

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Sep 4, 2024 • 4min
Ines Geipel – Fabelland | Buchkritik
Was ist das nur für eine Familiengeschichte: beide Großväter waren bei der SS, der Vater spionierte jahrelang „unter acht verschiedenen Namen“ für die DDR-Staatssicherheit im Westen Deutschlands, die Mutter war von vornherein eingeweiht, aber sagte ihren Kindern nichts – und Ines Geipel erfuhr davon erst im Jahr 2003 durch die Akte ihres Vaters, also 14 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.
Welche Nachwirkungen hat eine solche Familiengeschichte? Ines Geipel, die im August 1989 über Ungarn nach Westdeutschland geflohen war, hat die DDR-Diktatur am eigenen Leib erfahren: als Sprinterin war sie in das Drogenprogramm des DDR-Leistungssports eingebunden. Heute ist sie zu einer Schriftstellerin und Hochschullehrerin geworden, die sich aus eigener Erfahrung, aus der Erfahrung mit ihrer Familie, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Diktaturen gezwungen sieht.
Verknüpfung von persönlicher Biographie und zeitdiagnostischem Essay
Aber Bewältigung der NS-Vergangenheit, Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur, so mag manche Leserin und mancher Leser einwenden, hatte Ines Geipel darüber nicht schon vor fünf Jahren in ihrem sehr guten Buch „Umkämpfte Zone“ geschrieben? Was also ist neu in ihrem aktuellen Buch?
Die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden
Mehr als noch vor fünf Jahren wird heute klar: Man kann Glück verspielen, das Glück ist dem Zorn gewichen. Klar ist auch: die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden.
Wie keine andere hat die bundesdeutsche 68er-Generation die politischen Debatten im Land geprägt. Die Intervention der Jungen hatte Wirkung und war ein Katalysator für die Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft. Und im Osten? Dort hatte der korrumpierte Buchenwald-Komplex die Gesellschaft ins gedächtnispolitische Nirwana geschickt.
Quelle: Ines Geipel – Fabelland
Die Opfer des Holocaust kamen in der Legende von den kommunistischen Buchenwald-Kämpfern nicht vor. Der instrumentalisierte, rote Antifaschismus kreiste – schreibt die Autorin - „um die 72 deutschen Kommunisten, die in Buchenwald ums Leben gekommen waren. 72 von insgesamt 56.000“.
Ines Geipel dagegen geht ganz anders vor: Sie berichtet von ihrer eigenen Familie: von Täterfamilien, von einem doppelten Schweigen, das zu einem doppelten Trauma führte.
Anders als der Generation im Westen war es im Osten nicht möglich, sich auf die Siegerseite der Geschichte hinüberzuerzählen.
Quelle: Ines Geipel – Fabelland
Die Schuldverdrängung macht anfällig für die Rechtsradikalen
Seit über 20 Jahren schon, so diagnostiziert Ines Geipel, kommt „etwas Altes“ zurück: „Der Hass, das Nationale, die Identitätsfrage.“ Das „DDR-Schlafdelirium“, das „antifaschistische Entlastungsprogramm“, wie Geipel es nennt, führte zu einem „brachialen Gesellschaftsloch“. Das sogenannte „neue ostdeutsche Selbstbewusstsein“ wurde, so ihre These, von den Rechtsradikalen gekapert.
Die erinnerungspolitische Entlastungserzählung, die versucht, den Westen zum Buhmann zu machen, macht ihrer Ansicht nach deutlich, wie sehr die älteren, diktaturbelasteten Ost-Generationen immer noch zusammenhalten. Am Ende, im Gespräch mit der neuen Generation an der Schauspielschule Ernst Busch, stimmt Geipel – wider Erwarten – hoffnungsvolle Töne an:
Sie wollen es anders machen. Sie wollen auf der Bühne gemeinsam über Sehnsucht nachdenken. Die Sehnsucht nach Aufarbeitung. Das sagen sie wirklich.
Quelle: Ines Geipel – Fabelland
Es ist eine aufregende Reise durch das verminte Gelände der Schuldverdrängung, die die Autorin unternimmt. Auf jeden Fall lesenswert.

Sep 3, 2024 • 4min
Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise
Wer sich in der deutschsprachigen Lyrikszene bewegt, kommt an Anton G. Leitner nicht vorbei. Der Dichter, Übersetzer und Herausgeber wurde 1961 geboren. Seit Beginn der Neunzigerjahre schickt er ausdauernd, schier unermüdlich beinahe lückenlos Jahr um Jahr eine neue Ausgabe der Zeitschrift „Das Gedicht“ auf eine der Umlaufbahnen dieses Kosmos.
Kraft der Poesie gegen die Ökonomisierung der Welt
Die Kraft der Poesie will er stärken, gegen die totale Ökonomisierung der Welt. Auch er, der schier Unermüdliche, ist aber unter den Zeichen der Zeit, unter dem Druck von Krieg und Krisen vor Zweifeln nicht sicher. Im Vorwort zur 31. Ausgabe schreibt er:
In solch finsteren Momenten kommt es mir dann fast verrückt vor, zig Stunden, Tage, Wochen, ja schon etliche Monate lang meine ganze Energie darauf gerichtet zu haben, im 31. Jahr in Folge, unter immer schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und unter dem wachsenden Druck der ausufernden Bürokratie, eine neue GEDICHT-Ausgabe auf die Beine zu stellen. Aber dann werde ich schnell wieder ganz ruhig und entspannt, wenn ich mich hochkonzentriert und mit allen Sinnen hineingebe in die lyrische Welt meiner Mitpoetinnen und Mitpoeten.
Quelle: Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise
Klares und deutliches Bekenntnis zur Poesie
Mag Leitner auch manchmal zweifeln, seine Arbeit ist ein klares und deutliches Bekenntnis zur Poesie, und sie ist im wahrsten Sinn des Wortes Arbeit an der Basis der Lyrik. Immer enthält sie einen Schwerpunkt mit Gedichten für Kinder, immer ist sie offen für Einreichungen, die dann zwar kuratiert, aber stets mit viel Wohlwollen angeschaut werden.
Um die 1000 Einreichungen waren es für die vorliegende Ausgabe von „Das Gedicht“. Neben flüchtigen und manchmal etwas banaleren Versen finden sich in jeder Ausgabe auch immer poetische Perlen:
die Stille dort wie der Wind im Glas/ob es damit zusammenhängt, weiß ich nicht/im Zimmer meiner Mutter gibt es ein Sofa/auf dem seit fünfzig Jahren nur eine Puppe sitzt/ehe ich jedenfalls zu Ende abwäge/ob die Stille dort wie der Wind im Glas oder/doch eher wie eine Gegenwartsschleppe ist/verschwindet der laut dröhnende/Mittagsflieger über mir und/Nimmt seinen ganzen Schall mit […]
Quelle: Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise
Die Verse aus diesem eindrucksvollen Gedicht des 1962 geborenen, noch viel zu wenig bekannten Heinz Peter Geißler herauszugreifen, mag angesichts der Breite dieser 31. Ausgabe von „Das Gedicht“ zwar ungerecht erscheinen.
Ohne Basis keine Spitze
Andererseits beweisen diese Verse eben, was Leitner in seinem Vorwort schreibt: „Ohne Basis keine Spitze“. Man muss vergleichen, um die Unterschiede zu erkennen. Und es braucht die Geduld von geschulten Lesern von Gedichten, die in manchen weniger gelungenen Texten doch vielleicht schon die Anlagen eines Autors oder einer Autorin ausmachen. Es braucht die Erfahrung eines Lyrikviellesers wie Leitner aber eben auch, um die Qualität von Versen wie die Geißlers zu erkennen.
Und es braucht auch besonders die feste Rubrik mit den Kindergedichten, die in dieser Ausgabe „remmi demmi“ heißt. Die Kindergedichte setzen ganz auf die spielerische, rhythmische und frei bewegliche Seite der Sprache, die durch Verse eine so lebendige und gedankenvolle Stille nachhallen lassen kann, wie durch dieses witzige Gedicht von Heike Nieder:
Endlich still/ich ess so gern ein Ei,/Das ist mein großes Glück/So beiß ich vom GESCHREI/Grad ab das letzte Stück. Hab ich mein Ei zerkaut/Klau ich noch R und GE/Dann bleibt als letzter Laut/Ein leises SCHschsch... wie Schnee.
Man wünscht Anton G. Leitners Projekt alles Gute und weiterhin Zähigkeit und Leidenschaft.

Sep 2, 2024 • 4min
Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst!
Achim Bubenzer, Jahrgang 1949, appelliert mit seinem Buch an die Verantwortung seiner Generation. Im Hinblick auf die existenziell bedrohliche Klimakrise teilt er sie in verschiedene Kategorien ein: Leugner, Relativierer, Engagierte und Resignierte. Erkenntnisse im Umgang mit diesen Typen – und das macht sein Buch unterhaltsam – zieht er dabei häufig aus seinen Alltagsbegegnungen.
Mein berufliches Engagement für die Themen Solarenergie und Nachhaltigkeit ließ bei mir gar nicht erst den Gedanken aufkommen, die Menschheit könnte den Wettlauf gegen die Erderhitzung verlieren. Bis mich auf einer Strategietagung bei einer hitzigen Debatte über Klimaschutz einer meiner engsten Kollegen abends beim Bier mitleidig ansah und meinte: „Du bist doch verrückt. Sei mal realistisch: Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten. Genieß Dein Leben und gib Ruh!“
Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst!
Relativierung statt Klimaleugnung
Es sollte nicht der einzige Bekannte bleiben, der so sein Buchprojekt mit inspirierte. Auch wenn sich Achim Bubenzer noch auf einigen Seiten an Klimaleugnern abarbeitet, gesteht er: Klimaleugner haben heute wegen der wissenschaftlichen Sachlage einen schweren Stand.
Vielmehr nehme die Anzahl der Resignierten und Relativierer zu, die meinen: Ja, es gibt die Klimakrise. Aber wir müssen pragmatisch bleiben, und deswegen können wir notwendige Maßnahmen zum Klimaschutz nicht im nötigen Umfang umsetzen. Eine Haltung, die auch für viele Politiker und Konzernlenker gelte, meint Bubenzer.
Dieses Handlungsmuster des Wegschauens und Augenverschließens ist natürlich zutiefst menschlich und sogar verständlich. Es entspricht den ersten Reaktionen auf eine schlimme Nachricht, die uns überfordert, sei es eine lebensbedrohliche medizinische Diagnose, [..] die Aussicht auf einen ruinösen Rechtsstreit oder eben die Prognose der Klimawissenschaften.
Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst!
Mit gut nachvollziehbaren Zusammenfassungen und Vergleichen appelliert Bubenzer an das Verständnis seiner Leserinnen und Leser, vergleicht die Atmosphäre mit einer Allmende, deren Nutzung ebenso wie zum Beispiel die des Wassers gemeinsamer Regeln bedürfe. Und Eile sei geboten.
Es besteht die konkrete und akute Gefahr, dass in 50 bis 100 Jahren weite Teile unserer Erde nicht mehr bewohnbar und Millionen von Menschen auf der Flucht vor Hitze, Überflutung, Hunger und Krieg sein werden.
Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst!
Weder Atomenergie noch CO²-Speicherung
Bubenzer benennt auch, was unumgänglich ist: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Atomenergie als Ersatz lehnt er gut begründet und kenntnisreich ab. Mit Solar, Wind und Investitionen in die Entwicklung von Energiespeichern hingegen könnte eine Versorgungssicherheit hergestellt werden, die der heutigen um nichts nachsteht.
Um das Ziel zu erreichen, setzt Bubenzer auf staatlich regulierte Marktmechanismen und den Gang durch die rechtlichen Instanzen. Aktionen von Gruppen wie der Letzen Generation hält er für verständlich, aber kontraproduktiv, weil sie die Gräben zwischen Aktivisten und konservativen Kreisen vertieften. Dennoch ist er wie die Letzte Generation auch davon überzeugt, dass Kompromisse nicht zum Ziel führen werden.
Mit dem Klima [..] kann man keine Deals aushandeln. Die Natur ist der Boss. Und der ist völlig leidenschaftslos, weder gut noch böse. Aber: er ist fair und berechenbar. Denn er hat seine Regeln, die Naturgesetze, ihre Zusammenhänge und komplexen Wechselwirkungen, unseren Naturwissenschaftlern zur Erforschung offengelegt.
Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst!
Achim Bubenzer setzt auf einen grünen Kapitalismus im Kampf gegen die Klimakrise. Andere bedeutende Ansätze der internationalen Debatte, die den kapitalistischen Markt und seinen Wachstumszwang als Grundproblem betrachten, spielen bei seinen strategischen Erwägungen keine Rolle.
Und, anders als es der Titel nahelegt, enthält sein Buch überhaupt keine Dialoge mit der Enkelgeneration. Achim Bubenzer hat das Buch offensichtlich für ein konservativ eingestelltes, älteres Lesepublikum geschrieben, dem es sicher einige Denkanstöße geben kann.

Sep 1, 2024 • 6min
Katja Oskamp – Die vorletzte Frau
Dem passionierten Leser begegnen ja ständig Menschen, die sagen, sie kämen in ihrem Leben gar nicht zum Lesen. Aber dieses Leben sei ja eh so spannend und voller Abenteuer, dass man es auch als Roman bezeichnen könnte, den sie mit Leichtigkeit schreiben könnten, wozu sie jedoch nicht kämen.
Das stimmt natürlich überhaupt nicht, denn erst einmal muss jemand in der Lage sein, aus so einer Lebensmasse einen Roman zu schnitzen oder eine Schneise durch diesen Lebensdschungel zu schlagen, eine Perspektive zu finden, hinzuweisen, auf erzählenswerte Details am Wegrand.
Und genau darin ist die ostdeutsche Schriftstellerin Katja Oskamp eine echte Meisterin. In ihrem neuen Buch „Die vorletzte Frau“ schlägt sie eine beeindruckende Schneise durchs eigene Leben, und ein bisschen ist es die berühmte Schneise der Verwüstung.
Die Erzählung einer Dichterliebe
Katja Oskamp erzählt von einer Dichterliebe. Eine ostdeutsche Frau verliebt sich im Studium in den 19 Jahre älteren Dozenten, einen berühmten Schweizer Schriftsteller mit einem Hang zur Hochliteratur wie zu den besseren Kreisen.
Er ist unglücklich mit einer hysterischen Schauspielerin liiert, sie hat ein Kind mit einem Generalmusikdirektor, der zur Selbstinszenierung neigt – die Szene, in der er auf einem Arm das gemeinsame Kind und in der anderen eine flammenschlagende Pfanne hält, ist ikonisch.
Und auch der Beginn der Liebe zum Schriftsteller ist, sagen wir mal, recht drastisch:
Als wir die Kneipe verließen, griff ich Tosch zwischen die Beine. Das war neu. Tosch legte mich vor dem Joseph Pub mit Krawumm auf die Motorhaube eines parkenden Autos.
Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau
Robert Musils aphrodisierende Wirkung
Katja Oskamp schreibt flüssig, sehr leicht, mit einem sicheren Gespür für Komik, Drastik, Peinlichkeit und Spannung. Die literaturhistorische Institution Robert Musil, ja genau, der vom „Mann ohne Eigenschaften“, hat selten in seiner Wirkungsgeschichte aphrodisierende Wirkung gezeigt– aber zwischen der Heldin und Tosch funkt es ausgerechnet über die Erzählung „Tonka“.
Sie schneidet eine Kopie der Geschichte zu Papierschnipseln, wirft sie auf den Boden und fischt daraus Schnipsel, um sie zu einer neuen Erzählung zu kompilieren. Sie bückt sich, er sieht ihren Hintern, als er ihr das sagt, erwidert sie: Du verarschst mich.
Und damit sind wir beim zentralen Thema: Die Heldin schreibt, nach einem Gespräch mit der Psychotherapeutin:
Ich war gern unten. Dr. T tippte das Thema an; verstanden habe ich es erst mit Tosch.
Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau
Ein Buch ganz nah an Oskamps Leben
Die Unterwerfung der Frau, teils gewollt, teils sozialisiert, ist eins der großen Themen im Buch. Sie rutscht vor den Männern herum, bückt sich, will die untere Hälfte vom Brötchen, saugt lieber den Boden, als den Staub von der Lampe zu wischen. Dem Mann dagegen, Tosch
bereitete es Freude ganz oben mitzuspielen. … Der Sohn eines Politikers kannte sich aus mit den ungeschriebenen Gesetzen der höheren Kreise.
Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau
„Die vorletzte Frau“ wirkt beeindruckend ungestelzt und würde als reine Geschichte einer Mesalliance gut funktionieren, aber es gibt noch eine weitere Ebene. Denn gleichzeitig ist das Buch ja nun mal nah am Leben Katja Oskamps.
Der Held, der Tosch genannt wird, ähnelt schon sehr Thomas Hürlimann, dem Schweizer Großschriftsteller, der z. B. durch „Fräulein Stark“ bekannt wurde und von dem man weiß, dass er sehr lange mit Katja Oskamp zusammen war. Das Buch erzählt von seiner schweren, mehrfach lebensgefährlichen Krebserkrankung.
Biografie, Erzählung oder Autofiktion?
Die Erzählung schmiegt sich so eng an die bekannten Fakten ihrer Biografie, dass man beim Rezensieren immer wieder zögert, ob man hier ein Buch oder ein Leben bespricht.
Aber das ist natürlich Unsinn. Zu besprechen gibt es nur das Buch. Das destilliert aus dem ganzen Leben eine Geschichte der Liebe, aber auch eine der Krankheit und der fortgesetzten Kränkungen. Das Lesen wird manchmal geradezu zur Zumutung: Will man wirklich wissen, was bei einer Prostata-Erkrankung im Bett passiert – und an welcher Stelle der Werkbiographie ein Blasenverschluss steht?
Es ist ein wenig so, wie in einer Backstage-Geschichte aus dem Theater: Vorne läuft die Geschichte, ihre Erzähler aber führen ein von dieser Geschichte getrenntes, in diesem Fall, schwieriges Leben. Die Krankheit tobt, die Heldin wird zur Pflegerin, das oben und unten gilt weiterhin, sie opfert sich, er kämpft heroisch ums Leben.
Eine Beziehung zwischen Oben und Unten, Ost und West
In dieser Phase fängt sie, zunächst auch aus wirtschaftlichen Gründen und wegen einer Schreibblockade, an, als Fußpflegerin zu arbeiten. Die Geschichten, die sie hört, schreibt sie natürlich auf. Es sind viele, während sie die Füße ihrer Klienten mitten im Plattenbau-Ghetto Marzahn pflegte, daraus wird eine Zeitungskolumne, danach ein veritabler Bestseller: „Marzahn, mon amour“.
Aber da ist die Beziehung zwischen Oben und Unten, zwischen Ost und West, der Oskamp-Figur und der Hürlimann-Figur, kurz zwischen Mann und Frau nach 12 Jahren endlich zu Ende und man erfährt, warum der Roman „Die vorletzte Frau“ heißt.
Später, wenn man dieses Buch gelesen hat und anschließend über Katja Oskamps Bestseller stolpert, werden diese Bücher einen Hauch dunkler. Die Erzählung von der Literatenmesalliance verändert die Erinnerung an ihre Bücher, wenn man sie gelesen hat.
Manches bleibt sehr lange im Kopf
So, und damit kommt noch eine Ebene dazu: Es ist halt auch, muss man in diesen in Ost-West-Dingen aufgeladenen Zeiten noch einmal sagen, so, dass die Erzählung von Oben und Unten auch eine von Ost und West ist, von westlicher Arroganz und östlicher Selbstverkleinerung.
Und auf einmal blitzt die Idee auf, dass der Osten evtl. in seinen Ego-Problemen etwas geradezu Weibliches hat, der Westen dagegen hier als untergehendes, altes weißes Männersystem geschildert wird, die kapitalistischen Krisen also solche des Unterleibs sind, aber da gerät das Buch in eine wohl besser literaturwissenschaftlich weiterzuverfolgende Sphäre.
Es sind 200 Seiten, über die man auch länger nachdenken könnte – Autofiktion und hochliterarische Verdichtung des gegenwärtigen Deutschlands – beides steckt in Katja Oskamps neuem Buch. Und auch noch ein gutes Stück Liebeskomödie. Man liest es gerne, und manches bleibt sehr lange im Kopf.

Sep 1, 2024 • 6min
Joan Didion – Demokratie
Es ist eine Szene, die sich ins Gedächtnis einbrennt:
„Da spricht ein Waffenhändler und erzählt seiner Geliebten von ganz romantischen Inseln im Pazifik und er beschreibt so ein Bild vom rosa Himmel und Sonnenaufgängen und nach ein paar Zeilen begreift man, dass er eigentlich Atolle beschreibt, auf denen Atomtests stattfanden."
So beginnt Didions „Demokratie“. Die Anfangsszene, die die Übersetzerin Antje Rávik Strubel hier beschreibt, ist dabei emblematisch für den ganzen Roman: Hinter dem, was oberflächlich glatt und schön scheint, verbergen sich dunkle Realitäten und moralische Abgründe, gesellschaftlich und – ganz besonders – politisch.
„Demokratie“: Darum geht es im Roman
Antje Rávik Strubel übersetzte schon viele Joan Didion Werke ins Deutsche, zum Roman „Demokratie“ hat die Übersetzerin, Autorin und Deutsche Buchpreisträgerin, ein ganz besonders Verhältnis: „Demokratie war der Roman, mit dem ich Joan Didion eigentlich entdeckt hab.“
Besonders auch die Form: Es ist kein klassischer „von vorne nach hinten“ erzählter Roman: „Es ist eigentlich die Recherche einer Journalistin und im Mittelpunkt dieser Recherche steht Inez Victor, die Frau eines Senators, der dann auch für die Präsidentschaft in den USA kandidiert. Diese Recherche ist aber natürlich eine fiktive Recherche, also Joan Didion ist die Erzählerin, die Journalistin, die den Fall quasi recherchiert, und es geht um Inez Victor und ihre Beziehung zu Jack Lovett, dem Waffenhändler, also sie hat eine Affäre mit ihm, die dauert, aber schon seit sie 17 Jahre alt ist.“
Eigentlich sind es intensive Figurenporträts, über die mir etwas über die amerikanische Gesellschaft erzählt wird.
Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie
Der Roman erzählt von Familientragödien, Drogen, Skandale, sogar Mord. All das entspinnt sich vor einem hochpolitischen Hintergrund. Inez Victor ist der Angelpunkt des Geschehens, die Gattin des Präsidentschaftskandidaten. Es ist 1975. „Demokratie“ spielt vor der Kulisse des endenden Vietnamkriegs, auf Hawaii, in New York, in Jakarta.
Opulenter Titel und Kampfbegriff
„Demokratie“ – was für ein opulenter Titel für einen Roman! Mit Blick auf den laufenden US-Wahlkampf ist dieses große Wort ein Schlüssel- ja vielleicht sogar – ein Kampfbegriff? 1984 erschien Didions Roman erstmals, nun in Neuübersetzung, im Ullstein Verlag. Sehr passend zum Zeitgeschehen, findet Strubel.
„Der Titel „Demokratie“ ist ja auch ironisch letztendlich gemeint. Sie beschreibt ja eine Gesellschaft, sie beschreibt die Schattenräume der amerikanischen Politik, wenn man so will.
Diese Machenschaften, die im Hintergrund abliefen zum Ende des Vietnamkriegs, die durch diesen Waffenhändler deutlich werden. Man sieht einen ganz desillusionierten Standpunkt und sie blickt nicht besonders optimistisch auf diese Gesellschaftsform.
Gleichzeitig, aber das ist bei Didion auch immer der Fall, sagt sie, dass es eine Verpflichtung gibt über diese Schwachstellen und Schattenräume unbedingt zu reden, wenn man denn in einer Demokratie leben will und daran erinnert auch dieser Roman wieder.
Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie
Gekonnte Neuübersetzung von Antje Rávik Strubel
Didions sehr präzise Sprache, die Reduktion und den Rhythmus übertrug Strubel gekonnt ins Deutsche. Das sei nicht ganz einfach, meint die Übersetzerin, ohne, dass es eckig oder holprig wirke.
„Das ist das eine, das andere ist, dass Didion ihre Figuren hauptsächlich dadurch charakterisiert, wie sie sprechen“, meint Strubel. „Also eins der wesentlichen Gegenstände von Didion ist die Sprache und die Frage, wie wir sprechen. Ihre Dialoge sind so gestaltet, dass man im Sprechen der Figuren den Kern der Figuren versteht.“
Besondere Bedeutung im US-Wahlkampf
Die Sprache: Sie ist Didions und Strubels Arbeitswerkzeug. Und Didions Überlegungen zur Sprache sind es, die mit Blick auf den US-Wahlkampf zwischen Trump und Harris nochmal besonders an Bedeutung gewinnen. Denn die politische Rhetorik und ihre Verrohung war ein Thema, das Didion schon zu Lebzeiten thematisierte.
So Strubel: „Sie war eine der ersten, die diese Verrohung der politischen Sprache, eigentlich auch mit Newt Gingrich, beobachtet hat und vor der zunehmenden Popularisierung in den 80ern schon gewarnt hat.“
„Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen“
Wie die 2021 in New York verstorbene Didion den aktuellen Wahlkampf und die politische Lage in den USA wohl gerade bewertet hätte? Darauf gibt es keine klare Antwort – ganz Didion-typisch.
In ihrem Vorwort zum Roman schreibt Strubel, Didion zu lesen bedeute, sich einer Sache nicht mehr so sicher zu sein. Sie war eine Autorin mit skeptischem Blick. Didions Texte geben keine klaren Antworten, sondern stellen die richtigen Fragen, sagt ihre Übersetzerin:
„Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen, für etwas, das sie beobachtet, und das dann in Frage zu stellen. Also an sich ein Gefühl zu bemerken, was sie dann ins Gesellschaftliche hinein überträgt und das dann in Frage zu stellen. Und ich glaube, sie war grundsätzlich ein total desillusionierter Mensch, aber sie hat gesagt, es gibt sowieso keinen Fortschritt in dem Sinne, dass irgendwann alles viel besser ist. Aber gerade aus dieser Sicht hat sie eben diese Verpflichtung abgeleitet, sich das eigene Denken anzugucken und auch die eigenen Vorurteile und alles was damit zusammenhängt anzugucken. Also ganz krass:
Sie hat gesagt, jede Gesellschaft ist fehlerhaft, jede Form von Gesellschaft, weil das Herz der Finsternis den Menschen im Blut liegt. Also, alles, was Menschen tun, dort gibt es immer Fehler und deswegen müssen wir sie genau angucken.
Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie
Eine Botschaft von ungebrochener Relevanz
Didion fordert ihre Leser und Leserinnen auf, kritisch zu bleiben und sich nicht mit den einfachen Antworten zufrieden zu geben. Oder wie Antje Rávik Strubel in ihrem Vorwort schreibt: „Didion geht nicht davon aus, dass etwas ist, wie es scheint.“
Es ist eine Botschaft von ungebrochener Relevanz. „Demokratie“ erinnert daran, sich mit den unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen – eine Aufgabe die 40 Jahre nach Ersterscheinen des Romans, genauso ungebrochen wichtig bleibt - damals wie heute.

Sep 1, 2024 • 6min
Roman Ehrlich – Videotime
Es beginnt auf einem Parkplatz vor einer Blechbaracke, in der einst die Träume des Ich-Erzählers von Roman Ehrlichs neuem Roman gelagert waren: „Videotime“, so hieß die Videothek in der bayerischen Kleinstadt, in der der Erzähler aufgewachsen ist.
Dorthin fuhr der Vater in den 1990er-Jahren mit seinen Kindern regelmäßig, um Videokassetten auszuleihen. Mit einem für damalige Verhältnisse großen technischen Aufwand kopierte der Vater die Filme auf Leerkassetten und baute sich im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem die Familie lebte, ein illegales Raubkopienarchiv auf, gesichert durch ein Zahlenschloss, dessen Kombination der Erzähler und sein älterer Bruder selbstverständlich herausgefunden hatten.
Parallel zu den Filmen legte der Vater dicke Ordner mit Klarsichthüllen darin an, in denen er schreibmaschinengetippte Beschreibungen der Filme und dazu passende Zeitungsausschnitte sammelte.
Ein geheimes Raubkopienarchiv
Willkommen im prädigitalen Zeitalter, in dem die Videothek mit ihren neonbeleuchteten Gängen als Ort ebenso eine Aura entwickelte wie die Filme selbst in ihrer nicht selbstverständlichen Dauerverfügbarkeit. Roman Ehrlich beschreibt die Bedeutung, die das Medium Video für seinen jungen Erzähler hat, folgendermaßen:
Jede neue Kassette aus der Videothek ist für den Jungen eine Versprechung, dass da noch viel mehr ist auf der weiten Welt als die eine Wirklichkeit, die ihn umgibt. Und dann geht von diesem aufregenden Leben aus dem Filmen auch noch der Reiz des Verbotenen aus. Er schaut ja vor allem Filme, die nicht für sein Alter freigegeben sind, und meint, dass man als einer, der die Prüfung dieses Schauens besteht, mit einer besonderen Macht ausgestattet und dem Leben in der Kleinstadt begegnen kann.
Quelle: Roman Ehrlich
Ein brillanter und überraschender Roman
„Videotime“ ist ein brillanter, überraschender und vor allem unter der Oberfläche einer bundesdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend höchst unheimlicher Roman. Das Buch hat drei Erzählebenen: In der Gegenwart kehrt der erwachsene Ich-Erzähler in seine Heimatstadt zurück, um nach seinem kranken Vater zu sehen, der die Mutter fortgeschickt hat und eine prekäre Außenseiterexistenz führt.
Der erwachsene Mann streift durch die Straßen, und jeder Ort, den er passiert – ein Spielplatz, ein Wohnblock, eine Turnhalle oder eben auch der nun leerstehende „Videotime“-Blechcontainer – lösen bei ihm Erinnerungsschübe aus. Zudem scheint es, als würde sich sein Bewusstsein im Lauf des sehr heißen Tages nach und nach trüben.
Die dritte Erzählebene ist die präzise und auch ausführliche Beschreibung von Filmen, die der Junge einst gesehen hat. Heimlich zumeist, mit Freunden oder auch mit seinem älteren Bruder.
Die Bandbreite reicht von „Die Unendliche Geschichte“ über „Total Recall“ bis hin zu „The Devil in Miss Jones“, einem 1973 gedrehten Arthouse-Porno, der heute ikonisch ist.
Das Staunenswerte an diesem Buch ist die Raffinesse, mit der Roman Ehrlich diese drei Ebenen schlüssig und bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschwimmen lässt; so lange, bis das eigentlich unscheinbare Setting eines Aufwachsens in der klassischen bundesrepublikanischen Vater-Mutter-zwei Kinder-Sicherheit in ein diffuses Licht des Dämonischen getaucht ist.
Endloses Tennistraining
Zu dieser Dämonie des Alltags tragen der Vater, ein Kind der Kriegsgeneration, und sein Gebaren in der Familie wesentlich bei: Als Ausbilder bei der Bundeswehr ist er unehrenhaft entlassen worden; nun arbeitet er als Aufseher im Gefängnis.
Seinen älteren Sohn drillt er in endlosen Tennis-Trainingseinheiten so lange, bis er sich verletzt. Seine übergewichtige Frau demütigt er gewohnheitsmäßig; seinen jüngsten Sohn, den übergewichtigen und unsportlichen Ich-Erzähler, straft er mit Missachtung.
Seine Wertmaßstäbe sind unverrückbar; seine Härte ist undurchdringlich. Roman Ehrlich sagt über die Figur des Vaters:
„Diese Unbarmherzigkeit ist ein Erbe der vorangegangenen Vätergeneration. Im Buch wird es auch an einer Stelle explizit gemacht, dass der Vater sozusagen in direkter Linie von der Gewalt abstammt. Er hat eben keinen anderen Zugang als den Militärischen, selbst zu seiner eigenen Familie. Dem Erzähler dämmert irgendwann, dass all die Filme aus der Bibliothek sehr gut zu diesem Zugang gepasst haben; also, dass sie vor allem für Jungs und Männer gemacht waren und dass in ihnen auch ständig ein patriarchales Kräfte- und Machtverhältnis mit aller Gewalt aufrecht erhalten wird."
Ein Roman voller Geheimfächer
Es gibt großartige Szenen in „Videotime“, die man so tatsächlich noch nicht gelesen haben dürfte. Nur ein Beispiel: Als der Ich-Erzähler sein Schulpraktikum bei einem Fernsehtechniker – wo sonst? – absolviert, besteht seine erste Aufgabe darin, eine riesige Menge an Fernbedienungen aufzuschrauben und mit Methylalkohol und Wattestäbchen von dem Schmutz zu befreien, der die Geräte funktionsunfähig gemacht hat: Popel, Nikotin, Hundespeichel, Pfefferminzlikör.
Dieser Roman ist voll von Geheimfächern, verschlossenen Räumen und glatten Oberflächen, unter denen das Unappetitliche lauert. Zugleich ist „Videotime“ auch der Abgesang auf ein Medium, die Hommage an die Gestaltungsmacht kindlicher Fantasie und eine Reflexion über den Entstehungsprozess von Erinnerungen. Roman Ehrlich sagt darüber:
Im Kern des Buches steht die Erkenntnis, dass wir Fiktionen erschaffen, wenn wir uns erinnern, und dass Erinnern deshalb immer auch eine Frage des Glaubens an die fantastischen Gestalten und Ereignisse dieser Fiktion ist.
Quelle: Roman Ehrlich
„Videotime“ gehört zu den Höhepunkten der deutschsprachigen Literatur der vergangenen Jahre. Ein Roman, der auf vielen Ebenen zeigt, welchen Einfluss Prägungen unterschiedlicher Art durch die Jahrzehnte hindurch auf Menschen haben.
Ein indirektes und dennoch scharf gezeichnetes Epochenbild. Und ein Buch, das die Kunst und ihre Wirkmacht ernstnimmt. Im Klappentext steht zu lesen, dass die Familie des Autors nicht mit den Figuren im Roman verwandt sei. Das ist eine beruhigende Nachricht.

Sep 1, 2024 • 55min
Alte Wunden und neue Erkenntnisse: Bücher, die aus der Vergangenheit lernen. Neue Bücher von Tommy Orange, Katja Oskamp und Roman Ehrlich
Diesmal im „lesenswert Magazin“: Literarische Reisen in die USA zum Ende des Vietnamkrieges und zu indigenen Stämmen, in eine bayerische Videothek in den 90ern und mit Gesprächen zu jüdischen Erzählungen und 100 Jahre Büchergilde Gutenberg.

Sep 1, 2024 • 18min
Dana von Suffrin (Hg.) – Wir schon wieder. 16 jüdische Erzählungen
Alle 16 Autoren und Autorinnen sind sie jüdisch sozialisiert. Mit dabei sind unter anderem Elfriede Jelinek, Dana Vowinckel, Eva Menasse und Maxim Biller.
Einer der Schreibenden ist Journalist und Autor Dmitrij Kapitelman. In seinen Romanen „Eine Formalie in Kiew“ oder „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ setzt er sich mit seiner jüdisch-ukrainisch-ostdeutschen Herkunft auseinander. In der Anthologie „Wir schon wieder“ schreibt er über 13 tote Nachbarinnen, denen er sich langsam angenähert hat.
13 tote Nachbarinnen im Berliner Scheunenviertel
In seinem Text begegnet Kapitelman dem Mahnmal mit einem Witz. Symbolisch als eine jüdische Überlebensstrategie, meint der Autor im Gespräch. Außerdem spricht der Schriftsteller mit Kristine Harthauer über den Krieg in Israel und Gaza, über Dana von Suffrins Text im Band, Kaffeesahne, die Aiwanger-Affäre, Ostdeutschland, die Ukraine und sein nächstes Buch, das im Februar erscheint.

Sep 1, 2024 • 16min
100 Jahre Büchergilde Gutenberg – „Vorwärts mit heiteren Augen“
Das Markenzeichen: Leinenbindung und Illustrationen
Er schaue mit großer Ehrfurcht auf das Jubiläum, sagt der Büchergilde-Geschäftsführer Alexander Elspas. Dass es sie so lange gibt, hätten sie sicher auch einem Quäntchen Glück zu verdanken.
Aber auch ihrer Leidenschaft für schöne Bücher: „Die Buchdrucker hatten von Anfang an ein Auge für schöne Bücher.“ Das erste Buch, das bei der Büchergilde erschien, ist der Erzählband „Mit heiteren Augen“ von Mark Twain.
Im Vorwort beschreibt darin Cheflektor Ernst Preczang die Idee hinter der Buchgemeinschaft: „Bücher geben, die Freude machen, Bücher voll guten Geistes und von schöner Gestalt.“
Das Ziel: Bildungsferne Leser:innen erreichen
Schöne Form und schöner Inhalt – das klingt bildungsbürgerlich. Dabei wollte die Büchergilde damals vor allem die sogenannte Arbeiterschaft erreichen, „die sich durch die Büchergilde diese schönen Bücher auch leisten konnten.
Mit dem Ziel, Bildung in Schichten zu tragen, wo sie damals vielleicht nicht ganz so selbstverständlich angesiedelt war“, sagt Elspas.
Kein Mitgliedsbeitrag
Die Mitgliedschaft gestaltet sich dabei so: Es gibt keinen Mitgliedsbeitrag, sondern die Pflicht, sich in jedem Quartal aus etwa 20 bis 25 ausgewählten Büchern einen Titel auszusuchen. Sollte man nicht fündig werden, wird ein Vorschlagstitel zugesendet.
Dieses Modell hält sich seit hundert Jahren und hatte früher sogar einen speziellen Lieferservice, erinnert sich Alexander Elspas: „Das war historisch tatsächlich so, dass die Büchergilde Leute hatte, die teilweise mit dem Fahrrad in die Betriebe gefahren sind, um den Menschen am Arbeitsplatz ihr Quartalsbuch vorbeizubringen.“
Genau das, vier Bücher im Jahr zu bestellen, sei bis heute ein großer Anreiz, Mitglied der Büchergilde Gutenberg zu werden, sagt Elspas.
Lesenachwuchs präsentiert Bücher auf Social Media
Dabei sei die Mitgliederzahl mit rund 60.000 Mitgliedern sehr stabil, freut sich der Geschäftsführer. In Zukunft wolle man mit Kinder- und Jugendbüchern und englischsprachigen Titeln den Fokus vermehrt auf ein jüngeres Publikum setzen.
Dabei kommt eines der Büchergilde zugute: Ihre aufwendig gestalteten Bücher, die junge Leser:innen auf Social Media gern vor der Kamera präsentieren.
Zahlreiche Jubiläumsveranstaltungen
Zum Jubiläum zeigt das Museum für Druckkunst in Leipzig eine Ausstellung. Zudem gibt es zahlreiche Feste und Veranstaltungen in den Partner-Buchhandlungen wie zum Beispiel in der Buchhandlung „Erlesenes und Büchergilde“ in Mainz. Außerdem erscheint eine Festschrift mit dem Titel „Vorwärts mit heiteren Augen“.

Sep 1, 2024 • 6min
Tommy Orange – Verlorene Sterne
Unser Wissen über Native Americans in den USA wird oft überlagert von Klischees aus Karl-May-Romanen, US-Western und Winnetou-Filmen der 1960er Jahre. Wir haben ein nostalgisches Bild der Indianer: Sie lebten ein nachhaltiges, naturnahes Leben in weiten Landschaften.
Aber das sind romantisierte Bilder aus der Vergangenheit. Der amerikanische Autor Tommy Orange, Mitglied des Cheyenne und Arapaho Tribe, führt uns in seinem zweiten Roman „Verlorene Sterne“ in eine ganz andere Welt ein.
Eine Welt jenseits romantischer Klischées
„Verlorene Sterne“ erzählt die Vorgeschichte zu seinem ersten Roman „Dort, dort“ und ist zugleich die Fortsetzung. Der Autor entwirft über sieben Generationen hinweg eine Familiengeschichte, die durch Erfahrungen von Unterdrückung, Landraub und Sucht geprägt ist.
Dieser Erzählung stellt der Autor einen Prolog voran, der den schockierenden politischen Slogan zur Lösung des sogenannten „Indianerproblems“ auf den Punkt bringt: „Den Indianer töten, um den Menschen zu retten.“
Historischer Ausgangspunkt: das Massaker von Sand Creek
Historischer Ausgangspunkt von Tommy Oranges Roman ist das Massaker von Sand Creek in Colorado, wo im November 1864 Milizen 180 Cheyenne und Arapaho-Indianer in ihrem Winterlager niedermetzelten, die meisten davon Frauen und Kinder.
Einer der wenigen Überlebenden ist Jude Star, der gemeinsam mit einem jungen Stammesbruder vor der US-Kavallerie in ihren blauen Uniformen fliehen kann.
Ich meinte Vögel zu hören, kurz bevor es hell wurde, nachdem ich aufgeschreckt war voller Angst vor Männern so weiß, dass sie blau wirkten. Ich hatte oft Träume von blauen Männern mit blauem Atem, das Vogelgezwitscher wurde zum Quietschen träger Räder, als im Morgengrauen Gebirgsgeschütze auf unser Lager zurollten.
Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne
Die Erfahrung des brutalen Massakers schreibt sich in Körper und Psyche der Kinder, Enkel und Urenkel ein. Tommy Orange schreibt über Indianer im Hier und Jetzt .
Mit seinem Erstlingserfolg „Dort, dort“ hat Orange ein Thema gefunden, das bisher kaum literarisch bearbeitet wurde: Das Leben der indigenen Amerikaner in den Städten. Von den etwa fünf Millionen Native Americans leben heute circa siebzig Prozent in Städten, nicht in Reservaten.
Identitässuche über Generationen hinweg
Wie sie dort leben und warum sich die immer gleichen Probleme von Identitätssuche, Sucht und familiärer Instabilität über Generationen fortsetzen, ist das Thema von Oranges zweitem Roman.
Aber bevor er in seinem aktuellen Roman in der Gegenwart ankommt, blättert er an den Beispielen von Jude Stars Sohn und der Tochter eines Stammesbruders die deprimierende Geschichte ihrer Nachkommen über die folgenden 150 Jahre auf.
Wesentliche Wegmarken sind die Internierung einer Gruppe von Indianern in einer Gefängnisfestung in Florida und die Einrichtung der später berüchtigten Indianerinternate. Jude Stars Sohn gehört zu den Schülern des ersten Internats, das 1879 in Pennsylvania gegründet wurde.
Er hegt den Verdacht, dass sich noch etwas Schlimmeres unter seinen schlimmsten Erinnerungen an die Schule verbirgt, unter den Haarschnitten und dem Abbürsten, den Märschen, den Prügeln, dem Hunger und dem Arrest und den zahllosen Bloßstellungen, weil er Indianer blieb, während sie sich fortwährend bemühten, ihn zu bilden, zu christianisieren, zu zivilisieren. (…) Selbst manche der anderen Indianerkinder hänselten ihn, weil er halb weiß war.
Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne
Dass die Kinder aus Verbindungen zwischen Indianern und weißen Amerikanern besonderen Anfeindungen ausgesetzt sind, zieht sich als Thema durch den Roman, bleibt aber im Vagen.
Verfehlte US-Politik gegenüber der Indigenen
Tommy Orange führt Beispiele der verfehlten US-Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung im ersten Teil des Romans auf 115 Seiten quasi im Schnelldurchlauf mit verschiedenen Protagonist*innen an, die aber so rasch durch die Jahrzehnte wechseln, dass man den Überblick verliert.
Als Personen sind sie kaum ausgearbeitet, weil sie zu bloßen Bedeutungsträgern schrumpfen. Der Autor streift viele wichtige Themen, bleibt aber durch die zeitliche Straffung an der Oberfläche.
Erneute Begegnung mit Orvil Red Feather
Im zweiten Teil des Romans mit dem Titel „Nach 2018“ wird die Geschichte des jungen Orvil Red Feather weitererzählt, der am Ende von „Dort, dort“ auf einem Powwow-Festival angeschossen wurde. Nachdem bereits Orvils Vorfahren Laudanum, Mescalin und Alkohol konsumierten, wird auch er als Teenager abhängig von Schmerzmitteln.
Jung und frei sein klingt wie eine gute Option. Obdachlos sein klingt schon anders und so könnte man Lonys Leben auch beschreiben. Zugang zu gut dotierten Jobs gibt es für die indigene Familie kaum.
In einem Nebenstrang der Geschichte driftet der Schüler zeitweise in die Dealer-Szene ab, weil der Vater eines Schulfreundes illegal Drogen im heimischen Labor herstellt, die Orvil dann verkauft.
Orvils jüngster Bruder Lony hält zwar durch bis zum Highschool-Abschluss, aber den Schritt ins bürgerliche amerikanische Leben macht er nicht. Jahrelang bleibt der Junge verschwunden, ohne Kontakt zur Familie. Im letzten Kapitel „Unzustellbar“ lesen wir seinen sechsseitigen Brief als erstes Lebenszeichen:
Ich habe gelebt, wie die Indigenen damals, als unsere Welt das erste Mal untergegangen ist. Frei sein und umherziehen und es alles verstehen, (…) nur das wollte ich. (…) Ich war kein guter Mensch, habe nichts zur Gesellschaft beigetragen, aber andererseits auch nichts zu den Arschlochkonzernen und der US-Regierung, die mehr Leben zerstören, als man zählen kann, (…) .
Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne
Auch wenn der Roman bisweilen unter inhaltlicher Überfrachtung leidet, wird er seinem aufklärerischen Anspruch gerecht. Durch seine historischen Bezüge regt er dazu an, sich die oft vergessenen Grausamkeiten bewusst zu machen, die mit der Vertreibung der Indigenen verbunden waren. Allein das ist Grund genug, um „Verlorene Sterne“ zu empfehlen.


