

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Sep 24, 2024 • 4min
Neige Sinno – Trauriger Tiger
„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat“, meinte Jean-Paul Sartre. Ein schöner, mutmachender Satz. Aber gilt er für alle Menschen und alle Lebenslagen?
Jahrelang sexuell missbraucht
Oder gibt es Erfahrungen, die so einschneidend und zerstörerisch sind, dass sich aus ihnen schlechterdings nichts Positives machen lässt? Wie ist es zum Beispiel, wenn ein Mädchen jahrelang sexuell missbraucht wird? Neige Sinno antwortet so:
Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist keine Prüfung, kein unvorhergesehener Zwischenfall im Leben, sondern eine tiefe und systemische Erniedrigung, die die Grundfesten des Seins zerstört. Wer einmal Opfer gewesen ist, der ist immer Opfer. Selbst wenn man auf die Füße fällt, wird man es nie wieder ganz los.
Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger
Menschliche Abgründe
Aber die Autorin – und das ist typisch für ihr Buch – hinterfragt sich selbst immer wieder. Das seien „bombastische Sätze“, sie könne sich täuschen. Statt zu verallgemeinern, sollte sie besser von ihrer eigenen Erfahrung sprechen, ermahnt sie sich. Und das tut sie – schonungslos und klug.
Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und den Hippie-Eltern wächst Neige Sinno in einem kleinen Ort in den französischen Alpen auf. Als die Mutter einen anderen Mann kennenlernt, lässt sie sich scheiden, um mit dem attraktiven Bergführer und den Kindern, zwei weitere kommen bald hinzu, auf einem heruntergekommenen Bauernhof zusammenzuleben.
Neige Sinno erzählt klar und pathosfrei
Sieben Jahre lang wird Neige Sinno von ihrem Stiefvater während dieser Zeit sexuell missbraucht. Ihr Martyrium beginnt, als sie ungefähr sieben ist, genau kann sie sich nicht erinnern. Mit 21 entschließt sie sich zur Anzeige, um ihre jüngeren Geschwister zu schützen.
Ihre Mutter, die sich geweigert hat, etwas zu bemerken, braucht ein Jahr, um den Schock zu verarbeiten und sich von dem Täter zu trennen. Dieser gesteht und wird zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Das sind die Fakten, an denen entlang Neige Sinno klar und pathosfrei ihre Geschichte erzählt.
Immer wieder kreist sie um den Gedanken, dass es für ein Missbrauchsopfer nie ein Happy End gibt. Das Buch ist aber nicht nur Zeugnis einer existenziellen Beschädigung, es ist auch der Versuch, menschliche Abgründe auszuloten.
Was genau ist ein Monster, wenn nicht ein Wesen so weit außerhalb der Norm, dass man es nicht verstehen kann, dass es sich selbst nicht verstehen kann? Warum sind sie keine Monster, diese Typen, die ihr erigiertes Glied in den Körper ihrer Kinder gesteckt und ihnen dabei ganz leise, damit niemand sie hört, ins Ohr geflüstert haben, sie liebten sie mehr als alles auf der Welt? Sie wollen nicht, dass man sie einzig und allein über ihre Taten definiert. Wahrscheinlich haben sie, wie meine Mutter sagt, auch gute Seiten.
Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger
Autorin porträtiert den Täter
Die Autorin betrachtet sich als kleines Mädchen und als erwachsene Frau, sie porträtiert den Mann, der sie missbraucht hat, und sie denkt über die „Blindheit“ ihrer Mutter nach. Ausführlich zitiert sie aus Büchern, die absolute Herrschaft und extreme Gewalterfahrungen thematisieren.
Sie hat Nabokovs „Lolita“, Virginia Woolf, Christine Angot, Emmanuel Carrère gelesen. Von William Blake und seinem Gedicht „Der Tiger“ hat sie sich zum Titel ihres Buches inspirieren lassen. Immer wieder räsoniert sie auch über das eigene Schreiben und die Frage, wie sie überhaupt von ihren Erfahrungen erzählen könne.
Eine unbegründete Sorge
Mir wurde beigebracht, dass die großen Werke der Literatur imstande sind, die einfache und gewöhnliche Erfahrung, die kleine persönliche Geschichte zu übersteigen, sie zu transzendieren, indem sie sprachliche und ästhetische Schöpfungen werden. Ich will ‚in der Sprache sein‘. Das wollte ich schon immer. Andererseits widert es mich an, aus meiner Geschichte Kunst zu machen.
Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger
Neige Sinno berichtet auch von der Angst, mit ihrem Buch nur zu Radiosendungen zum Thema Inzest eingeladen zu werden. Die Sorge hat sich jedoch als unbegründet erwiesen. Ihr Buch hat in Frankreich zahlreiche Preise erhalten. Verdientermaßen.
„Trauriger Tiger“ ist ein bedrückendes, vor allem aber ein radikal aufklärerisches Buch. Neige Sinno gelingt es, in einer präzisen Sprache von extremen Erfahrungen zu erzählen, über die sich kaum sprechen lässt.

Sep 23, 2024 • 4min
Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf
Dass die Gesellschaft gespalten sei, ist zu einer Standardklage geworden. Jedes Weltproblem, jeder Konflikt, jede Krise reißt neue Gräben auf, gleich ob es sich um Klima, Migration, Ukraine, Antisemitismus oder Corona handelt. Schnell werden Fronten gebildet, die sich unversöhnlich gegenüberstehen.
Den Gegnern die Zähne zu zeigen, gilt als Tugend, Gesprächsbereitschaft als sträfliche Schwäche. Diese Stimmung bereitet Clemens Tangerding großes Unbehagen, darüber hat er sein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Rückkehr nach Rottendorf. Von Rechten, Linken und anderen normalen Leuten“.
Die Debattenräume und die Wirklichkeit
Tangerding ist als Historiker in der politischen Bildung tätig und betreut Geschichtsprojekte über den Nationalsozialismus in Städten und Gemeinden. Dabei hat er beobachtet:
Ich fühle mich, als würde ich in zwei verschiedenen Welten leben. Die eine betrete ich, sobald ich im Zug mein Handy einschalte und mir Talkshows oder Bundestagsdebatten ansehe. Die andere Welt ist belebt von Menschen, die sich in irgendeiner Art und Weise in ihrem Viertel oder Dorf engagieren.
Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf
Wie ein roter Faden zieht sich eine Grundthese durch Tangerdings Buch, die sich so zusammenfassen lässt: Die aufgeregten politischen und medialen Debatten mit ihrem oftmals hochtönenden Gesinnungseifer reden an der Lebenswirklichkeit der Menschen im Lande weitgehend vorbei.
Lauter Faschisten?
Diesen Befund illustriert Tangerding mit zahlreichen Beispielen aus seinem beruflichen Alltag, in dem er viel organisatorische und kommunikative Basisarbeit leistet.
So hat er bei seinen Einsätzen für historische Aufklärung und demokratisches Zusammenwirken immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Frauen und Männer, die ihn bei seinen Projekten tatkräftig unterstützt haben, nicht einfach als „Faschisten“ abgestempelt werden können, wenn sie mit der AfD sympathisieren.
Würde ich gefragt werden, welche Trends ich im Konfliktverhalten der Menschen sehe, würde meine Antwort eindeutig ausfallen: Nichts ist derzeit so beliebt wie Distanzierung.
Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf
Obwohl ständig an Dialogbereitschaft appelliert wird, konstatiert Tangerding einen Mangel an Verständigung und einen Überschuss an Brandmauern und Gesprächsverweigerung.
Zurück zur sozialen Basis
Ohne große Theorien aber mit zahlreichen Details bietet er in seinem essayistischen Erfahrungsbericht einen vielfältigen Befund über die Stimmungen in den ländlichen Regionen jenseits der urbanen Zentren.
Dafür steht die „Rückkehr nach Rottendorf“, den Heimatort des Autors, und dieses Eintauchen in konkrete Erfahrungswelten macht die Stärke des Buches aus. Der Autor schreibt:
Ich möchte uns allen empfehlen, die Lautstärke der Debatte ab und zu herunterzudrehen. Und zurückzukehren an die Orte, wo die leiseren Töne der persönlichen Erfahrungen stattfinden: in unsere Straße, unser Viertel, auf unsere Arbeitsstelle, in unseren Verein und in unser Wohnzimmer.
Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf
Zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen plädiert Tangerding für eine Rückkehr aus den abgehobenen Debattenräumen, wo gerne von „den Menschen draußen im Lande“ fabuliert wird, zurück zur sozialen Basis, kein neuer aber nach wie vor bedenkenswerter Vorschlag.
Denn schließlich sind Demokratie und Pluralismus zu wertvoll, um sie allein den Schaukämpfen und Spiegelfechtereien auf den medialen Bühnen der Republik zu überlassen.

Sep 22, 2024 • 55min
lesenswert Magazin – Neues aus der Mischpoke: Familiendramen und Ich-Suche
Ob ihr „Der Absprung“ gelingt? In ihrem neuen Roman erzählt die aus Russland stammende Autorin Maria Stepanowa hellsichtig von einem langen Abschied ihrer Heldin von der Heimat Russland und einem Abschied auch, zumindest in Teilen, von sich selbst.
Am 14. Oktober wird in Frankfurt am Main zum 20. Mal der Deutsche Buchpreis verliehen. Diese Woche wurde die Shortlist verkündet: von 20 Romanen auf der Longlist bleiben noch sechs übrig. Wir sammeln einige Reaktionen, die in diesem Jahr erstaunlich unaufgeregt bis zustimmend ausfielen.
Leo Tolstoi oder Margret Atwood: Ihre Werke würden wir kaum kennen, gäbe es nicht die wichtige Arbeit von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Um sie zu fördern, gibt es den „Deutschen Übersetzerfonds", finanziert vom Bundesministerium für Kultur und Medien. Nun drohen dem Fonds schmerzliche Kürzungen. Wir sprechen darüber mit Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied beim DÜF.
Rachel Eliza Griffiths erzählt in „Was Ihr uns versprochen habt“ fesselnd vom Rassismus in den USA der ausgehenden 50er Jahre. „Versprechen“ und Realität klaffen weit auseinander. Eine bewegende Geschichte von Mut und Selbstermächtigung, leider immer noch hoch aktuell.
Der Kabarettist, Musiker und Autor Tilman Birr erklärt uns in seinem wunderbar komischen Lied „Gestrandet“, warum der Inhalt unseres Bücherregals schicksalhaft über unsere Beziehungen entscheiden kann.
Wer bin ich eigentlich und wo liegen meine Wurzeln? Das fragt sich die Protagonistin Lou in Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“: die Geschichte einer modernen jüdischen Familie, die von der Vergangenheit noch immer eingeholt wird.
Aufwühlend und tröstend zugleich erzählt die Irin Sally Rooney in ihrem neuen Roman „Intermezzo" von zwei ungleichen Brüdern: eine Geschichte von Verlust, Schuld, Trauer und Liebe.
Musik: Nouvelle Vague – Should I stay or should I go? Label: PIAS

Sep 22, 2024 • 3min
Tilman Birr – Gestrandet
Wir vom Lesenswert Magazin auf SWR Kultur sind ja immer bemüht, Ihnen wertvolle und kompetente Lese-Anregungen an die Hand zu geben: Gute Lektüren können das Leben unendlich bereichern - und schlechte: ziemlich verärgern.
Dass gute oder eben schlechte Bücher im heimischen Regal auch - quasi schicksalhaft - über sich anbahnende Beziehungen entscheiden können: darüber hat der Kabarettist, Autor und Musiker Tilman Birr ein wunderbares Lied gemacht.

Sep 22, 2024 • 4min
Maria Stepanova – Der Absprung | Buchkritik
Den Absprung wagen – eine häufig gebrauchte Wendung, die vom Verlassen einer unhaltbaren Situation und zugleich von einem Neubeginn spricht. „Der Absprung“ heißt das neue Buch der russischen Lyrikerin, Essayistin und Erzählerin Maria Stepanova.
Ihr Roman ist eine direkte Reaktion auf die Erschütterung des Krieges, auf jenen Rückfall in die Barbarei des 20. Jahrhunderts. Das Buch beginnt mit der seltsam berührenden Beobachtung, dass die Welt trotz aller Katastrophen weitermacht:
Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.
Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Das Exil als Ort der Konfrontation
Die Schriftstellerin M., das Alter Ego Stepanovas, ist in einem sicheren Land, weit entfernt von ihrer Heimat und doch fortwährend in Gedanken bei den monströsen Ereignissen in der Ukraine. Das Exil ist ein Ort der absoluten Konfrontation mit der zugeschriebenen Rolle, den Zweifeln an der Urteilsfähigkeit, der Verantwortung, sogar der Schuld, obwohl man selbst nicht schuldig ist, weil das eigene Handeln und Denken eigentlich Zeugnisse des Widerstands sind.
Die Stadt im Ausland, wo M. jetzt wohnte, war voll mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren, und diejenigen, über die M.s Landsleute hergefallen waren, blickten mit Schrecken und Argwohn auf die einstigen Nachbarn, als hätte deren Leben vor dem Krieg, wie auch immer es ausgesehen hatte, keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter fraß.
Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Das „Untier“ namens Putin
Das Untier – der Leviathan – das ist Putin. Das Untier ist nicht mehr zu verstehen, gesteht sich M. ein. Sie funktioniert zwar, aber nichts mehr ist an seinem Ort, die Arbeit wird zu einer sinnlosen Angelegenheit, die verständnisstiftenden Einzelteile fügen sich nicht mehr zusammen. Selbst die Sprache, älter als das Untier, scheint kontaminiert.
… und doch schien auch sie plötzlich von einer verdächtigen Schleimschicht bedeckt.
Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Im Gegensatz zu M., die eine halbtote Maus im Mund zu verspüren meint, wenn sie nach Worten sucht, verfügt Stepanova über Sprache: Sie schickt ihre haltlose Heldin auf eine Reise. Eigentlich ist das Ziel ein Literaturfestival. Aber die Bahn macht ihr einen Strich durch die Rechnung, ein Anschluss wird verpasst; das Handy gibt den Geist auf, die Veranstalter versetzen sie; so werden die Pläne zugunsten eines ziellosen Treibens aufgegeben.
Wir durchstreifen nicht nur M.s Gedanken, sondern mit ihr auch eine fremde Stadt, folgen mit ihr einem Mann, der sie fasziniert und den sie später kennenlernt. Es scheint, als würde der geplatzte Termin eine Last von ihr nehmen. Fast ist es, als würde sie sich für einen Moment ihrer Identität entledigen, sich häuten, den Absprung schaffen.
Sie heuert als zersägte Jungfrau bei einem Wanderzirkus an, gerät immer weiter in eine märchenhaft anmutende Szenerie, und am Ende scheint sie im Zirkusdirektor Peter Cohn einen blinden Seher vor sich zu haben.
Du bist keine Rumänin, sagte Cohn noch einmal; in seinen schwarzen Brillengläsern schaukelten zwei große Glühbirnen. Du bist eine von uns, Liebes, eine Jüdin, ja? Und M., die sich seit Monaten immer nur als Russin bezeichnet hatte, als russische Schriftstellerin, als russischsprachige Person, wiederholte beinahe verwundert: ja.
Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Ein Buch wie eine traurige Abschiedsmelodie
Maria Stepanova hat einen äußerst dichten Text geschrieben, eine reflektierende, assoziationsreiche Prosa mit leisen Anspielungen, literarischen Verweisen, traumhaft und realistisch zugleich. Vor allem scheint das Buch eine traurige Abschiedsmelodie – ein Abschied vom Selbst, das sich durch das Geschehen ringsum überlebt hat.
Auch der Name verschwindet: Aus M. wird A. Ob ihr der Absprung aber wirklich gelingt und damit ein Neubeginn, das bleibt – wie meist im Leben und in der Literatur – erst einmal offen.

Sep 22, 2024 • 4min
Sally Rooney – Intermezzo | Buchkritik
Sally Rooney ist ein echtes Phänomen: Drei Romane hat die 33-jährige Irin bislang geschrieben – alle Bestseller. Zwei wurden zu Fernsehserien, zwei mit dem Titel „Buch des Jahres“ in Irland ausgezeichnet. Die Autorin scheint – vor allem bei jungen Menschen weltweit – einen Nerv zu treffen. In einem ihrer wenigen Interviews erklärte Sally Rooney 2021 ihre Erzählweise so:
„Ich kann nicht über Welten schreiben, die ich nicht gut kenne. Ich bin noch nicht groß herumgekommen, habe noch nie außerhalb Irlands gelebt und wohne seit vielen Jahren in Dublin. Das sind die einzigen Orte, über die ich schreiben kann. Ich glaube, um eine Geschichte zu erzählen, die in einer bestimmten Gemeinschaft spielt, brauche ich das sichere Gefühl, wie sich die Menschen benehmen, wie sie reden und muss wissen, wie die sozialen Regeln in diesem Setting aussehen."
Zwei ungleiche Brüder trauern um ihren Vater
Diese Herangehensweise verleiht ihren Romanen echte Glaubhaftigkeit. Das setzt sich auch in „Intermezzo“ fort.
Sally Rooney erzählt von den Brüdern Peter und Ivan Koubek, die gerade ihren Vater beerdigt haben. Peter, der Ältere, Anfang dreißig, smart und weltgewandt, arbeitet als Anwalt. Ivan, fast zehn Jahre jünger, introvertiert mit einer Zahnspange, tingelt als spätes „Schach-Wunderkind“ durch Irland.
Am nächsten Tisch streckt Ivan seinen Arm üben den Kopf, legt die Hand zwischen die Schultern und massiert sich den unteren Nacken mit den Fingerspitzen. Unter den Armen hat er zwei dunkle Schweißflecke. Er ist nicht besonders warm in dem Raum, obwohl es sehr hell ist, also schwitzt er wahrscheinlich vor Konzentration.
Quelle: Aus: Sally Rooney – Intermezzo
Flucht in die Liebe
Ivan lernt eines Abends Margaret kennen, die ein Kulturzentrum in der Provinz leitet, in dem er Schach spielt. Die beiden verbringen die Nacht miteinander und aus dem vermeintlichen one-night-stand entwickelt sich mehr, trotz aller Bedenken. Denn Margaret lebt von ihrem Ehemann getrennt und ist deutlich älter als Ivan.
Als Peter von der Beziehung der beiden erfährt, ist er empört. Doch wer im Glashaus sitzt… Peter selbst führt eine Affäre mit der Studentin Naomi und hegt immer noch Gefühle für seine Ex-Freundin. Seine Trauer bekämpft er mit Sex, Drogen und Medikamenten:
Morgens, zischendes Eisen, gebuttertes Brötchen, Milligramm Alprazolam, blaue oder grüne Krawatte. Er steht am Esstisch, sortiert seine Papiere, während der Kaffee abkühlt, Gedanken rasen in abgebrochenen Sätzen, Diskussionsfetzen, Ideen strömen auseinander und treffen sich wieder, schweißkalte Hände beim Umblättern der Seiten.
Quelle: Aus: Sally Rooney – Intermezzo
Das ist die Grundkonstellation dieses Romans.
Wenig Handlung, viel Innenschau
Und dann? Wer handlungsgetriebene Bücher mag, würde sagen – es passiert nicht viel. Die Protagonisten kreisen in ihrem Kosmos, reden, philosophieren. Wer Sally Rooneys Bücher liebt, sieht hier genau darin die Stärke der Autorin: Die Innenschau, die psychologische Betrachtung ihrer Figuren. Eine Frage, die Rooney immer wieder beschäftigt: „Wie lernen Menschen sich selbst kennen, wenn sie nicht mehr täglicher Teil einer Familie sind?"
Ganz klar: Sally Rooney kann wortgewaltig und intelligent erzählen. Ob das jedem Leser und jeder Leserin gefällt, ist eine andere Frage.
„Intermezzo“ ist mitunter etwas langatmig geraten. Aber darüber könnte man auch noch hinwegsehen, wenn nicht das überraschend süßliche Ende dieses Romans vollkommen aus dem Rahmen fallen würde. Schade!

Sep 22, 2024 • 9min
Finanzielle Kürzungen beim Deutschen Übersetzerfonds - Was sind die Folgen? | Gespräch
Leo Tolstoi oder Margret Atwood: ihre Werke würden wir kaum kennen, gäbe es nicht die immens wichtige Arbeit von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Um sie zu fördern, gibt es den Deutschen Übersetzerfonds, maßgeblich finanziert vom Bundesministerium für Kultur und Medien.
Nun drohen dem Fonds schmerzliche Kürzungen: 650.000 Euro soll es im kommenden Jahr weniger geben. Der DÜF spricht von einem „eklatanten Schaden im Bereich der Übersetzungskunst“. Wir sprechen darüber mit Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied beim DÜF.

Sep 22, 2024 • 5min
Olga Grjasnowa – Juli, August, September | Buchkritik
Am Ende dieses Sommers bleiben viele Fragen offen, eigentlich fast alle! Auch nach über 200 Seiten persönlicher wie kollektiver Sinnsuche im Juli, August, September 2023. Wer bin ich eigentlich wirklich: Ludmila, Ljuda, Lou?
Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität.
Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September
Jüdische Heldin mit autobiographischen Zügen der Autorin
Eine neue Identität? Aber welche? Ob Ludmila, Ljuda, Lou, fest steht, sie ist liiert mit dem Konzertpianisten Sergej, ist Galeristin in Berlin, in ihren Dreißigern, Mutter der 5-jährigen Rosa. Ludmila, Ljuda, Lou ist Jüdin und vor vielen Jahren als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen – ihrer Schöpferin Olga Grjasnowa damit sehr ähnlich.
Der Roman hat natürlich autobiographische Züge. Und es ist auch etwas, womit der Roman spielt. Es ist nicht wirklich meine Autobiographie, aber es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe. Es ist zum Beispiel unser beidseitiges Unverständnis der klassischen Musik, es sind bestimmte biographische Anhaltspunkte. Und ich glaube, im Prinzip ist es einfach so, dass ich den Roman so geschrieben habe, dass ich mir überlegt habe, wie mein Leben unter Umständen auch hätte verlaufen können.
Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa
Im Juli, zu Beginn des Romans, stellt sich Lou und Sergej, dem wohlsituierten Künstlerpaar aus Berlin, immer drängender die Frage, wie jüdisch sie eigentlich seien und ihre kleine Tochter erziehen wollen – als nachgeborene, nicht wirklich religiöse Juden im Land der Täter. Jüdisch sein? Hier? Heute?
Tatsächlich hat für mich angefangen, mein Jüdischsein eine größere Rolle zu spielen, als ich selbst Mutter war, weil sich dann die Frage gestellt hat: Was gebe ich weiter? Wie erziehe ich meine Kinder? Und vor allem bin ich nicht wirklich religiös. Das heißt, mein Judentum hat per se etwas von einer kulturellen Performance und nicht etwas von einer Religion. Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, aber nicht die Religion. Und wenn das dann so ist, was mache ich dann mit meinen Kindern? Gebe ich ihnen bestimmte Teile der Kultur mit? Kann man überhaupt sagen, was eine jüdische Kultur ist? Was ist denn dann das Spezifische, was ich weitergeben möchte?
Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa
Eine Familie zwischen Erinnern, Lügen und Schweigen
Lou stürzen diese Fragen in keine große Identitätskrise. Dazu ist sie viel zu selbstbewusst, viel zu sehr mit sich, ihrem Kind, ihrer Beziehung beschäftigt. Sie stellen sich ihr halt nur, diese Fragen, erst recht, als sie – wir schreiben mittlerweile den Monat August – mitsamt der in alle Welt verstreuten Mischpoke zum 90. Geburtstag ihrer Tante Maya nach Gran Canaria eingeladen wird.
Und da sind sie dann, die ganzen noch lebenden Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, deren Söhne und Töchter – und es wird so skurril wie Familienfeiern nun einmal skurril sind
Ich glaube nicht, dass es bei jüdischen Familien etwas anderes ist, sondern ich glaube, dass tatsächlich Lügen zum Familienalltag mitunter gehören. Vielleicht auch noch nicht einmal Lügen, sondern in jeder Familie gibt es bestimmte Geschichten, die man im Laufe des Lebens unterschiedlich erzählt. Man fängt an, dass man manche Geschichten zum Beispiel für die Kinder runterbricht, sie einfacher gestaltet, das Traumatische daran wegnimmt oder auslässt. Und irgendwann hat sich dieses Narrativ verfestigt, und nach und nach fangen die Leute an, mehr zu erzählen, oder sie lassen es einfach. Und die Erinnerung ist auch nicht immer gleich. Man erinnert sich mal besser, mal weniger besser, mal erscheinen andere Sachen in der Erinnerung wichtiger zu sein, Manchmal sind es Lügen, manchmal sind es auch einfach nur Auslassungen, manchmal ist es das Schweigen und all das macht eine Familie eben auch aus.
Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa
In Lous Familie ist es – wie bei so vielen jüdischen Familien – die Frage danach, welche Katastrophe der Holocaust unter ihnen angerichtet hat und welche traumatischen Folgen er bis heute hinterlässt. Für Lou ist auf Gran Canaria die Chance gekommen, die Geschichten, die ihre Tante Maya darüber verbreitet, mit denen der Mutter abzugleichen.
In meiner Kindheit war der Holocaust allgegenwärtig gewesen, an ihn wurde überall von Nachbarn oder Freunden erinnert. Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. Sie stellte sich selbst in den Mittelpunkt, was ihr gutes Recht war, nur hätte das nicht auf Kosten von Rosa geschehen müssen. Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort, und ich hatte das Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen.
Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September
Eine Geschichte, die sich im Kreis dreht
Für Lou rücken sich am Rande der Familienfeier einige Verdrehungen, Verzerrungen, Verstümmelungen ihrer Familiengeschichte zurecht. Doch statt danach schnurstracks in ihren Alltag, in ihr altes Leben nach Berlin zurückzukehren, fliegt sie außerplanmäßig nach Israel. Etwa auf der Suche nach weiteren Antworten auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit, ihrer Verwurzelung? Das wäre plausibel und folgerichtig. Doch so zwingend scheint es dann doch nicht zu sein.
Lou verbringt in Israel ja eigentlich nur ein paar Tage. Sie versucht einfach nur, kurz auszureißen und sich noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen. In Berlin erwarten sie nicht die schönsten Sachen, sondern ziemlich viele Probleme. Ich glaube, sie sehnt sich einfach nur danach, noch einmal auf die Pausentaste zu drücken und sich eine ganz winzige Auszeit zu verschaffen. Aber natürlich kann sie sich das nicht selber eingestehen, sie tut es vielleicht sogar an der ein oder anderen Stelle, sondern sie flieht einfach nur und möchte etwas Zeit rausschinden.
Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa
Und so kehren Lou aus Spanien bzw. Israel und Sergej von einer Konzertreise mit einem potenziellen Seitensprung fast gleichzeitig nach Berlin zurück. Ende Juli aufgebrochen haben sie sich drei Monaten lang um sich selbst und im Kreis gedreht, ohne irgendwie weitergekommen zu sein. Entwicklung ist nicht erkennbar.
Olga Grjasnowas neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, aber leider deutlich weniger erkenntnisreich. Wenig, was man über heutiges jüdisches Selbstbewusstsein oder eben auch jüdische Selbstzweifel nicht längst gewusst hätte. Wenig, was man als originelle Wendung oder Einsicht verbuchen könnte. Lous Identitätssuche bringt leider nicht weiter. Sie nicht. Und uns nicht. Schade.

Sep 22, 2024 • 6min
Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt | Buchkritik
Familie Kindred lebt an der Küste Neuenglands. Eine von nur zwei schwarzen Familien im Dorf Salt Point: zwei traumatisierte Eltern, zwei heranwachsende Töchter, Ezra und Cynthia, fern vom rebellischen Süden. Aber unter der Oberfläche brodelt latente Gewalt.
„Mund zu, Augen auf“, ist die Devise des Vaters. Denn:
Die Wahrheit ist, sie wollen uns nicht.
Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt
„Sie“, das sind die Weißen: mißtrauische Fischer, die rassistische Lehrerin, der aggressive Polizist, der in seiner Machtlosigkeit mit der Pistole droht, Ruby, das vernachlässigte Mädchen, das, manipuliert und vom Leben betrogen, von der Freundin zur Rivalin wird, und ihr Vater, der im Suff versinkt.
Sein Leben war ein frühes Grab.
Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt
Die Weißen als Opfer ihres eigenen Rassismus
Die Weißen sind Opfer ihres eigenen Rassismus. Ihnen gegenüber: Die aufrechten Kindreds und ihre Schwarzen Freunde, die Junketts, mit dem Mut und den tröstlichen Mahlzeiten von Miss Irene. Und von fern: die Ahnen. Ein reiches Figurenensemble, skizziert im Herbst 1957 und in Rückblenden. Sie selbst stecke in den Figuren und viele Frauen, die sie traf und fiktionalisierte, sagt Rachel Eliza Griffiths.
I think my personality is in all of them and they are also a gathering, fictionalized of course, many women's stories, that I encountered as a little girl and as I grew up. (Rachel Eliza Griffiths)
Cynthia hält das Personal zusammen, die jüngere Kindred-Tochter, die sich in der Gefahr an ihren Stift klammert wie an ein rettendes Ruder. Eine kindliche, aber auktoriale Ich-Erzählerin, die in Visionen sieht, wie ihr Urgroßvater vom Ku-Klux-Klan in der Kirche ermordet wurde.
Gerade zertrümmerte er eines der Fenster mit einem Besenstiel, als eine Kugel durch seinen Kopf schlägt. Dann fliegen Fackeln durch die zerbrochenen Scheiben.
Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt
Die blutige Geschichte der Schwarzen in Amerika
Erzählungen des Vaters sind in Cynthia lebendig, Traumata werden vererbt. Die blutige Geschichte gehört zur DNA der Schwarzen Amerikas. Immer wieder bringt Rachel Eliza Griffiths das Wort „Blut“ ins Spiel. Weißes Blut, kann ein Privileg sein, sagt sie.
Das Wort Blut hat aber auch mit der Beziehung von Amerika und der Sklaverei zu tun. Die Gewalt der Sklaverei, die Sprache, die verwendet wurde, das Blut, das in die Erde, ins Land, in die Bäume fließt, ist wie ihre Blutlinie, ihre Familie, ihre Abstammung, wer sie sind, und das fühlt sich für mich, in Bezug auf Amerika, sehr spezifisch an. (Rachel Eliza Griffiths)
Es ist das Ende des Sommers, der Kindheit, das Ende des Schweigens und der Beginn der Bürgerrechtsbewegung, als Schwarze Kinder auf dem Schulweg Polzeischutz brauchen. Aus dem Radio tönt die Stimme von Martin Luther King, und Präsident Eisenhower stärkt mit dem Civil Rights Act das Wahlrecht der Schwarzen Amerikaner.
Die Nation ist gespalten, wie heute. „Nigger werden abgeknallt“, schreibt Rachel Eliza Griffiths, verwendet das N-Wort als historischen Begriff, sieht ihr Debüt aber nicht als historischen Roman.
Hängen heute noch Menschen an Bäumen? Es ist vielleicht nicht mehr wie früher, aber es gibt immer noch Bäume, an denen Leute aufgehängt werden. Soziale Medien können solche Bäume sein. (Rachel Eliza Griffiths)
Fesselnde Geschichte von Mut und Selbstermächtigung
Was das opulent erzählte Familiendrama so eindringlich, mitunter auch sentimental, macht, sind originelle poetische Bilder der Dichterin, für die Poesie und Prosa ineinanderfließen. Die Psychogramme in den Zwischenkapiteln von „Promise“/ „Was ihr uns versprochen habt“ zeigen die Kluft zwischen Versprechen und Realität; „Versprechen“, ein intimes wie öffentliches, politisches Wort, überlagert von Traumata und Geschichten des Überlebens.
Die ältere Schwester sagt: Cynthia, versprich mir, dass du dein Leben lieben und leben wirst, dass du am Leben bleibst, versprich mir das, auch wenn wir uns nie wiedersehen. Das ist eine kraftvolle und andere Art, das Wort zu verwenden. Dass sie ihrer Schwester nichts versprechen kann, weiß sie, aber sie kann ihre Schwester bitten, ihr eigenes Leben und ihre Liebe zueinander zu ehren, das ist ihre Waffe, ihre Rüstung, deshalb geben sie nicht auf. (Rachel Eliza Griffiths)
Wir haben heute verlernt, einander zuzuhören, sagt Rachel Eliza Griffiths und ist weniger optimistisch als früher. Sie setzt auf Kamala Harris. Und sieht ihren Debütroman selbstbewußt in der Tradition einer Toni Morrison, eines James Baldwin oder Aimé Césaire. „Was ihr uns versprochen habt“ ist ein Pageturner, eine fesselnde, manchmal auch pathostrunkene Geschichte von Mut und Selbstermächtigung. Einen Fan hat Eliza Griffiths längst: ihren Mann, Salman Rushdie.
Er liebt meinen Roman. Ich glaube, er war erleichtert, als er den Entwurf las, weil ich sagte: „Wenn dir mein Roman nicht gefällt, funktioniert das nicht (lacht), dann können wir nicht so zusammenleben.“ Er ist einer meiner größten Cheerleader und Unterstützer. (Rachel Eliza Griffiths)

Sep 19, 2024 • 4min
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Sascha Kowalczuk ist stocksauer. Die Dauernörgelei im Osten, das Wahlverhalten der Wutbürger - in alledem schwingt für Kowalczuk ein Stück Realitätsblindheit mit. Denn:
Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Aus Kowalczuks Sicht nämlich haben viele Ostdeutsche nie begriffen, dass Demokratie im Kern nicht D-Mark, Mallorca-Reisen und Rundumversorgung bedeutet. Sondern dass Diktatur-Sozialisierte zu citoyens heranreifen müssen:
Freiheit ist eine Angelegenheit, die nur funktionieren kann, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Freiheit bedeutet Einmischung
Mit Einmischen meint Kowalczuk nun keineswegs den tumben Stammtisch um die Ecke oder bei X und Tiktok. Sondern dass man kapiert, dass Demokratie Interessenausgleich und Kompromiss bedeutet. Also sich einmischen, den Mund aufmachen mit Verständnis für die Gegenseite. Aber, so der Autor weiter:
Genau das wird einem in der Diktatur mit allen Mitteln abgenommen, abtrainiert, brutal weggenommen.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Zwei Gesellschaften trafen aufeinander, die sich längst auseinander gelebt hatten
Denn dort gab es nur eine Wahrheit. Was das in den Köpfen hinterlassen hat, haben auch die verbohrtesten Antikommunisten im Westen nie erfasst. 1990 sind zwei Gesellschaften zusammengeführt worden, die sich so weit auseinandergelebt hatten, wie es nur denkbar war. Naiv glaubten viele gelernte Bundesbürger, die Ostdeutschen hätten ja nur auf sie gewartet - denn nach 28 Jahren Gefängnis und 40 Jahren SED-Gängelung lechze man naturgemäß nach genau der Freiheit, die der Westen nun bringe. Umgekehrt dachten die meisten DDR-Bürger genauso naiv. In ihrer einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 votierten sie für den schnellen Beitritt. Vor lauter Euphorie waren sie blind. Kowalczuk konstatiert:
Sie erfanden einen Westen, den es nie gab. Sie konstruierten eine Idylle, die sie am 18. März 1990 herbeiwählen wollten. Eine Fehlwahrnehmung, die fast niemand dem eigenen Unvermögen anlastete, sondern dem Westen selbst, der sie angeblich getäuscht, betrogen, belogen hätte.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Hier muss man Kowalczuk allerdings entgegenhalten, dass alle bundesdeutschen Parteien außer den Grünen den Volkskammerwahlkampf aktiv gekapert hatten - und mit ihm die eigene Demokratie-Bewegung der DDR. Ost-Oppositionelle wie Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Konrad Weiß, Jens Reich - sie bekamen nie wirklich die Chance, ihre Landsleute adäquat mit den Anforderungen der parlamentarischen Demokratie vertraut zu machen. In der großen Unsicherheit danach wurde die DDR bald rosarot verklärt. Und Kowalczuk trifft ins Schwarze, wenn er über diese Verklärer schreibt:
Sie repräsentieren eine große ostdeutsche Mehrheit, die mit ihrer unverarbeiteten Diktatursozialisation weder die Vergangenheit verarbeitet, noch die Herausforderungen der repräsentativen Demokratie und die Kraft der Freiheit verarbeitet hat. Es gab keine Demokratie- und Freiheitsschulung im Osten. So etwas wie Re-Education in Westdeutschland fehlte.
Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock
Dringlicher Appell, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen
Umgekehrt hätten die meisten Westdeutschen nie begriffen, dass drei Vierteln der Ostdeutschen in den 90er Jahren der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei: Mit ihrem vertrauten Arbeitsplatz verloren sie ihre gesamte gesellschaftliche Einbindung, den Großteil ihrer menschlichen Beziehungen. Kowalczuk hat völlig recht, wenn er feststellt, dass beide Seiten bis heute viel zu wenig voneinander wissen. Sein Buch Freiheitsschock ist da aber nur ein aktueller Problemaufriss. Um die Dimensionen genauer zu erfassen, sollte man auch zu Kowalczuks Buch Die Übernahme von 2019 greifen. Erst beide Bände zusammengenommen können wertvolle Denkanstöße liefern: indem sie Ost und West aufrütteln und an uns alle in Deutschland appellieren, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen.


