Schlaudt besucht Bitterfeld, das Ruhrgebiet, die Insel Flotzgrün, wo BASF seinen Sondermüll ablud, und Gorleben. Als Physiker beschreibt er die überaus kritische Lage mit naturwissenschaftlich geschultem Blick, als habilitierter Philosoph mit kulturhistorischem Interesse: Der Leser kommt in den Genuss beider Betrachtungsweisen.
Analysiert wird der unvermeidliche Müll, den jeder Organismus mit seinem natürlichen Stoffwechsel produzieren muss. Zum einen
als eine naturhistorische Tatsache (…) als unvermeidliche Folge der Entstehung komplexer Systeme und schließlich des Lebens im All.
Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland
Mit der Herstellung von Feuer aber wird erstmals ein Energiestrom zum Kochen genutzt, ohne dass man ihn selbst körperlich verzehrt.
Mit dem Verbrennungsrückstand ist auch der Müll in der Welt. Schlaudt spricht von einem „unheilbaren Riss“:
Die Moderne ist dreckig – dreckig wie noch keine Zeit zuvor. Dahinter (…) steckt die Entwicklung des „exosomatischen“ Stoffwechsels, also die Auslagerung körperlicher Funktionen in externe Technologien, mit der erstmals in der Natur- und Kulturgeschichte Müll anfällt, der von der Biosphäre nicht mehr resorbiert werden kann.
Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland
Müll als mahnende Altlast
Betrachtet man indes den Müll philosophisch, so ist er in Form und Ausdehnung ein weitgehend unbekanntes Gebiet. Ein Beispiel dafür sind die toxischen Hinterlassenschaften des Chemiekombinats in Bitterfeld. 5000 Chemikalien sind im Boden gelagert, deren untereinander eingegangene Verbindungen unbekannt sind.
Ohne ständiges Abpumpen und Klären des Grundwassers wäre dort in weitem Umkreis kein Leben möglich. Die Schadstoffschleuder Bitterfeld, so schlägt Schlaudt vor, sollte als mahnende Altlast in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen werden.
Was also tun? Stellt sich sowohl als philosophische, wie auch als technische Frage. Paradoxerweise entsteht Müll dort, wo Sauberkeit und Ordnung besonders großgeschrieben werden. Schon nach kurzem Gebrauch im Alltag sortieren wir industriell gefertigte Gegenstände aus, da sie nicht mehr den aseptischen Glanz des Neuen und Perfekten ausstrahlen und übergeben sie dem Müll:
Der industrielle Dreck ermöglicht uns die Illusion von Reinheit, und diese lässt uns umgekehrt jenen übersehen. Hygiene ist die Form, in welcher unser Müllregime sich selbst verhüllt. Diese Einsicht ergänzt die Kritik der Hygiene um eine ganz neue Dimension: Hygiene als Ideologie (...) ohne die die Müllmoderne nicht funktionieren würde, weil der Müll dann als das erschiene, was er ist: ein unhaltbarer Skandal
Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland
Recycling ist nur bedingt eine Lösung.
Ein Buch wie guter Humus, das Privates und Hochtheoretisches mischt
Schlaudt sieht mit dem Künstler Friedensreich Hundertwasser das Prinzip des Humus als metaphorischen Gegenpart zum Recycling. Beim Humus gibt es keine Trennung der Substanzen und keine Vorkehrung für die Zukunft: Jedes neue Leben wächst heran auf dem Humus der alten, abgestorbenen Lebewesen. Was das für die Müllberge bedeuten mag, bleibt offen.
Empfehlenswert ist das Buch vor allem, da es wie guter Humus verschiedene Denkweisen und konkrete Eindrücke vor Ort miteinander vermengt. Es wird analysiert und erzählt, Privates und Hochtheoretisches finden zueinander, das kurzweilige Vorgehen schafft für das bedrückende und gerne verdrängte Thema die notwendige Aufmerksamkeit.

Aug 12, 2024 • 4min
Hiromi Itō – Hundeherz
Es kommt nicht oft vor, dass eine Autorin mitten im Text eine Warnung ausspricht:
Vielleicht sollte ich als Untertitel hinzufügen: Nicht während des Essens lesen!
Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz
Tatsächlich geht es über weite Strecken dieser autobiographischen Erzählung von Hiromi Itō um Fäkalien in diversen Aggregatzuständen. Der nett-niedliche Titel „Hundeherz“ führt in die Irre. Denn vor allem macht sich hier der Hundedarm geltend. Kaum erstaunlich, denn es geht ums Altern und Hinsterben.
Heldin des Buches ist die vormalige 40-Kilo-Schäferhündin Take. Am Ende ist sie – in Menschenjahren gerechnet – eine abgemagerte Hundertjährige, dement und inkontinent und kaum noch fähig zu laufen. Und dennoch ein unverzichtbarer Teil im Rudel der Schriftstellerin.
Dazu gehören weitere Hunde, darunter ein an Epilepsie leidender Papillon, ein bissiger Schuppenpapagei, drei Töchter und der zweite Ehemann, ein erklärter Hundefeind, der hier viel zu erdulden hat.
Von Hunden und Menschen
Wenn Hiromi Itō von Hunden erzählt, erzählt sie zugleich von Menschen. Das hat bisweilen fast etwas Magisches. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Kalifornien, alle paar Wochen macht sie die weite Reise in die japanische Stadt Kumamoto, wo ihr hochbetagter Vater zum Pflegefall geworden ist. Aber sie kann nicht ständig bei ihm sein, wie es ihr Gewissen eigentlich von ihr fordert.
Die unendlich geduldige Fürsorge, die sie der siechen Schäferhündin zukommen lässt, ist nicht nur eine rituelle Kompensation für das Versäumte. Vielmehr scheint es ihr, als würde die Liebe, die sie Take entgegenbringt, irgendwie doch auch dem Vater zugutekommen. Menschlicher und tierischer Pflegefall werden eins:
Mein Vater ist so schwach, dass er mit offenem Mund schläft, wie eine Mumie kurz vor der Vollendung. Take liegt mit schlaffen Gliedmaßen da, wie ein toter Kojote am Straßenrand. (…) Ihre hilflose Haltung, wenn sie gestürzt ist, ihr trauriger Gesichtsausdruck, das alles sieht so sehr nach meinem Vater aus, als sei mein Vater in sie gefahren.
Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz
Die Philosophie der Ausscheidung
Der inkontinente Vater trägt eine Windelhose, beim Hund geht das nicht. Da sich Take überall unwillkürlich entleert und die anderen Hunde sich daraufhin auch keinen Zwang mehr auferlegen, gibt es ständig etwas einzusammeln und aufzuwischen.
Immer unerträglicher wird der Gestank im Haus und der beißende Uringeruch auf der Terrasse. Die Autorin entschuldigt sich für den „total verkoteten Text“, aber so sei das eben, wenn man mit alten Hunden lebe. Auch mit dem Vater ist es ein Dauerthema:
Wenn ich mit meinem Vater telefoniere, sprechen wir meistens über Durchfall und Stuhlgang; manchmal rührt es mich, wie wesentlich die Ausscheidung das menschliche Leben bestimmt. Es fängt mit der Ausscheidung an und endet mit der Ausscheidung.
Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz
Hiromi Itō erscheint die tätige Hilfe bei der Notdurft als größte Probe auf die Liebe zu einem Wesen, ob Mensch oder Hund. Take einschläfern? Das kommt für sie nicht in Frage.
Komik und Elend
Zum Charme des Textes gehören die scherzhaften Einwürfe und die raffinierten Perspektivwechsel von Mensch zu Hund. Gerade weil das Schreiben aus Tier-Sicht heikel ist, bedarf es des Humors, der sich besonders schön im Kapitel „Take ist hetero und sexistisch“ entfaltet.
Erstaunlicherweise richten sich die Gefühle der Hündin für das andere Geschlecht auch auf gut aussehende Menschenmänner, denen gegenüber sie sich in ihren vitalen Jahren kokett und schmeichelnd verhielt.
Das habe ich häufiger erlebt. Ein Ausdruck, der besagte, sie wäre jederzeit bereit, eine Ehe zwischen Mensch und Tier einzugehen, wenn die Männer es nur wünschten.
Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz
„Hundeherz“ ist ein Tierbuch wie kein anderes, ungemein ehrlich und erfahren, voller scharfer Beobachtung und freundlichem Verzeihen; Elend und Ekel mit Komik bändigend. Und es ist mehr als ein Tierbuch: eine tabulose Reflexion über Gebrechlichkeit und Fürsorge.

Aug 11, 2024 • 7min
Renate Müller-Buck – "...zitternd vor bunter Seligkeit". Nietzsche in Venedig
Im Lesenswert Magazin spricht er über die Liebe des Philosophen zur Lagunenstadt und seine komplizierte Beziehung zu Richard Wagner.

Aug 11, 2024 • 5min
Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Frühe Begegnung mit Magda Quandt
Von einem Friedhof stammt das Motto, das dem Buch vorangestellt ist: „Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr“. Etwas Bedrohliches geht von diesen Worten aus und legt sich als Grundstimmung über die ganze Lektüre. Der fiktive Ich-Erzähler Hans Kesselbach entführt uns in die Zeit zwischen 1919 und 1945.
In der Schule freundet er sich mit Hellmut Quandt an, dem Sohn des sehr wohlhabenden und einflussreichen Industriellen Günther Quandt. Bei ihm zu Hause lernt er auch Magda kennen, Hellmuts sehr junge Stiefmutter, die später in zweiter Ehe zu Magda Goebbels wird.
Feine Nuancen von Nora Bossong
Wie sich das gesellschaftliche Klima und mit ihm die Menschen in den 1920er allmählich verändert, das zeichnet Nora Bossong in sehr feinen Nuancen nach.
Von der Uhlandstraße herunter marschierten einige Männer mit Fahnen und im Gleichschritt. Dieses Bild sah man jetzt häufiger, seit das Verbot der SA aufgehoben worden war, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, wie man sich mit Baulärm oder zankenden Nachbarn abfindet. Wenn jemand bereit sei, sein Leben für ein Idee zu opfern, ob man dafür, fragte Magda, nicht doch mehr Achtung empfinden müsse als für jene, die im ewigen Einerlei immer weitermachten wie Zirkustiere, die dressiert im Kreis liefen.(…) Sogar Hellmut sah sie verwundert an, denn ihre Bemerkung passte so gar nicht zu dem, was man in Neubabelsberg zu sagen pflegte.
Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Psychologische Entwicklung verknüpft mit gesellschaftlichen Veränderungen
Wie in ihren früheren Büchern „Webers Protokoll“ und „Schutzzone“ schafft es Nora Bossong, die psychologische Entwicklung ihres Protagonisten mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu verweben.
Hans entdeckt seine homosexuellen Neigungen schon als Jugendlicher. Um der Strafverfolgung nach Paragraph 175 zu entgehen, pflegt er später auch sexuelle Kontakte zu Frauen. Als die Ehe zwischen Günther Quandt und Magda in die Brüche geht, wird er ihr Geliebter:
Magda bat mich, das Licht zu löschen. Im Halbdunkel öffnete ich den Rückenverschluss ihres Kleides, und sie ließ es von ihren Schultern hinuntergleiten. Sie stand in schlichter Unterwäsche vor mir, setzte sich aufs Bett, um die Seidenstrümpfe anzurollen, hielt inne und wartete, bis ich mich entkleidet hatte. (…) Kurz öffnete sie die Lider und erschrak, als sie merkte, dass ich ihr ins Gesicht blickte. Ich habe sie nie wieder derart nackt gesehen, und später, als sie für die Zeitungen posierte, ihre Kinder vorzeigte als Beweis ihrer gewonnenen Kämpfe, dachte ich wieder daran. Sie wollte so unbedingt gesehen werden, und sie hatte so unbedingte Angst davor erkannt zu werden.
Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher
Die Autorin umschifft bei der literarischen Gestaltung der historischen Figuren erfolgreich jede Kitsch- und Cliché-Klippe. Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher und zugleich werden sie zu Blaupausen für Persönlichkeitsentwicklungen, die weit bis in unsere Gegenwart reichen und die mit dem Ende des Nationalsozialismus keinesfalls untergegangen sind.
Stellvertretend dafür steht die Geschichte der Familie Quandt. Ihren Wohlstand hat sie im Ersten Weltkrieg begründet und in den Nazi-Jahren gnadenlos ausgebaut. Und bis heute gehört sie, wie Bossong am Ende schreibt, zu „den reichsten und wirtschaftlich mächtigsten Familien Deutschlands“. Was geschah etwa während der Wirtschaftskrise 1929?
Quandt tat noch einmal, was er im Frühsommer getan hatte, er setzte Menschen vor die Tür. Anders als bei Magda trauerte er ihnen nicht nach, und er zahlte ihnen auch keine Abfindung. Er handelte wie fast jeder Unternehmer in diesem Herbst, und die Stadt war plötzlich überfüllt mit Zeit. Niemand brauchte noch die Minuten und Stunden und Jahre der Arbeiter, sie waren keine Sekunde eines Günther Quandt mehr wert, und die Entlassenen drängten sich vor den Volksküchen oder saßen mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Bordstein und blickten ins Nichts.
Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Der Blick in die Vergangenheit erhellt unsere Gegenwart
Der Berliner Reichskanzlerplatz, der dem Roman den Titel gibt, heißt heute übrigens Theodor-Heuss-Platz und hieß von 1933 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz. Dort lebte Magda Goebbels nach ihrer Scheidung von Quandt und brachte wohlhabende Industrielle mit Hitler in Verbindung.
Den schleichenden Prozess, in dem eine instabile Demokratie, erst allmählich und dann explosiv, auseinanderbricht und dann das daraus erwachsende faschistische Regime eine globale Katastrophe auslöst, schildert Bossong sehr eindringlich. Durch die Folie der Vergangenheit lässt sie uns unsere Gegenwart besser erkennen. Einfach grandios!

Aug 11, 2024 • 7min
Literaturvermittlung mit Playmobilfiguren
Alte Klassiker von Shakespeare und Schiller, aber auch zeitgenössische Werke wie die von Arno Geiger oder Elfriede Jelinek stellt Michael Sommer in seinen Videos mit Playmobilfiguren nach. Mit seinen bereits über 500 Videos auf YouTube hat Sommer eine Marktlücke gefüllt.
Deutsch-Abitur gerettet
Auf spielerische und unterhaltsame Weise macht Michael Sommer größtenteils Studierenden, Schülerinnen und Schülern die Inhalte von Literatur-Klassikern zugänglich. Vor allem vorm Deutsch-Abitur steigen die Abrufzahlen.
Im Lesenswert Gespräch erklärt Michael Sommer, wie er mit seinen Clips für Literatur begeistert.

Aug 11, 2024 • 55min
Twitterpoesie, Nietzsche in Venedig und Weltliteratur to go
Diesmal im lesenswert Magazin: Weltliteratur to go und Nietzsche in Venedig. Mit neuen Gedichten von Clemens J. Setz und neuen Büchern von u.a. Nora Bossong

Aug 11, 2024 • 7min
Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Kritik an Clemens SetzDu postest nur noch HasenbilderVon Löffelohrn und PfotenDu bist wie diese BodybuilderDie sich nur selbst promotenDu schreibst von Ziegen sehr genauDer Rest bleibt unerwähntWo bleibt die Politik du SauWer hat dich so verwöhnt
Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Ein Clemens Setz-kritisches Gedicht von Clemens Setz. Es steht im wirklich beeindruckenden Buch „Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitter-Poesie.“ Achtung: Man muss hier zwischen Poesie und Lyrik unterscheiden.
Es geht nicht immer um Gedichte, es geht darum, dass Dinge eine poetische Wirkung haben, dass sie den Lesenden mit seltsamer Paradoxie überraschen, mit Unstimmigkeiten, über die man nachdenkt – dadurch wird der Kopf frei, selbst zu denken.
Und das ist etwas, was man im Netz gut gebrauchen kann, bei stundenlangem Gedaddel an Handy oder PC. Im Netz ist man schnell verloren, die Erfahrung hat wahrscheinlich jeder schon mal gemacht.
Ein Zappelphilipp im Sinfonieorchester
Die „Bibliothek Suhrkamp“ ist ein spannender Ort für solche Überlegungen, sie ist immerhin Heimat des ehrwürdigen Kanons der literarischen Moderne. Am Ende des Buchs von Clemens Setz findet sich, sozusagen in der Nachbarschaft, noch ein Verzeichnis früherer Bücher, von Kafka, Thomas Brasch, James Joyce und Elke Erb.
Darein reiht sich jetzt das Buch von Clemens Setz wie ein ADHS-kranker Zappelphilipp ins Sinfonieorchester. Kurze Texte, äußerste Geschwindigkeit, Präzision, extreme Leser-Orientierung - Ungeduld liegt über allem, passend zum im Buch erwähnten Motto der Twitterpoetin Carla Kaspari.
Ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre
Die Einsamkeit des Kanarienvogels ist zum Heulen
Clemens Setz liefert mit der kurzen Geschichte der Twitterpoesie eigentlich gleich zwei Bücher – seine eigene Geschichte als Twitter-Autor und die höchst unvollständige Literaturgeschichte der Poesie auf dem Kurznachrichtendienst.
Zunächst geht es um Clemens Setz selbst, und um das, was er von 2015 - 2022 auf Twitter postete. Er, als ordentlicher, auf den Büchner-Preis zusteuernder Schriftsteller mit einem Anrecht auf das Marbacher Literaturarchiv, er speicherte seine Tweets natürlich akkurat ab und kann so jetzt aus den Vollen schöpfen.
IDEE FÜR KINDERBUCH Ein Mann breitet abends ein Tuch über den Vogelkäfig. Nachts kommt er daran vorbei und sieht ein Glühen dahinter. Er hebt das Tuch und sieht: Der Kanarienvogel strampelt auf einem winzigen Fahrrad, das Licht erzeugt, um in der Dunkelheit keine Angst zu haben.
Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Man muss schon poetisch sehr unterbelichtet sein, um keine Bilder im Kopf zu entwickeln und sich Gedanken, um das Schicksal des strampelnden Kanarienvogels zu machen. Die Einsamkeit ist zum Heulen, es ist aber auch ein Akt des Empowerments, der Selbstermächtigung.
Kurz – es ist ein Bild des Menschen, der conditio humana schlechthin, ein geradezu faustisches Bild des Satzes: „Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erlösen“ – und das auf 276 Zeichen komprimiert. Man will gleich noch ein Gedicht – bitte schön.
Da postet Setz ein Bild seines Knies, in dem man mit etwas Phantasie eine seltsam unheimliche, wie von einer Strumpfmaske überzogene, Visage erkennen kann.
Es wohnen neue Wesen in meinem rechten Knie Bei ihrem Anblick sinkt man in Allmelancholie Geschnäbelt wie die Geier wie Venen aufgestaut verharren sie und atmen stumm unter meiner Haut Warum sind sie in mir Warum in meinen Knien? Ich fühle ihre Schnäbel und gehe so durch Wien
Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Dutzende eigene Tweets hat Clemens Setz für den Band zusammengestellt und kommentiert. Die Gedichte verlieren nichts dadurch, im Gegenteil, sie sind ikonisch geworden – und endlich kann man sie lesen, ohne immer das Handy vor dem Gesicht zu haben.
Die Poesie ist auf der Strecke geblieben
Die zweite Geschichte ist die offizielle „twittersche“ Literaturgeschichte. Das ist ein melancholisches Unternehmen für nicht-Twitterer. Elon Musk nämlich hat den zwitschernden Vogel, wie Twitter heißt, bekanntlich angekettet, in eine Galeere gesperrt, damit er nicht nur eine Glühlampe, sondern seine ganze E-Auto-Tesla-Flotte erhelle.
Die Poesie ist dabei gründlich auf der Strecke geblieben, auch Clemens Setz hat aufgehört dort zu schrieben. Jetzt heißt das Ding „X“, und wer immer literarisch etwas auf sich hält, hat sich zurückgezogen. Aber es muss einmal herrliche Zeiten auf Twitter gegeben haben, als DJ Lotti, Computerfan 2001 und Carla Kaspari zum „Sprachwettstreit“ antraten und Twitter mit Kürzesttexten fluteten.
Ich las sie jeden Tag, sogar mehrmals, das heißt, ich las zusammengerechnet weit mehr von ihnen, als ich von meinen herkömmlichen Lieblingsautor:innen in Buchform konsumieren könnte, und zugleich wusste ich praktisch nichts über sie, meist nicht einmal, wie sie heißen oder wie sie aussehen. Ihr Profilbild könnte weiß Gott wen darstellen
Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Davon ist heute nichts mehr übrig – außer ein paar versprengten Dateien auf alten Festplatten bei Setz oder irgendwelchen Sammlern. Twitter selbst hat sie gelöscht, die Reste trägt Clemens Setz hier zusammen – und endet melancholisch mit zwei Bots, die sich gegenseitig in Kochrezepten adressieren, die, weil sie immer nur die Fehler des anderen replizieren und variieren, einsam in die Depression versinken. „Alle zerplaten“, so heißt eine der letzten Nachrichten, für das Z war beim Zerplatzen schon keine Zeit mehr.
Armer Doombot. Ich kann ihn nicht mehr ohne Mitleid lesen. Tapfer ersinnt er Tag für Tag neue Variationen über das Weltende. Und er ahnt dabei nicht, dass sein eigener Verstand nachzulassen beginnt, dass ihm von jenen, die ihn erschaffen haben, die eigene Auflösung mitgegeben wurde
Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Clemens Setz hat mit „Das All im Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“, Literaturgeschichte geschrieben. Wie quasi alles, was er anfängt, baut das Buch Brücken in eine Welt, die alles Digitale immer noch als etwas minderwertig abstempelt.
Mancher glaubt ja mit Kafka, Bücher müssten immer Äxte sein für das gefrorene Meer in uns. Dieses gefrorene Meer aber ist längst in der Klimakrise geschmolzen, meint Setz. Im Fluiden der Poesie von Heute wenigstens einmal schwimmen kann heute, wer dieses kleine, kluge Buch liest.


