SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Sep 18, 2024 • 4min

Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien

Katzen, immer wieder Katzen. Sie spielen im Leben des rund dreißig Jahre alten Bekim ebenso eine Rolle wie in dem seiner Eltern, die Anfang der 1990er Jahre aus dem albanischen Kosovo nach Finnland emigrierten, als der Kosovokrieg sich schon abzeichnete. Bekim wuchs in Helsinki auf und sah die Heimat nur in den Sommerferien. Fremd ist er dort genauso wie in dem Land, dessen Sprache er jetzt spricht. Soweit decken sich seine Erfahrungen mit denen des Autors Pajtim Statovci. Er kam 1992 im Alter von zwei Jahren mit seinen kosovo-albanischen Eltern nach Finnland und schreibt in finnischer Sprache.   Mit Schlange und sprechender Katze  In seinem Debütroman „Meine Katze Jugoslawien“ berichtet er abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Bekim und seiner Mutter Emine. Bekim lebt alleine, er ist schwul und hat lieblosen Sex mit Männer, die er in Chatrooms kontaktet. Vertrauter ist ihm die Würgeschlange, die er in seiner kleinen Wohnung hält, und eine Katze, die er in einer Schwulenbar kennenlernt. Sie trägt einen Anzug und kann sprechen – ein magisches Menschen-Tier, das bei Bekim einzieht, sich aber bald als verfressener Spießer mit homophoben und fremdenfeindlichen Ansichten entpuppt.   Ausländer sind dumm und laut, und wenn sie an einem vorbeigehen, betäubt einen der Gestank, den sie absondern. Wenn man ihnen Arbeit gibt, stehlen sie Geld. Und gibt man ihnen eine Wohnung, machen sie darin alles kaputt, auch wenn sie nicht einmal selbst dafür bezahlen.   Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Auf der zweiten Erzählebene beginnt Bekims Mutter Emine ihre Lebensgeschichte mit ihrer Verheiratung im Jahr 1980, einem archaischen, kosovarischen Fest, das nach festen Regeln abläuft. Es findet ein abruptes Ende, weil Tito stirbt und das Land in Trauer versinkt. Früher, so erfährt Emine vor der Hochzeitsnacht, sei es Brauch gewesen, dass der Ehemann eine Katze ins Schlafgemach brachte, um sie vor den Augen der Braut zu erwürgen und so seine Macht zu demonstrieren.   Erst in dem Moment begriff ich, dass ich mein ganzes restliches Leben mit ihm verbringen würde, und dieser Gedanke schlug in meine Rippen ein wie eine Abrissbirne in ein Haus. (…) Und wenn wir nie lernen würden, uns zu lieben? Was würde dann geschehen? Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Verlust der Gewissheiten  Bekims Mutter entflieht schließlich nicht nur dem Krieg, sondern auch dieser patriarchalen Welt. Sein Vater ist als Lehrer und Literaturinteressierter fast ein Intellektueller, ist aber auch in Finnland von seiner Herkunft geprägt. Es ist ein weiter Weg aus der traditionsbestimmten Dorfwelt in die anonyme finnische Großstadt. Denn die Befreiung vom Althergebrachten bedeutet zugleich den Verlust der Gewissheiten und des sicheren Bodens.  Auch Bekim steckt in den patriarchalen Strukturen fest. Mag sein, dass er sich mit seiner Homosexualität möglichst weit vom Vater und seiner Familie entfernt zu haben glaubt, doch im Verhältnis zu der fiesen Katze aus dem Schwulenclub verhält er sich selbst wie eine unterwürfige Frau, kocht und wäscht und putzt für sie. Vielleicht versucht er damit aber auch die Traumata seiner Kindheit loszuwerden, als Katzen und Schlangen Albträume verursachten. Parallel zu dieser surrealen Tierfabel entfaltet sich in Emines Erinnerungen eine realistisch genau erzählte Ehe- und Migrationsgeschichte.  Fremdheit und Heimatverlust  Eindrucksvoll schildert Statovci vor allem die Angst und die Scham der Migranten zur Zeit des Kosovokrieges, den sie vor dem Fernseher erleben, ohne zu wissen, was in den Dörfern passiert und wer überhaupt noch am Leben ist. „Die Katze Jugoslawien“ ist ein ungemein politischer und doch spielerischer Roman, der erlebbar macht, was es bedeutet, das Land, die Sprache, das Klima und die Kultur zu wechseln. „Migrationshintergrund“ ist dafür ein viel zu niedliches Wort. Migration ereignet sich immer im Vordergrund. Die Fremdheit ist in jedem Moment spürbar und erfasst den ganzen Menschen. Selten ist davon so eindrucksvoll erzählt worden wie in diesem finnisch-kosovarischen Roman.
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Sep 17, 2024 • 4min

Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen!

KI ist heute allgegenwärtig und wird auch im Berufsalltag immer relevanter: Sie übernimmt lästige Aufgaben und beschleunigt so manchen Arbeitsprozess. In „Das kann doch jemand anderes machen! Wie KI uns alle sinnvoller arbeiten lässt“ beleuchtet Autorin Sara Weber Risiken und Chancen der KI.   KI, Dampfmaschine, Elektrizität – Technologische Entwicklungen verändern die Arbeitswelt   Zunächst verweist sie darauf, dass der technologische Fortschritt die Arbeitswelt schon immer verändert hat: Der mechanische Wecker ersetze den menschlichen Aufwecker und der Beruf der Telefonistin wurde mit der Automatisierung der Ortsnetze obsolet. Allerdings verschlechterten sich mit der Industrialisierung auch die Arbeitsbedingungen und die Löhne sanken.   Bessere Technologie sorgt nicht einfach für bessere Arbeitsbedingungen oder bessere Bezahlung. Diese Veränderungen mussten in der Vergangenheit und müssen auch heute noch erkämpft und erstritten werden. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Dass das auch in Hinblick auf KI der Fall ist, zeigt Weber anhand des Streiks der Drehbuchautorinnen und -autoren in Hollywood. Die Gewerkschaft forderte unter anderem, dass die KI bei tarifgeschützten Projekten kein literarisches Material schreiben darf. Damit soll sichergestellt werden, dass KI die Autorinnen und Autoren auch in Zukunft nicht ersetzt. Bekannte Schauspieler wie George Clooney unterstützen die Forderungen. Zudem erläutert Weber, welche Strategien verschiedene politische und gesellschaftliche Akteure für den Umgang mit KI entwickeln: Etwa den AI-Act der Europäischen Union, der den Einsatz von KI in Forschung und Wirtschaft regulieren soll. Vieles davon ist weitläufig bekannt und die zugehörigen Argumente nicht unbedingt neu. Doch Webers kompakte Zusammenstellung des Status Quo macht deutlich, wie vielschichtig die KI-Debatte ist.  Spannende Recherchen und innovative Konzepte  Erfrischend sind die Abschnitte, in denen die Autorin von ihren eigenen Recherchen erzählt: Mit Physiklehrer Patrick Bonner spricht Weber über den Einsatz von KI im Schulunterricht. In der Bäckerei Wildbadmühle schaut sie sich an, wie mithilfe von KI die Nachtarbeit reduziert und Arbeitsprozesse verbessert werden. Am Essener Uniklinikum lässt sie sich vom Ärztlichen Direktor das Konzept ‚Smart Hospital‘ erklären und testet selbst einen KI-Assistenten.  Wir fragen die KI: Hat der Patient Vorerkrankungen? Es dauert kurz, dann erscheint ein ausführlicher Satz, der alle Vorerkrankungen beschreibt. Weil die KI nicht nur eine These ausspuckt, sondern auch die Quellen angibt, können die Ärztinnen und Ärzte nachsehen, ob alles stimmt, ohne sich durch Berge an Dokumenten zu wühlen. Eine Zeitersparnis, die gleichzeitig die medizinische Versorgung verbessert. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten verliert Weber nicht aus den Augen, dass der Einsatz von KI auch höchst problematisch sein kann: Wenn etwa Konzerne wie Amazon mithilfe von algorithmischem Management ihre Mitarbeitenden überwachen oder KI in Bewerbungsprozessen vorhandene Ungleichheiten reproduziert. Denn:  Am Ende formalisiert die KI ja nur die Muster, mit denen sie trainiert wird – und wenn diese Muster sexistisch oder rassistisch sind, wird es eben auch die KI. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Plädoyer für einen konstruktiven und bewussten Umgang mit KI  Die anschaulichen Beispiele machen die Lektüre kurzweilig, und die Autorin verzichtet auf komplizierte Technik-Exkurse. Stattdessen diskutiert sie innovative Ansätze und Ideen und eröffnet interessante Einblicke in verschiedene Berufsfelder, die sich mit dem Einsatz von KI verändern. Ihr Resümee: Wir sollten uns dem technologischen Fortschritt nicht verschließen, sondern KI bewusst und konstruktiv nutzen.  Technologien sind kein Selbstzweck. Wir als Menschen, als Gesellschaft müssen aktiv überlegen, entscheiden und umsetzen, wie eine positive Zukunft unserer Arbeitswelt aussehen soll, die gut für möglichst viele von uns ist. Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit. Denn die KI-Revolution ist weitreichender als viele glauben – und sie hat längst begonnen.   Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen!
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Sep 16, 2024 • 4min

Julia Phillips – Cascadia

Ein viel beachteter TikTok-Trend in den vergangenen Monaten war eine Umfrage unter jungen Frauen: Ob sie alleine im Wald lieber einem Bären oder einem Mann begegnen wollten, wurden die Frauen gefragt. Die überwältigende Mehrheit entschied sich für den Bären. Die Frage, die in Julia Phillips neuem Buch unter anderem aufgeworfen wird, lautet: Wie lebt es sich, wenn man vor beiden Angst hat, vor Bären und vor Männern? Das zumindest trifft auf Sam zu, eine der beiden Protagonistinnen von „Cascadia“.  Wie schon ihren bemerkenswerten Debütroman hat Phillips auch das neue Buch in eine beeindruckend schöne, stimmig gezeichnete Landschaft hineingesetzt: Sam und ihre dreizehn Monate ältere Halbschwester Elena leben auf San Juan, der Hauptinsel einer zum Bundesstaat Washington gehörenden Inselgruppe. Ein Paradies für Touristen, doch das Leben der Schwestern ist in höchstem Maße prekär: Ihre Väter haben sich jeweils schon vor der Geburt der Töchter aus dem Staub gemacht. Die Mutter hat ihre Lunge bei der Arbeit in einem Nagelstudio ruiniert und liegt todkrank in dem herunter gekommenen Haus, das der Familie, so glaubt jedenfalls Sam, noch gehört.  Zwei ungleiche Schwestern  Sam arbeitet im Schichtdienst auf den Fähren zwischen den Inseln; Elena in einer Bar. Sams ganze Hoffnung richtet sich auf die Zeit nach dem Tod der Mutter: Danach, so glaubt sie, würden die Halbgeschwister das Haus teuer verkaufen und von vorne anfangen können. „Cascadia“ hat einen klassischen novellistischen Kern. Es ist tatsächlich die schon sprichwörtliche unerhörte Begebenheit, die in die starren Verhältnisse Dynamik hineinbringt: Eines Nachts steht ein Bär vor dem Haus. Und es bleibt nicht bei diesem einmaligen Vorfall. Während die in ihren Ängsten gefangene Sam panisch auf das wilde Tier reagiert, baut Elena zum Entsetzen ihres gesamten Umfeldes gegen jede Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zu dem Bären auf:  Ein Geschöpf, das auf ihrer Insel nicht heimisch war und nicht zu ihrem Leben gehörte, war trotzdem gekommen. Es war meilenweit durch die nasse schwarze Nacht geschwommen, um an ihrer Haustür zu landen. Es galt als aggressiv, war aber eher sanft. Es galt als wild, verhielt sich aber zahm.  ‚Ist das nicht toll?‘, fragte sie Sam. ‚Kommt dir das nicht auch magisch vor?‘ Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips spielt in „Cascadia“ ganz bewusst mit Märchenelementen. Ihrem Roman hat sie ein Zitat aus „Schneeweißchen und Rosenrot“ voran gestellt. Der Bär wird in „Cascadia“ zu einem symbolischen Gefäß, in dem die unterschiedlichen Gefühle der beiden vermeintlich symbiotischen Schwestern gesammelt werden: Sehnsucht, Furcht, Glückserwartung, Zuneigungsbedürfnis.  Ein Bär als Gefäß von Sehnsüchten  Zugleich ist der Roman aber auch ein harscher Desillusionierungsprozess, vor allem für Sam. In ihr zerplatzt innerhalb kurzer Zeit eine Illusion nach der anderen, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zu ihrer Schwester Elena. Die klärt Sam kurz nach dem Tod der Mutter in einem Streit über die wahren Verhältnisse auf:  Wir mussten eine Hypothek auf das Haus aufnehmen, Sam. Du hast keine Ahnung, wie viele Schulden sich durch Moms Arztrechnungen angehäuft haben. Seit Jahren steht uns das Wasser bis zum Hals. Wenn wir verkaufen, hat nur die Bank etwas davon, und wir hätten kein Dach mehr über dem Kopf.‘ Sam hörte Elenas Worte, doch ihre Bedeutung war fragmentarisch, wie Bruchstücke eines Spiegels. Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips kommt mit „Cascadia“ nicht an die Qualität ihres Debütromans heran. Ja, auch dieses Buch ist passagenweise spannend; die Verbindung von Landschaft und Figuren ist schlüssig. Aber hin und wieder knarrt die Mechanik der Konstruktion allzu laut, und auch das Verhältnis der beiden Halbschwestern ist recht schematisch gezeichnet. Dass eine solche Geschichte nicht gut ausgehen kann, versteht sich: Wie in den Grimm‘schen Märchen liegen Grausamkeit und Erlösung auch hier dicht beieinander.
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Sep 15, 2024 • 55min

Wer schreibt, lebt gefährlich (und arm) - Kluge Bücher für den Frühherbst. Mit neuen Büchern von Ulrike Draesner, Mithu Sanyal und Marta Barone

Diesmal im „lesenswert Magazin“: Ein Gespräch über die gefährlichen Seiten des Schreibens und die ernüchternden Antworten auf die oft gestellte Frage, ob es sich von der Schriftstellerei leben lässt.
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Sep 15, 2024 • 6min

Clemens J. Setz zum Schreiben: Ohne Nebenjobs geht es nicht!

„Ich brauche immer mehrere kleine Nebenjobs wie Übersetzungen oder Artikel“, erzählt er im Lesenswert-Gespräch. Über das Thema Geld wird unter Autorinnen und Autoren kaum gesprochen, sagt er, das sollte sich ändern.
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Sep 15, 2024 • 7min

Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand

Wenn er im Auto sang, bewegte er die Arme dazu wie Windmühlenflügel, unterstrich einzelne Verse mit feierlichen Gesten und rief: »Verstehst du? ›Le grandi gelaterie di lampone che fumano lente‹ – die großen, qualmenden Himbeereisfabriken. Was für Poesie!« »Lass die Hände am Steuer! Wenn wir draufgehen, ist Schluss mit Poesie«, erwiderte ich trocken. Aber meistens sang ich mit, genauso falsch und mit beinahe genauso wilden Gesten. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Es ist einer der wenigen unbeschwerten Momente an die sich Marta Barone in „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erinnert. Die beiden teilen die Leidenschaft für die Literatur, die Poesie und das Meer. Und doch erlebte die Autorin ihren 1945 geborenen Vater Leonardo meist als distanzierten, oft rätselhaften Mann. Marta Barone geht auf Spurensuche Nach seinem Tod begibt sich die junge italienische Schriftstellerin deshalb auf Spurensuche. Sie trifft ehemalige Bekannte des Vaters, liest seine Briefe, Presseberichte und sammelt Fotos. Schließlich erfährt sie von Leonardos Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei PCIM-L und von schwerwiegenden Anschuldigungen gegen ihn. Rasch blätterte ich [die Verteidigungsschrift] durch. Sechzehn Seiten, Fotokopien des maschinengeschriebenen, paginierten Originals. ‚In erster Instanz wurde der Berufungskläger der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Prima Linea für schuldig befunden, da als erwiesen angesehen wurde, dass „der Barone“ […] der Organisation substanzielle Dienste geleistet hat, indem er die medizinische Versorgung eines ihrer Aktivisten übernahm […]‘ Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Jedes Gespräch und jedes Dokument fördern neue Erkenntnisse zutage – und werfen zugleich neue Fragen auf, die Archivfotos und Akten nicht beantworten können: Warum kehrt der reflektierte junge Mann dem akademischen Leben den Rücken? Was führt dazu, dass der examinierte Arzt einer Parteiideologie folgend als Straßenbahnputzer arbeitet? Marta Barone weiß, dass diese Fragen nach dem Tod Leonardos für immer unbeantwortet bleiben. Und doch versucht sie, sich dem Unbekannten vorsichtig anzunähern. Ihre Gedankenspiele ermutigen auch Leserinnen und Leser dazu, Situationen wie etwa Leonardos Ausharren in der Untersuchungshaft nachzuempfinden. Was mag er da drin wohl empfunden haben, abends, wenn es nichts zu tun gab? Während er in der stickigen Zelle saß und das Tageslicht schräg durch das kleine Fenster fiel? Wenn er auf einen Stuhl stieg, so schreibt er in einem Brief, konnte er die umliegenden Dächer sehen. Fragte er sich, wann er wieder echtes Tageslicht zu sehen bekäme, außerhalb der Mauern? Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Vieles erinnert an heutige Entwicklungen Nach und nach löst sich die Erzählung von der Familienbiografie und widmet sich den gesellschaftlichen Entwicklungen im Italien der 70er und 80er Jahre. Die Autorin erzählt von den prekären Lebensumständen der Arbeiter, von den Sorgen und Nöten der Bevölkerung und der schleichenden Radikalisierung einer Protestbewegung – die am Ende ein ganzes Land in Angst versetzt. Im sogenannten ‚Heißen Herbst‘ 1969 demonstrieren die Fabrikarbeiter des Automobilherstellers Fiat in Turin gegen den übermächtigen Konzern. Sie lösen eine Protestwelle aus, die sich bald über ganz Italien erstreckt. Die Stimmung heizt sich immer mehr auf und bald stehen Messerstechereien und Straßenkämpfe in fast allen Großstädten auf der Tagesordnung. Mit Sorge erkennt man beim Lesen die Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Wohnungsnot, finanzielle Sorgen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden befeuerten die populistischen Kräfte schon damals. Das macht den Roman hochaktuell – und die Szenen, in denen sich zeigt, wie plötzlich Frust und Wut in Gewalt umschlagen können, umso beklemmender. […] Tonino Miccichè, ein fünfundzwanzigjähriger Sizilianer [...] war ein geschickter Organisator […] und hatte alles so hervorragend geregelt, dass man ihn scherzhaft den »Bürgermeister von Falchera« nannte. Dort, in Falchera, war einem der »offiziellen« Wachmänner versehentlich eine zweite Garage zugeteilt worden, und die Besetzer hatten ihn mehrfach gebeten, sie ihnen für ihre Treffen zu überlassen, damit sie abends nicht immer so viel Lärm auf der Straße veranstalten mussten. Doch der Wachmann blieb eisern. Eines Abends brachen sie deshalb kurzerhand die Garagentür auf und schoben das Auto davor. […] Ein paar Minuten später schnappte der Wachmann sich seine Pistole und kam […] herunter. Miccichè trat versöhnlich lächelnd auf [ihn][…] zu. Der Wachmann schoss ihm genau zwischen die Augen. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Die Autorin hält sich an Fakten, vergisst aber die Emotionen nicht Marta Barone deckt die dunklen Ecken der jüngeren italienischen Geschichte auf und orientiert sich dabei eng an den Fakten. Sie verzichtet auf aufbauschende, dramatisierende Formulierungen und vermeidet Spekulationen über die persönlichen Motive und Gefühle der Menschen. Trotz der sachlichen Beschreibungen weckt die Erzählung auch Emotionen. Fesselnd und in wunderbaren Sprachbildern erzählt Marta Barone von dem, was sie selbst wahrnimmt und mit Sicherheit sagen kann. Diese detailverliebten, poetischen Skizzen übersetzt Jan Schönherr hervorragend ins Deutsche. Meine Vergangenheit erschien mir wie ein einziger, langer Tag […] Vage, aber deutlich wahrnehmbar, empfand ich völlige Kontinuität zwischen meinem Bewusstsein von mir selbst mit acht, zwölf oder zwanzig Jahren und dem von heute. Das meiste, was ich gesehen und erlebt hatte […], war mir so präsent wie meine gelbe Obstschale, wie die Grille, die den Sommer überlebt hatte und noch immer einsam vor meinem Fenster zirpte, wie das Glucksen des Neugeborenen von nebenan. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Gastland Italien hält noch viele Entdeckungen bereit Der autofiktionale Roman ist eine vielschichtige Erzählung, die weit über die Biografie des Vaters hinausgeht. Kunstvoll verwebt Marta Barone die persönliche Geschichte des Vaters mit der Geschichte Italiens und Vergangenes mit Gegenwärtigem. Erstmals wurde ein Roman der erfolgreichen italienischen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzt. „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ zeigt, dass Italien, das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse, nicht nur mit politischen Kontroversen auf sich aufmerksam macht, sondern es dort vor allem literarisch noch viel zu entdecken gibt.
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Sep 15, 2024 • 6min

Wie gut lebt es sich vom Schreiben: „Für die Villa reicht es nicht" | Gespräch

Im Lesenswert-Gespräch erklärt er, warum Lesungen immer wichtiger werden und warum Neulinge kaum noch eine Chance haben ohne Agentur auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen.
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Sep 15, 2024 • 4min

Mithu Sanyal – Antichristie | Buchkritik

Was sagt Ihnen Vinayak Savarkar, was Madan Lal Dhingra? Mohandas Gandhi? Moment, das war doch der mit dem gewaltfreien Widerstand? Schon richtig. Aber was diese Drei verbindet ist: Sie haben um das Jahr 1906 im Londoner „India House“, einem Studierenden-Wohnheim, gelebt oder sich dort getroffen. Haben konspiriert oder sogar Bomben gebaut. Mitten in Highgate, im Herzen des Britischen Empires, wurde die Unabhängigkeit Indiens von genau diesem Empire geplant. Ein Roman wie ein Mikadospiel                                                                                           Der Roman reist buchstäblich in die Zeit zurück, ins Jahr 1906. Er ist sinnlich und fantastisch, voller Bezüge und Verweise: Wie kommt etwa Sherlock Holmes ins Spiel, und was hat das Ganze mit der Kultserie „Doctor Who“ oder dem Tod der Queen im September 2022 zu tun? Mithu Sanyal baut einen Roman wie das Gewirr von Mikado-Stäbchen, das eine innere Logik zusammenhält. Ein Ziehen bringt alles in Bewegung.  Wenn Zeitreisen möglich sind, wird es sie geben. Wenn es sie geben wird, gibt es sie bereits. Aber glaubt ihr im Ernst, dass die Menschen, die die Macht haben, durch die Zeit zu reisen, das verraten würden? Natürlich nicht! Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Es beginnt mit einer Panne, die etwas Tragikomisches hat: Die fünfzigjährige Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, aber ein Windstoß weht sie ihr und den Trauergästen ins Gesicht, zwischen die Zähne. Durga aus Köln ist Drehbuchautorin. Das Verhältnis zu ihrer deutschen Mutter war schwierig, ihr Vater ist aus Indien. Und die Mutter lässt sie nicht los, die lineare Zeit wird löchrig. Ein schwarzer Detektiv Poirot? Durga reist kurz danach nach London, mit anderen Autorinnen und Autoren soll sie den Plot für einen neuen Film nach einem Roman von Agatha Christie entwickeln, allerdings anti-rassistisch, feministisch. Detektiv Hercule Poirot, ein Schwarzer? Dagegen regt sich Widerstand: Vor dem Gebäude der Filmfirma wird gegen das vermeintliche Auslöschen der britischen Kultur demonstriert. Doch dann - stirbt die Queen. Aus dem Jenseits erreicht Durga eine Nachricht ihrer Mutter. Und völlig unerwartet rutscht sie durch die Zeit, findet sich im Jahr 1906 wieder. Und nicht als Frau, sondern als junger indischer Mann. Ein ekstatischer Moment. Mein Bauch war nicht nur so flach wie seit Jahren nicht mehr, er kurvte auch nach innen zu seidigen Schamhaaren, und darunter … schaute … ein … Penis hervor. Gebannt streckte ich meine Hand aus und tippte vorsichtig mit dem Mittelfinger dagegen. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Die Lektüre ist kein Spaziergang Der Titel „Antichristie“ bezieht sich auf das Umschreiben von Agatha Christies weißen Figuren, aber auch auf den „Anti-Christ“: Gemeint ist hier der fast dämonische Freiheitskämpfer Savarkar. Ausgerechnet in ihn verliebt sich Sanjeev, so heißt Durga in ihrem neuen Ich. Savarkar, der Jahre später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wird. Der Roman flimmert vor historischen Bezügen, vor Pop-Zitaten und postkolonialer Debatte, das macht das Lesen nicht zum Spaziergang. Mithu Sanyal legt den Finger in die Wunde der kollektiven Ignoranz des Westens, macht es aber mit Humor. Zusammen mit Sherlock Holmes will Sanjeev ein Attentat im „India House“ aufklären, und immer wieder bricht die Gegenwart in die Vergangenheit. Es wird klar, dass „Antichristie“ selbst ein Kriminalroman à la Agatha Christie ist. Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über die Generationen hinweg. Und die Funktion von Krimis ist dabei, Verborgenes sichtbar zu machen. In unserem Fall die unsichtbare Kolonialgeschichte in der Popkultur. Durga war von sich selbst beeindruckt. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt: Die Asche fliegt uns als Lesenden zurück in den Mund. Als die Geschichte, die wir ignorieren, unterdrücken, nicht sehen wollen. Brillant.
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Sep 15, 2024 • 4min

Ulrike Draesner – zu lieben | Buchkritik

Leserinnen und Leser von Pippi Langstrumpf wissen, wie klug das stärkste Mädchen der Welt ist – auch wenn seine Schulbildung zu wünschen übriglässt. Pippi sagt: „Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht.“ Dieses Zitat ist eines von dreien, die Ulrike Draesner ihrem Buch voranstellt: Es bleibt im Gedächtnis und begleitet uns beim Lesen dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Draesners Tochter Mary ist drei Jahre alt, als die beiden sich kennenlernen. Eine Adoption in Sri Lanka Bis dahin hat das Mädchen in einem von Schwestern geführten Kinderheim auf Sri Lanka gelebt. Die Autorin und ihr damaliger Mann reisen für die Adoption dorthin: endlich - nach Fehlgeburten und einem langen bürokratischen Verfahren: Sie trug ein hellgelbes ärmelloses Kleid mit schwachem Blümchenaufdruck, es war peinlich sauber, wie wir später sahen, wenn auch nicht neu, und sie drehte sich ein paar Mal zu uns um, als ahnte sie, dass wir ihretwegen gekommen waren. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Wie lernen Eltern und Kind sich kennen und lieben? Was bedeutet es, wenn dieses Kind von einer anderen Frau geboren wurde, dazu in einem anderen Land, es zunächst keine gemeinsame Sprache gibt und das alles für Außenstehende ganz offensichtlich ist? Die Bedeutung von Familie Was bedeutet Familie? Ulrike Draesner erzählt eine sehr persönliche Geschichte, doch weitet sie sie klug, und deshalb geht es in „zu lieben“ immer auch um unser sich wandelndes Familienbild und eine Gesellschaft, die auf fremd Erscheinendes oft skeptisch blickt. Ah, adoptiert“, sagt man zu mir. Ein „nur“ schwingt mit. Das Zweiteklassegefühl stellt sich ein. „Aus Sri Lanka“, sage ich. Mein Gegenüber sagt: „Ach deswegen.“ Ich nehme an, er oder sie meint unser „diverses“ Äußeres. Jetzt ist es erklärt.: „Nur adoptiert.“ Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Draesner widerlegt dieses „nur“ auf knapp 350 Seiten eindringlich. Es geht um Überwindung von anfänglicher Fremdheit mit Liebe, Mut und Zutrauen. Auch das Kind hat Angst. So duldet Mary lange keine Berührung von der Frau, die ihre Mutter werden will und wird. Mary ließ sich gern Dinge zeigen. Wir schwitzten und führten vor, wir waren erschöpft und grinsten, wir sprangen durch den Sand, und die Flöhe bissen uns in Füße und Waden. Wir wurden angelächelt, sie winkte uns zum Abschied vom Arm einer Helferin. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Auch formal ist dieses Buch von Ulrike Draesner (wieder) hochspannend. Auf dem Cover steht Roman – allerdings ist das Wort durchgestrichen, beinhaltet also das „Ja“ und das „Nein“, und tatsächlich ist „zu lieben“ beides, autobiographische Erzählung UND Roman. Im Text finden sich ebenfalls ab und zu durchgestrichene Sätze oder Worte, die von der Suche nach dem passenden Ausdruck zeugen sowie am Beginn einzelner Kapitel aus Buchstaben und Worten geformte Vignetten, zum Beispiel eine Fahne aus den Worten schwarz rot gold. Einfluss von Elternschaft auf die Ehepartner Draesner erforscht, was Elternschaft, was Mutterschaft bedeutet. Und während die Liebe zwischen Eltern und Kind wächst, schleicht sich die zwischen den Ehepartnern auf leisen Sohlen davon. Beide, die Ich-Erzählerin und ihr Mann, vereinsamen und können einander in diesem schwierigen Prozess nicht wirklich helfen: Hunter sagte, ich sollte erwachsen sein. Sagte es leise, wie nebenbei, als wäre es nichts. Während er es sagte, verlor ich seine Augen, ich meine, sie wurden leer, es war, als spiegelte ich mich nicht mehr in ihnen, als rutschte ich an ihm ab. Ich rutschte aus ihm heraus. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Dieses Buch trifft ins Herz, so dicht, so unmittelbar ist es erzählt, doch immer wieder wechselt die Autorin den Ton, analysiert, reflektiert, fragt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben – mit welchem Familienbild? Das Thema Mutterschaft ist ein großes in den Neuerscheinungen dieses Herbstes, hier wird es auf noch einmal andere Weise erzählt. Eine ebenso schmerzhafte wie beglückende Lektüre: Ich sage: „Mary ist meine Tochter.“ Es ist ein sehr genauer Satz. Mein genauester Satz. „Ever“, würde Mary sagen. „Dein genauester Satz, Mama, ever.“ Wir haben ihn uns erlebt. Wir erleben ihn uns jeden Tag. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben
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Sep 15, 2024 • 6min

Sieben Jahre Haft für einen Roman? Gespräch mit Sandra Hetzl (PEN-Berlin)

Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Sandra Hetzl von der Autorenvereinigung PEN Berlin begleitet den Prozess in Istanbul. Im Lesenswert-Gespräch spricht sie darüber, wie die türkischen Behörden zusammen mit regierungstreuen Medien, unbequeme Autoren, wie Yavuz Ekinci verfolgen. Ein weiterer Roman von Yavuz Ekinci wurde auf Deutsch übersetzt:

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