SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Sep 11, 2024 • 4min

Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock | Buchkritik

Was zunächst nach romantischer Liebesgeschichte klingt, entpuppt sich schnell als gut recherchierte und anschaulich erzählte Biografie eines außergewöhnlichen Künstlerehepaars. Thilo Wydra bietet Einblicke in die Entstehungsgeschichte von Filmen wie „Psycho“ oder „Der Mann, der zu viel wusste“. Er zeigt, vor welchen Herausforderungen Alfred Hitchcock, oder „Hitch“, wie er oft genannt wird, dabei stand. Viele dieser Filme sind, so der Biograf, „längst in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingegangen“. Allerdings stieß nicht jeder Film sofort auf Begeisterung: Von heute hochgelobten Filmen wie „Marnie“ oder „Topaz“ waren Presse und Publikum zunächst enttäuscht. Ehefrau Alma war Hitchcocks wichtigste Kritikerin Weit wichtiger für Alfred war aber das Feedback seiner Frau Alma. Der hochbegabten Cutterin standen zahlreiche Karrierewege offen. Doch sie widmete sich voll und ganz ihrer großen Leidenschaft: Dem Schnitt. Die Tätigkeit im Hintergrund entsprach wohl auch ihrer scheuen und bescheidenen Art. Zugleich erwies sie sich als selbstbewusste Kritikerin, deren aufmerksamem Blick kein Detail entging. Die Hitchcocks beeinflussen die Filmkultur bis heute: Einige von Hitchs dramaturgischen Mitteln sind heute fest etabliert. Etwa der Suspense, den der Meister selbst einmal so erklärt hat: You see mystery is an intellectual process, like in a „Who-done-it“. But suspense is essentially an emotional process. Therefore you can only get the suspense element going by giving the audience information.Das Geheimnisvolle ist ein intellektueller Prozess, wie in einem Who-done-it. Aber „Suspense“ ist ganz wesentlich ein emotionaler Prozess. Und den bringt man nur in Gang, wenn man dem Publikum Informationen gibt. Im Buch macht Hitchcock seine Idee von „Suspense“ noch deutlicher: Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Es weiß, dass die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55. Die unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: ‚Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe und gleich wird sie explodieren!‘. Quelle: Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock Lebendige Collage aus Anekdoten, Filmwissen und Bildmaterial Thilo Wydra lässt nicht nur die Hitchcocks zu Wort kommen. Er zitiert auch Familienmitglieder, Presseberichte, Freundinnen und Kollegen. Tippi Hedrens Äußerungen bieten zum Beispiel Einblick in die Arbeit hinter den Kulissen des Klassikers „Die Vögel“ und Tochter Pat erzählt vom Familienurlaub in St. Moritz. Dabei entsteht eine wunderbare, lebendige Collage aus Anekdoten, Filmwissen und Bildmaterial. Doch das Berufs- und Privatleben der Hitchcocks war nicht nur von Erfolg gekrönt: Krankheit und Verlust kennen Hitch und Alma ebenso. Am Ende seiner Karriere betritt der mittlerweile schwer herzkranke und von Depressionen geplagte Meisterregisseur ein letztes Mal die Bühne: Für sein Lebenswerk erhält er den AFI Live Achievement Award. Unter großen Mühen erhebt er sich vom Stuhl, fällt einmal in diesen zurück, erhebt sich erneut und hält seine Dankesrede. Es ist eine Liebeserklärung vor einem Millionenpublikum. Es hat etwas sehr Ergreifendes, wenn diese pragmatische, selbst so schwerkranke Frau, Alma Reville, kurz ihr Gesicht hinter den Händen verbirgt und die Tränen zu sehen sind, die ihr in den Augen stehen. Quelle: Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock Leidenschaftlich erzählte Biographie eines außergewöhnlichen Filmgenies Thilo Wydra erweist sich als leidenschaftlicher Erzähler. Eindrückliche Momente schildert er mit viel Liebe zum Detail, Cliffhanger sorgen für Spannung und skurrile Szenen für Humor - ganz wie in Hitchcocks Filmen. Die informative und zugleich unterhaltende Biografie bringt uns Alfred und Alma näher und macht Lust, sich Hitchcocks Filme erneut anzusehen: Mit neuem Hintergrundwissen und voller Respekt für die leidenschaftliche und präzise Arbeit eines außergewöhnlichen Filmgenies.
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Sep 10, 2024 • 4min

Millay Hyatt – Nachtzugtage

Auf dem Cover strahlen verschlungene Linien in Blau und Orange, darauf der Schriftzug „Nachtzugtage“. Auch auf dem Vorsatzpapier und nach dem letzten Kapitel hat die Gestalterin diese Linien verwendet. Sie mögen wohl symbolisch stehen für die verschlungenen Wege, auf die uns die Philosophin Millay Hyatt mitnehmen will. Sie hat ein Buch geschrieben, das sich ganz dem Zugreisen bei Nacht und manchmal auch bei Tag widmet.  Am Abend auf Reisen zu gehen hat etwas unabweisbar Beglückendes, man kann es sich eigentlich nicht recht erklären, aber da es anhält, vertraut man irgendwann darauf.  Quelle: Steffen Kopetzky Zitiert sie den Autor Steffen Kopetzky, der im Buch immer wieder auftaucht. Bevor es aber losgehen kann, gibt es oft jede Menge Hürden zu überwinden: Da gibt es Verbindungen, die im Internet nicht angezeigt, Fahrkarten, die online nicht gebucht werden können, Fahrkartenschalter, die kaum zu finden sind und deren Personal teilweise nicht in der Lage ist, sagen wir, ein Ticket von Berlin nach Istanbul zu buchen.  Ungepolsterte Begegnung mit der Welt  Dennoch ist die 1973 in Dallas/Texas geborene und in Deutschland aufgewachsene Millay Hyatt eine leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der „ungepolsterten Begegnung mit der Welt“, wie sie schreibt, der dazu führt, dass sie, wo immer sie kann, der Reise auf der Schiene den Vorrang gibt, vor dem Auto und vor allem dem Flugzeug.   Erstens: Die Bewegung des Zuges und mein Ruhezustand innerhalb dieser Bewegung schärfen die Aufmerksamkeit. Zweitens, weil ich hier die Muße habe, meiner Ausdruckslust freien Lauf zu lassen.   Quelle: Millay Hyatt – Nachtzugtage In dreizehn Kapiteln, denen jeweils eine Karte der betreffenden Fahrtstrecke vorangestellt ist, umkreist Hyatt verschiedene Aspekte ihrer Nachtzugreisen, die sie unter anderem nach Edinburgh, Valencia, Athen oder sogar ins georgische Tbilissi führen.  Eingeschlossensein mit Fremden  Mal geht es um die Faszination für Modellbahnen, mal um das Eingeschlossensein mit Fremden in der Kapsel des Abteils, stets in Form anschaulicher kleiner Geschichten: Da ist der Kampf mit dem renitenten deutschen Nachtzugbegleiter, der erst behauptet, in dem Zug seien keine Betten mehr frei, nur um ihr dann nach zäher Diskussion doch ein Schlafabteil aufzuschließen, in dem die Autorin sogar allein nächtigen kann. Da ist die Begegnung mit einer jungen Frau in einem türkischen Nachtzug, mit der sich Hyatt nicht einmal verständigen kann und die dennoch ihr Essen mit ihr teilt. Da ist die Schönheit Belgrads und anderer Städte, die Hyatt beim Umsteigen unverhofft entdeckt. Da ist die improvisierte Fahrt mit einem Nachtbus ins bulgarische Nirgendwo, die ihr den Anschlusszug nach Budapest sichert. Und nicht zuletzt sind da die unzähligen Beobachtungen auf den Bahnhöfen, aus dem Zugfenster, im Abteil, hinter die Hyatt sogar selbst zurücktritt:  Ich löse mich auf, werde unsichtbar, es bleibt nichts von mir übrig als mein Beobachtungsvermögen.   Quelle: Millay Hyatt – Nachtzugtage Wenn sie dem Streit fremder Paare lauscht oder beobachtet, wie sich eine Frau auf einem Bahnhofsklo verstohlen den Schritt wäscht, ist Millay Hyatt immer auch Voyeurin, aber eine, die stets versucht, sich dies bewusst zu machen und das Bewusstsein für den eigenen Blick zu schärfen. Hyatt gibt darüber hinaus oft Einblick in ihr Leben, etwa wenn sie über ihre Trennung schreibt oder an der Pariser Gare de l’Est einer vor kurzem wieder aufgeflammten Liebe nachspürt.  Unüberwindbare Grenzen  All diesen Wegen folgt man ihr äußerst gerne, denn das Buch ist locker geschrieben in einem feinen literarischen Ton.   Sehr selten stockt die Lektüre in reflektierenden Passagen, wo die Philosophin Millay Hyatt durchscheint und ihr Formulierungen etwas verkopft geraten. Aber das schmälert das Lesevergnügen in keiner Weise. Gleichzeitig ist „Nachtzugtage“ auch ein politisches Buch: Ihrer Sehnsucht, nach Russland zu reisen kann die Autorin aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht mehr so nachgehen wie gedacht, in Ankara wird sie an den Putsch von 2016 erinnert und in Griechenland wird sie auf einer Fähre zur Zeugin von Pushbacks der dortigen Polizei gegen Flüchtlinge. Das Überwinden von Grenzen ist eben nicht für alle so mühelos wie für eine weiße Mitteleuropäerin.  Das und die zahlreichen literarischen Anspielungen auf berühmte Zugreisen, sei es bei Proust, Schwarzenbach oder Nabokov machen „Nachtzugtage“ zu einer vielschichtigen Lektüre, die Lust macht, sich trotz aller Widrigkeiten selbst auch einmal wieder auf das Abenteuer Nachtzugreise einzulassen.
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Sep 9, 2024 • 4min

Ulrike Edschmid – Die letzte Patientin

Es ist eine gespenstische Szene, mit der Ulrike Edschmid ihren Roman eröffnet: Die Ich-Erzählerin hat erfahren, dass eine alte Freundin von ihr in Barcelona im Sterben liegt und wird per Telefon in deren Krankenhaus-Zimmer durchgestellt. Das letzte, was sie von der Freundin hört, ist eine flüsternde, ersterbende Stimme. Nach diesem verstörenden Auftakt erfolgt ein Zeitsprung. Wer war diese Frau, die man als Leser in dieser intimen Situation belauscht hat? Im Jahr 1973, so die Erzählerin, die ebenso wie ihre Freundin namenlos bleibt, sei jene Frau in ihre Frankfurter Wohngemeinschaft eingezogen. Drei Jahre verbringen die beiden in einer Wohnung; die aus Luxemburg stammende Frau sei vor ihrem Elternhaus geflohen, so erzählte sie, und absolviert in Frankfurt erfolgreich ein Studium.  Lange Jahre der Unrast  Doch trotz dieser räumlichen Nähe, die die beiden Frauen verbindet, bleibt immer eine Distanz, eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Schließlich bricht die Luxemburgerin auf in ihre langen Jahre der Unrast, der Heimatlosigkeit. Sie lässt sich durch die Welt treiben oder reist Männern hinterher; Männern, vor denen sie dann aber flieht, wenn eine Bindung zu eng zu werden droht. Das Alleinsein hält sie ebenso wenig aus wie sie zu einer verlässlichen Partnerschaft im Stande ist. Die Ich-Erzählerin zitiert aus einem Brief, den die Freundin ihr aus Mexiko City geschrieben hat:  Liebe sei eine Kunst, die sie nicht beherrsche. Jeder ihrer Versuche sei gescheitert. Sie taumele von Affäre zu Affäre. Es sei eine Sucht. Sie sehe keinen Ausweg aus der Grundmelodie ihres Lebens, der Klage, dem Lamento. Für sie gebe es nirgendwo einen Platz, nicht in einer Familie, nicht in einer Gruppe, nicht innerhalb der Gesellschaft oder einer anderen sozialen Ordnung. Quelle: Ulrike Edschmid – Die letzte Patientin Gerade einmal 110 Seiten umfasst „Die letzte Patientin“. Das ist selbst für Ulrike Edschmid ein kurzes Buch. Ein Buch allerdings, in dem die Stärken der mittlerweile 84 Jahre alten Schriftstellerin voll zum Tragen kommen. Auf den ersten Blick erscheint die Ich-Erzählerin nur als Medium, das aus Briefen Telefonaten und Tonbandaufzeichnungen ein Leben rekonstruiert. Doch das, was den Roman ausmacht, seine Kälte und seine ungeheure Verdichtung, ist das Werk derjenigen, die all diese Informationen ordnet und versprachlicht.  Kälte und Verdichtung  Und die im ersten Teil des Romans die Flucht und die Sinnsuche ihrer Freundin protokolliert: Guatemala, Bolivien, Paraguay, Uruguay oder Argentinien sind nur einige wenige Stationen, die auch den politisch-historischen Kontext der Figur umreißen. Der zweite Teil von „Die letzte Patientin“ ist eine Spiegelung: Nach einer Krebsdiagnose lässt die Freundin sich in Barcelona nieder, absolviert spät ein Studium der Psychologie und praktiziert auch als Therapeutin. Ihre letzte Patientin, die dem Roman den Titel gibt, ist ein Mädchen aus Deutschland:  Sie nahm Drogen und war mit vierzehn Jahren von zu Hause zum Sozialamt geflohen und hatte Hilfe gesucht. Die Eltern getrennt. Zur Mutter kein Kontakt. Vater Geschäftsmann mit Unternehmen im Ausland. Sie war sechzehn. Schwer traumatisiert, hatte die Leiterin der Anlaufstelle gesagt, sei ihr Inneres angefüllt mit Schreckensbildern. Quelle: Ulrike Edschmid – Die letzte Patientin Die junge Ausreißerin wird in den letzten Jahren der Luxemburgerin zu deren Lebensthema: N., so wird das Mädchen genannt, spricht nicht. Über zehn Jahre hinweg sitzt N. in der Praxis ihrer Therapeutin und schweigt, unwillig oder unfähig, die eigenen Verletzungen in Worte zu fassen.  Eine unheilbar erkrankte Therapeutin  Ob das realistisch ist oder nicht, hat keine Bedeutung für den Roman. Viel wichtiger ist, dass sich in diesem Prozess des Schweigens zwei Menschen ineinander erkennen, bis es zu einer Art von kathartischem Ausbruch und zu jenem Moment kommt, in dem die nun unheilbar erkrankte Therapeutin erstmals so etwas wie Geborgenheit spürt. Man darf sich von Ulrike Edschmids kühlem, vermeintlich protokollarischen Tonfall nicht täuschen lassen – dieser Roman ist ein kurzes und scharfes Kunststück.
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Sep 8, 2024 • 5min

Katja Lange-Müller „Unser Ole“: Vom Los ungeliebter Töchter | Buchkritik

Die Geschichte beginnt – nachdem die Autorin uns versichert hat, sie sei wahr, auch wenn sie die handelnden Personen unkenntlich gemacht habe – mit einem populären Lied aus frühen DDR-Zeiten: 'Kleines Haus am Wald/Morgen komm ich bald…' diesen Herbert-Roth-Schlager aus der Zeit ihrer Jugend hatte Ida vor sich hin gesummt, während sie ihren Koffer packte, um am nächsten Tag bei Elvira einzuziehen. Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Eine Zweck-WG gezeichneter Figuren Ida und Elvira: Zwei höchst verschiedene alte Frauen, die eint, dass sie von ihren Müttern nicht geliebt wurden. Ida war eine besonders schöne Frau, die ihr Leben an der Seite ebenso wohlhabender wie egoistischer Männer verbracht hat. Irgendwann waren die Herren jedoch stets von ihr gelangweilt und nach der letzten Trennung ist sie ziemlich weit unten angekommen. Im wahren Sinn des Wortes: in einer dunklen Ein-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung. Sie hat eine miese Rente, die sie mit gelegentlichen Auftritten bei Seniorinnen-Modeschauen aufbessert. Auf einer solchen Veranstaltung trifft sie die lange schon verwitwete Elvira, die bis zur Pensionierung mit Leidenschaft berufstätig war. Ihr gehört ein kleines Haus und dort gibt es ein Zimmer für die Freundin. Elviras ‚Eigenheim‘, ein rauputzgrauer Würfel mit Eternitdach, befindet sich auf einem Eckgrundstück am Rande eines Dorfes nahe der Hauptstadt, von der aus es per Auto gut, per Regionalbahn und Bus aber nur bis neun Uhr abends zu erreichen ist. Elvira nannte ihre abgelegene Gegend einmal „das letzte Loch im Berliner Speckgürtel“. Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Es ist also nicht direkt das schlagersehnsüchtige „kleine Haus am Wald“, in das die stets perfekt geschminkte, auf Kleidung wertlegende Ida zieht. Sie muss keine Miete zahlen. Als Ausgleich soll sie der Freundin im Haushalt zur Hand gehen und bei der Betreuung des halbwüchsigen, titelgebenden Enkel Ole helfen. Familiengeschichten zwischen Grauen und Humor Zwei alte Frauen, ein hässliches Haus und ein gestörter 15-Jähriger, der sich nur rudimentär verständlich machen kann, der viel und immer das Gleiche isst und am liebsten im Bett liegt. Das ist die Ausgangskonstellation in dem neuen Roman der Berliner Autorin Katja Lange-Müller. Und dann passiert ein Unglück. Ein Sturz. Hat Ole nachgeholfen oder ist die Großmutter gestolpert? Das wird nicht aufgeklärt, auch nicht von den freundlichen Kommissaren, die für kurze Zeit eine wichtige Rolle spielen und nicht wenig Humor in die nicht gerade komische Lage bringen. Entscheidender als die Polizei ist jedoch Oles Mutter, die rechtmäßige Erbin, die jetzt das Spielfeld betritt. Womit das Trio im hässlichen Haus wieder komplett wäre. Nur sind es jetzt eine alte und eine mittelalte Frau, die am Küchentisch sitzen und nicht wissen, wie sie mit dem behinderten Ole zurechtkommen sollen. Sein Intelligenzquotient soll etwa bei vierzig liegen, zudem gilt er als autistisch. Von der allgemeinen Schulpflicht ist er jedenfalls befreit und in die Sonderschule geht er auch nicht. Seine Oma Elvira hat ihn unterrichtet, so gut es ging. Lesen, schreiben, rechnen kann er nicht, dafür hantiert er gern mit Buntstiften und Elvira gefielen seine Bilder… Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Oma Elvira war wohl nicht unschuldig an der Behinderung des Neugeborenen. Jedenfalls erzählt Katja Lange-Müller eine ziemlich schreckliche Mutter-Tochter-Geschichte, in deren Folgen ein hirngestörter Säugling auf die Welt kommt. Überhaupt gelingt es ihr, die Lebensgeschichten dieser drei Frauen in Rückschauen lebendig werden zu lassen. Ein leichthändiges Prosadrama mit mysteriösem Ende In der Gegenwart entwickelt sich ein spannendes weibliches Herr-und-Knecht-Verhältnis, das geprägt ist von sozialer Einsamkeit und emotionaler Unfähigkeit. Die Autorin entwirft in diesem Roman traurige Figuren und Konstellationen, zeichnet verlorene Leben, die trotzdem von Widerstand geprägt sind. Und deren Erinnerungen immer wieder Anlass für ziemlich komische Episoden geben. In der Musik wäre es wohl ein Capriccio, „frei in der Form und von lebhaftem Charakter“. Und dann gibt es ja noch Ole, der wie ein Elefant im Erzählraum steht und der für ein mysteriöses Ende sorgt in diesem leichthändigen – wie die Autorin es nennt – Prosadrama. Gerne hätte man eine Auflösung, aber da es eine wahre Geschichte ist, die erzählt wird, müssen wir ohne auskommen. Im Leben geht es eben nicht zu wie im Roman. Und alle Spuren verlaufen sich hier sowieso im märkischen Sand.
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Sep 8, 2024 • 55min

Neue Bücher von Katja Lange-Müller, Daniel Kehlmann, Eric Bergkraut und Anna Katharina Hahn

Neue Bücher von Katja Lange-Müller, Daniel Kehlmann, Eric Bergkraut und Anna Katharina Hahn.
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Sep 8, 2024 • 13min

Anna Katharina Hahn – Der Chor | Autorinnen-Gespräch

Auf die Zwischentöne kommt es an Für Anna Katharina Hahn ist der Chor ein spannender Handlungsort: „Da kann es Reibungen geben, es kann ungeheure Erwartungen erzeugen“. Manche Frauenfreundschaften entwickelten sich fast wie eine Liebesbeziehung, die in der Geschichte zu starken emotionalen Abhängigkeiten führen.  „Der Chor“ ist dabei alles andere als Frauenliteratur, geht es doch vielmehr um die Qualität von Beziehungen, darum, was sie tragfähig oder brüchig macht. Stuttgart als Ort unerschöpflicher Geschichten Wieder einmal ist die baden-württembergische Landeshauptstadt Schauplatz eines Romans von Anna Katharina Hahn, die sich ihre Geschichten mit langen Märschen durch den Talkessel und versteckte Stadtwinkel erlaufen hat. „Der Chor“ zeichnet daher nicht nur ein gruppen- sondern auch ein stadtsoziologisches Porträt, das sehr präzise und vielschichtig ausfällt. Stuttgart gelte vielen Menschen im Land als „hässlich“ und „unsympathisch“, so die Feststellung der Autorin. Für Anna Katharina Hahn war es daher eine besondere Herausforderung, die Stadt als „einen verwunschenen Ort“ darzustellen.
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Sep 8, 2024 • 6min

Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling | Buchkritik

Im März 2023 ereignete sich das, was Ruth Schweikert die „Explosion in ihrem Körper" nannte. Dabei handelte es sich um den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung, die sieben Jahre zuvor erstmals diagnostiziert wurde. Von da an verwandelte sich ihr Leben in ein Dasein zum Ende hin. Nun übernahm es ihr Ehemann Eric Bergkraut den unaufhaltsamen Lauf der Dinge festzuhalten. Entstanden ist daraus ein Bericht über extreme Erfahrungen, wie sie auch viele andere machen müssen, über die aber nur wenige öffentlich Zeugnis ablegen. „Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds" hat der Filmer und Schriftsteller seine Chronik genannt. Grenzerfahrung des Lebens und Schreibens In einer Vorbemerkung beschreibt Bergkraut seine schwierige, oft herzzerreißende Aufgabe folgendermaßen: Meine Aufzeichnungen handeln zunächst von Deinem Willen zum Leben, ich werde nicht einmal die Bezeichnung der Krankheit benutzen, die Dich getroffen hat. Die Aufrichtigkeit rufe ich auf als Begleiterin meiner Reise. Es kann nicht anders sein, als dass ich dabei an Grenzen gehe. Genau wie Du es getan hast. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling So wie hier spricht der Autor seine Gefährtin oft direkt an, er schreibt nicht über sie, sondern gleichsam im Dialog mit ihr. Begründet ist das durch die emotionale Nähe, zugleich ist es aber auch ein Kunstmittel, das diesen Aufzeichnungen ihre lebendige, ergreifende Form verleiht. Die Sinnfrage wird nicht gestellt Wenn ein Mensch den Tod vor Augen hat, führt der Weg dorthin, entlang der Grenze zu jenen ungeheuren Räumen, die uns schaudern machen, um mit dem französischen Philosophen Blaise Pascal zu sprechen. Auf Deutungen jedoch, die ins Transzendente zielen, haben Schweikert und Bergkraut verzichtet. Niemals habe ich erlebt, dass Du versucht hättest, Deiner Erkrankung eine Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Oder Dich und andere zu fragen, weshalb sie Dich getroffen hat, warum in dieser Form. Sie war einfach da und es galt, daraus das Beste zu machen. Für Dich und für uns. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Ruth Schweikert war eine Schriftstellerin der harten Lebensprobleme, der unglücklichen Herkunft, der jugendlichen Nöte, der fortwährenden Konflikte zwischen Rückschlägen und Freiheitslust. Auf ein vergeleichbares Konfliktfeld des nervenaufreibenden Auf und Ab wurde sie durch die Krankheit gezwungen. Über das Werk seiner Gefährtin sagt Bergkraut:   Was Du schreibst ist nicht Bekenntnis, es ist Literatur. Deine Erlebnisse flossen in Dein Werk, auch die schlimmen. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Ähnliches lässt sich über Bergkrauts Buch sagen. In der Konfrontation mit dem Tod verwandelte sich die Intimität der Paarbeziehung in einen schwierigen Balanceakt, von dem der Autor mit Offenheit und sicherem literarischem Feingefühl Zeugnis ablegt.  Der lange Abschied - ein letztes Abenteuer In dem SWR Kultur lesenswert Feature „Man stirbt ja nicht so zackbumm“ – Vom Schreiben über die Krankheit Krebs" hat Ruth Schweikert kurz vor ihrem Tod umrissen, welche Besonderheiten solch ein langer Abschied vom Leben mit sich bringt. Sie sagte: „Das hat mir mal ein Schweizer Arzt gesagt: Weißt du, wenn es darum geht, Menschen in dieser manchmal langen Phase des Sterbens zu begleiten, da sind wir nicht sehr gut. Weil wenn jemand nicht als vollwertige Arbeitskraft zurückkehrt, ja, dann ist er oder sie eben nicht mehr so viel wert. Aber sie haben vielleicht Großkinder, sie tun vieles. Und auch ihre Erinnerungen sind durchaus etwas wert, weil sie eben ein bestimmtes Licht werfen auf eine bestimmte Zeit und Lebensgeschichte und so weiter." In diesem Sinn hat auch Bergkraut die letzten hundert Tage von Ruth Schweikert festgehalten. Einmal erwähnt er den Maler Ferdinand Hodler, der Krankheit und Sterben seiner Geliebten Valentine Godé-Darel mit Stift und Pinsel festhielt. Doch in Bergkrauts eigenen Aufzeichnungen bilden solche Porträtmomente die Ausnahme. Für ihn bleibt auch der letzte gemeinsame Weg ein Stück Lebensprozess, „Abschiednehmen ist unser letztes Abenteuer", heißt es einmal. Dazu gehören alle Lebensfacetten, die Stimmungsschwankungen, die Augenblicke der Innigkeit, das Aufbäumen gegen den Tod, Gedanken, Hoffnungen, Ängste und auch die unvermeidlich aufwallenden Affekte. Und dazu gehört natürlich genauso der mühselige Alltag, die Krankenhausbesuche, die Pflegearbeit. Ereignisse, Reisen, Familiengeheimnisse werden in Erinnerung gerufen, die Szenen einer Ehe. Im Wechselbad von Realismus und Zuversicht wird sogar einmal eine „intensive neue Verliebtheit" verzeichnet.  Verstehen, was uns widerfährt Manchmal klappe ich auf dem Sofa sitzend den Laptop auf und notiere etwas, mein Gedächtnis lässt nach. Meine Notizen sind auch dazu da, besser zu verstehen, was Dir - und damit auch mir und uns - widerfährt. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Das Verstehen einer solchen Extremsituation ist das, was Bergkraut auch seiner Leserschaft ermöglicht. Und obwohl er völlig freimütig Einblick gewährt, wird niemand durch die Lektüre in eine voyeuristische Position gedrängt. Mit dieser Geschichte eines Abschieds hat Eric Bergkraut ein leidenschaftliches, klarsichtiges Stück Literatur geschrieben. Es atmet den Geist von Liebe, Empathie und Vernunft. Und zugleich weitet sich dieser Abschied zu einem sehr lebendigen Porträt der Schriftstellerin und des Menschen Ruth Schweikert. Ein schöneres Epitaph lässt sich kaum denken.
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Sep 8, 2024 • 13min

Ansteckend: Daniel Kehlmanns Begeisterung „Über Leo Perutz“ | Gespräch

Die Begeisterung sei bis heute geblieben, betont Kehlmann im lesenswert Magazin, der sich in seinem neuen Buch „Über Leo Perutz“ mit einigen ausgewählten Werken des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Autors beschäftigt. „Einer der großen deutschen Romanautoren" In seiner Auseinandersetzung mit Leo Perutz verzichtet Daniel Kehlmann ganz bewusst auf eine biografische Annäherung. Selbst anhand der Lebensäußerungen und Briefe des Schriftstellers entstehe kein scharfes Bild. Er wollte als Person nicht in Betracht kommen, meint Kehlmann. Ein Grund, weshalb Perutz, „einer der großen deutschen Romanautoren“, in Vergessenheit geraten sei. Als jüdischer Autor von den Nationalsozialisten verfolgt, ging Leo Perutz 1938 mit seiner Familie ins Exil nach Palästina, konnte dort an seinen literarischen Erfolg jedoch nicht mehr anknüpfen. „Wenn es ein Schicksal gibt, dann läuft das ungefähr so wie in den Romanen von Leo Perutz" Hochexperimentell, originell, faszinierend – Daniel Kehlmann gerät ins Schwärmen über die verwegene Erzählkunst des Wiener Schriftstellers, der in seinen Werken immer wieder die Frage nach Schicksal und Zufall stellt. Vor allem begeistert ihn „Nachts unter der steinernen Brücke“, das Hauptwerk von Leo Perutz. Darin sei alles, was einen an Literatur faszinieren könne. Wer sich von Daniel Kehlmanns aufschlussreichem Bekenntnis nicht anstecken lässt, dem ist nicht zu helfen.
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Sep 5, 2024 • 4min

Mia Raben – Unter Dojczen

Hand aufs Herz: Was wäre unsere alternde Gesellschaft ohne all die Haushaltshilfen aus Osteuropa? So manch wacklige Familienkonstruktion mit hilfsbedürftigen Großeltern würde ohne sie zusammenbrechen. So gesehen ist es also sehr zu begrüßen, dass all den Pflegerinnen und Pflegern aus Polen oder Tschechien endlich ein literarisches Denkmal gesetzt wird. Auch wenn man dem Debütroman der 47-jährigen Autorin und Journalistin Mia Raben mit dem Titel „Unter Dojczen“ ein wenig mehr spannungsförderndes Konfliktpotenzial wünschen würde, von seinem fast schon märchenhaften Happy End ganz zu schweigen.  Aufopferung bis zum Burn-out  Die Protagonistin heißt Jola. Sie ist Polin Anfang fünfzig, Mutter einer erwachsenen Tochter und pendelt seit zwölf Jahren zwischen Łódź und Deutschland. Um ihre Schulden bei Kredithaien abzuzahlen, arbeitet sie als sogenannte „Live-in“, als fest in einem Haushalt lebende Betreuerin. Den Löwenanteil ihres Gehalts kassiert eine dubiose Agentur; dafür muss sie das Mädchen für alles spielen, rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche. Und wenn etwas schiefgeht, darf sie sich von ihren „seniorki“ auch noch antipolnische Vorurteile anhören. Wie beim Ehepaar Weiß, wo die aufopferungsvolle Jola einen Burn-out erleidet.  Die Ruhe kam mit den Wochen. Das Ausbleiben ewiger Forderungen war eine Tatsache. Kein schmerzerfülltes Stöhnen von Herrn Weiß, keine gehässige Stimme von Frau Weiß. (…) Kein ‚Schrubb!‘. Kein ‚Saug!‘. Kein ‚Kriech!‘. Kein ‚Trag!‘. Kein ‚Joooohhhlaaa!‘.   Quelle: Mia Raben – Unter Dojczen Dass Deutsche Jolas Vornamen partout falsch, nämlich mit einem langen O, aussprechen, wird im Roman zum Zeichen für die fehlende Empathie auf der Gegenseite. Zu Romanbeginn wagt Jola trotzdem einen Neuanfang, bei einer gut situierten Familie in Hamburg, mit Arbeitsbedingungen, die fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Weshalb man bei der Lektüre, quasi gemeinsam mit der Protagonistin, immer wieder auf den unvermeidlichen Haken wartet.   An der Grenze zur Übergriffigkeit  Doch es kommt keiner. Sicher, auch bei den von Klewens gibt es so manche kulturellen Missverständnisse. Die Szene etwa, als die hippe Schwiegertochter Jola zum gemeinsamen Saunieren mit ihren nicht minder hippen Freundinnen drängt, ist hart an der Grenze zur Übergriffigkeit – führt aber dennoch dazu, dass Jola sich und ihren Körper neu entdeckt. Und dann ist da noch Uschi, die zu betreuende Matriarchin, eine Vertriebene aus dem ehemaligen Ostpreußen, die ein rechtes Biest sein kann.  ‚Theo … wir fahr’n nach Lodsch!‘, sang Uschi und lachte. Jola hasste es, wenn Deutsche dieses bescheuerte Lied von Vicky Leandros anstimmten, sobald es um ihre Heimatstadt ging. Ihre Lehrerin hatte ihnen damals erzählt, dass Überlebende des Ghetto Litzmannstadt berichtet hatten, dieses Lied sei von SS-Männern an der Rampe gesungen worden, aber Jola fehlte jetzt die Kraft, Uschi darauf hinzuweisen. Quelle: Mia Raben – Unter Dojczen Wie sich trotz aller Unterschiede eine Art Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt, ist durchaus anrührend zu lesen und erinnert ein wenig an den Kinohit „Ziemlich beste Freunde“. Zumal die Zeit bei den von Klewens Jola erlaubt, wieder zu sich zu kommen und endlich wieder zu träumen. Etwa davon, eine eigene Vermittlungsagentur zu gründen, mit fairen Arbeitsbedingungen für ihre Kolleginnen. Die Unterstützung der von Klewens macht es am Ende möglich.   Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung  Jola findet sogar die Kraft, nach jahrelangem schamvollem Schweigen wieder den Kontakt zu ihrer Tochter zu suchen. Gerade rechtzeitig, wie sich zeigt, ist diese doch kurz davor, in eine spanische Großfamilie einzuheiraten. Spätestens hier freilich wechselt Mia Rabens überwiegend flüssig zu lesender Roman einer weiblichen Selbstermächtigung das Genre: Aus einem psychologisch-realistischen Sozialroman wird quasi ein modernes Märchen mit Happy End. Mit einem solchen Ende wird die Autorin ihrem Thema leider nicht gerecht.
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Sep 4, 2024 • 4min

Ines Geipel – Fabelland | Buchkritik

Was ist das nur für eine Familiengeschichte: beide Großväter waren bei der SS, der Vater spionierte jahrelang „unter acht verschiedenen Namen“ für die DDR-Staatssicherheit im Westen Deutschlands, die Mutter war von vornherein eingeweiht, aber sagte ihren Kindern nichts – und Ines Geipel erfuhr davon erst im Jahr 2003 durch die Akte ihres Vaters, also 14 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Welche Nachwirkungen hat eine solche Familiengeschichte? Ines Geipel, die im August 1989 über Ungarn nach Westdeutschland geflohen war, hat die DDR-Diktatur am eigenen Leib erfahren: als Sprinterin war sie in das Drogenprogramm des DDR-Leistungssports eingebunden. Heute ist sie zu einer Schriftstellerin und Hochschullehrerin geworden, die sich aus eigener Erfahrung, aus der Erfahrung mit ihrer Familie, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Diktaturen gezwungen sieht.   Verknüpfung von persönlicher Biographie und zeitdiagnostischem Essay  Aber Bewältigung der NS-Vergangenheit, Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur, so mag manche Leserin und mancher Leser einwenden, hatte Ines Geipel darüber nicht schon vor fünf Jahren in ihrem sehr guten Buch „Umkämpfte Zone“ geschrieben? Was also ist neu in ihrem aktuellen Buch?  Die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden  Mehr als noch vor fünf Jahren wird heute klar: Man kann Glück verspielen, das Glück ist dem Zorn gewichen. Klar ist auch: die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden. Wie keine andere hat die bundesdeutsche 68er-Generation die politischen Debatten im Land geprägt. Die Intervention der Jungen hatte Wirkung und war ein Katalysator für die Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft. Und im Osten? Dort hatte der korrumpierte Buchenwald-Komplex die Gesellschaft ins gedächtnispolitische Nirwana geschickt. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Die Opfer des Holocaust kamen in der Legende von den kommunistischen Buchenwald-Kämpfern nicht vor. Der instrumentalisierte, rote Antifaschismus kreiste – schreibt die Autorin - „um die 72 deutschen Kommunisten, die in Buchenwald ums Leben gekommen waren. 72 von insgesamt 56.000“.  Ines Geipel dagegen geht ganz anders vor: Sie berichtet von ihrer eigenen Familie: von Täterfamilien, von einem doppelten Schweigen, das zu einem doppelten Trauma führte.   Anders als der Generation im Westen war es im Osten nicht möglich, sich auf die Siegerseite der Geschichte hinüberzuerzählen. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Die Schuldverdrängung macht anfällig für die Rechtsradikalen  Seit über 20 Jahren schon, so diagnostiziert Ines Geipel, kommt „etwas Altes“ zurück: „Der Hass, das Nationale, die Identitätsfrage.“ Das „DDR-Schlafdelirium“, das „antifaschistische Entlastungsprogramm“, wie Geipel es nennt, führte zu einem „brachialen Gesellschaftsloch“. Das sogenannte „neue ostdeutsche Selbstbewusstsein“ wurde, so ihre These, von den Rechtsradikalen gekapert. Die erinnerungspolitische Entlastungserzählung, die versucht, den Westen zum Buhmann zu machen, macht ihrer Ansicht nach deutlich, wie sehr die älteren, diktaturbelasteten Ost-Generationen immer noch zusammenhalten. Am Ende, im Gespräch mit der neuen Generation an der Schauspielschule Ernst Busch, stimmt Geipel – wider Erwarten – hoffnungsvolle Töne an:   Sie wollen es anders machen. Sie wollen auf der Bühne gemeinsam über Sehnsucht nachdenken. Die Sehnsucht nach Aufarbeitung. Das sagen sie wirklich. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Es ist eine aufregende Reise durch das verminte Gelände der Schuldverdrängung, die die Autorin unternimmt. Auf jeden Fall lesenswert.

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