

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Episodes
Mentioned books

Mar 2, 2025 • 16min
Elfi Conrad: Als sei alles leicht
Die Vorgeschichte zu „Schneeflocken wie Feuer“: Drei Frauen und ein Baby, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus Niederschlesien in Richtung Westen fliehen. Ein Buch über männliche Macht und weiblichen Widerstand.

Mar 2, 2025 • 1h 7min
SWR Bestenliste März
Shirin Sojitrawalla, Gerrit Bartels und Christoph Schröder diskutierten im Freiburger Literaturhaus vier auf der SWR Bestenliste im März verzeichneten Werke, die von tabuisierten Familiengeschichten und verdrängter Zeitgeschichte handeln.
Diskussion über vier Bücher
Zum Auftakt wurde der Roman „Als sei alles leicht“ von Elfi Conrad (Mikrotext Verlag) besprochen, der von drei Frauen und einem Baby erzählt, die Anfang 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee in einem Flüchtlingslager im damaligen Reichsprotektorat Böhmen und Mähren gelandet sind.
Das auf dem 6. Platz der SWR Bestenliste im März geführte Buch wurde auf dem Podium sehr unterschiedlich bewertet: Einzelszenen, die kollektive und persönliche Erinnerungen abrufen, wurden von Seiten der Jury gelobt, allerdings gab es auch deutliche Kritik an der literarischen Ausgestaltung der verschiedenen Erzählperspektiven.
Durchaus kontrovers waren auch die Gespräche über Feridun Zaimoglus Trauerbuch „Sohn ohne Vater“ aus dem Kiepenheuer und Witsch Verlag (Platz 5) und Christine Wunnickes historischen Roman „Wachs“ (Platz 3), der im Berenberg Verlag erschienen ist.
Erinnerung als literarischer Motor
Allein Vigdis Hjorths Roman „Wiederholung“ in der deutschen Übersetzung von Gabriele Haefs aus dem S. Fischer Verlag (Platz 2) wurde im gut besuchten Freiburger Literaturhaus einhellig gelobt.
Die norwegische Schriftstellerin beschreibt zunächst die atemlose Suche eines pubertierenden Mädchens nach ausgelassenen Partys und sexuellen Erfahrungen. Dabei wird sie von ihrer kontrollsüchtigen Mutter auf Schritt und Tritt überwacht.
Das groteske Scheitern eines „ersten Mals“ und die erfundenen Ausschweifungen im Tagebuch des Teenagers lösen eine Familienkrise aus, die zur frühkindlichen Missbrauchsgeschichte der Ich-Erzählerin führt.
Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Sebastian Mirow. Durch den Abend führte Carsten Otte.

Mar 2, 2025 • 17min
Vigdis Hjorth: Wiederholung
Hjorths Romane kreisen geradezu besessen um eine Familiengeschichte, die ihrer eigenen ähnelt. Ein Streit unter Geschwistern, der über Bücher ausgetragen wird. Im Zentrum: Eine traumatische Missbrauchserfahrung durch den eigenen Vater.

Mar 2, 2025 • 17min
Christine Wunnicke: Wachs
Wunnicke hat sich zur Spezialistin für präzise gearbeitete Kurzromane entwickelt, in deren Mittelpunkt historische Figuren stehen. Im neuen Roman schreibt sie über Marie Marguerite Bihéron, eine wegweisende Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten.

Feb 27, 2025 • 4min
Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt | Buchkritik
Der Amerikaner Chris Reiter und der Brite Will Wilkes arbeiten seit Jahren als Wirtschaftskorrespondenten in Deutschland. Reiter hat außerdem väterlicherseits Verwandte hier und ist mit einer Deutschen verheiratet, Wilkes kam bereits mit siebzehn Jahren zum ersten Mal hierher und studierte später Deutsch. Ihr Buch „Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt“, entstand aber, wie der Titel nahelegen könnte, nicht in dem Wunsch, rumzumeckern:
Wir möchten Licht auf die sich verdüsternden Zukunftsaussichten und den gefährdeten sozialen Zusammenhalt werfen – nicht aus Schadenfreude, sondern als konstruktiven Beitrag zu einer sich intensivierenden Debatte darüber, welchen Weg die Führungsmacht Europas in Zukunft einschlagen wird. Wir appellieren an die deutschen Bürger, zu der gemeinsamen Unerschrockenheit zurückzufinden, mit der ein Weg aus den Zerstörungen der Nazizeit gebahnt werden konnte.
Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt
Was hält Deutschland nach den Jahren des Wachstums noch zusammen?
Bereits nach Kriegsende bildete sich heraus, was nach Ansicht der beiden Journalisten Hauptursache für die Misere ist: Nur wachsender Wohlstand hielt das Land zusammen. Nun aber sei es vorbei mit dem Wachstum. Der Sozialhaushalt, der Preis für den Zusammenhalt, schrumpfe und es trete die Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher zutage.
Reiter und Wilkes zeigen zunächst die Ursachen auf, die zum wirtschaftlichen Abstieg führten, wobei sie immer veranschaulichende Reportageelemente und Lösungsvorschläge einbauen, was das Buch auch für wirtschaftliche Laien gut lesbar macht. Vieles ist bekannt: übermäßige Bürokratisierung, mangelnde Digitalisierung, eklatante Fehlentscheidungen bei Autoindustrie und Deutscher Bahn, Vernachlässigung der Infrastruktur.
Und schließlich die falsche Einschätzung der Bedrohung durch Russland, die zu einem energiepolitischen Desaster und der Vernachlässigung der Bundeswehr geführt hat. Alles geschah den Autoren zufolge vor dem gleichen Hintergrund – die Deutschen mögen keine Veränderung. Merkel hätte vor der Wahl 2005 sehr wohl im Blick gehabt, dass Deutschland umfassenden Wandel brauche, aber diese Forderung kostete sie Stimmen:
Merkel und ihr Team nahmen sich diese Lektion zu Herzen. Von nun an war sie eine andere Politikerin und stand nicht mehr für Wandel, sondern für Stabilität.
Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt
Wie die gesellschaftliche Spaltung überwinden?
Außen-, Energie- und Klimapolitik seien bis heute kurzfristiger Vermehrung des Wohlstandes verpflichtet und es wurde das Ziel verfehlt, Deutschland langfristig wirtschaftlich fit zu machen, urteilen die beiden.
So vergrößerte sich die Schere zwischen Arm und Reich, das Bildungssystem ermögliche keinen sozialen Aufstieg, das Gesundheitssystem begünstige Wohlhabende und vor allem sei durch bürokratische Vorgaben und Steuern für die Mehrheit der Menschen anders als in anderen EU-Ländern kein Wohneigentum mehr möglich.
Da wollen Reiter und Wilkes ansetzen – mit einem großangelegten, partizipativen Programm für preiswerten Wohnraum, das die gesellschaftliche Spaltung überwinden helfen soll. Die groben Linien skizzieren sie im Buch.
Das Programm bietet eine Hilfestellung bei der Vermögensbildung und könnte zugleich die soziale Ungleichheit bekämpfen. Die Gesellschaft würde auch indirekt davon profitieren, da zusätzlicher Wohnraum den Wohnungsmarkt entspannt. Darüber hinaus würde es die Stimmung im Land heben, denn es wäre ja ein Beleg dafür, dass Fortschritt im traditionsverhafteten Deutschland doch möglich ist.
Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt
Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer
Finanzieren wollen sie das Ganze über Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer.
Ein neues Deutschland während einer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise aufzubauen, wird nicht leicht vonstattengehen. Aber was ist die Alternative? Wenn man diese Probleme nicht angeht, öffnet man den völkischen Nationalisten die Tore noch weiter.
Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt
Chris Reiters und Will Wilkes' Buch “Totally kaputt. Wie Deutschland sich selbst zerlegt“ macht noch weitere Reformvorschläge und es wäre wünschenswert, dass Politik und Gesellschaft sie diskutieren.

Feb 26, 2025 • 4min
Wang Xiaobo – Das goldene Zeitalter | Buchkritik
Der Horror des „Großen Sprungs nach vorn“ – eine verheerende Hungersnot mit Millionen Toten – war erst einige Jahre her, da setzte Mao den nächsten Schrecken in Gang: die Kulturrevolution. Mit fortgesetztem Klassenkampf, Personenkult und Roten Garden gegen die selbstverschuldete Krise.
Der Schriftsteller Wang Xiaobo, geboren 1952, wurde damals als Achtzehnjähriger zur Landarbeit in die chinesische Provinz verschickt. Das geschieht auch seinem Alter Ego, dem Studenten Wang Er, der bitter feststellt:
Ich bin einundzwanzig. Das Goldene Zeitalter meines Lebens. Ich hatte eine Menge extravaganter Träume, ich wollte lieben, ich wollte essen (…). Erst später wurde mir klar: Leben heißt, dass man in einem langen, qualvollen Prozess die Eier zertrümmert kriegt.
Quelle: Wang Xiaobo – Das goldene Zeitalter
Der Roman „Das goldene Zeitalter“ ist ein Aufbegehren gegen diese Kastrationsdrohung. Wenn Wang Er von der Zeit in der Produktionsbrigade berichtet, ist deshalb weniger von der Sklavenarbeit die Rede als von renitenten und drastisch erzählten Liebesfreuden. Seine Partnerin dafür ist die hübsche junge Ärztin Chen Qingyang.
Ein „ausgelatschter Schuh“
Zur Strafe für die Abweisung der Avancen eines Militärkaders hat man sie ebenfalls aufs Land geschickt und ihr den Ruf angeheftet, ein „ausgelatschter Schuh“ zu sein – eine Frau mit lockerer Sexualmoral. Wang Er, der Chen wegen seiner vom Reispflanzen verursachten Rückenschmerzen aufsucht, rät ihr ab, nun demütig in Sack und Asche zu gehen. Sie solle den schlechten Ruf stattdessen als Privileg nutzen. Empört gibt ihm Chen eine Ohrfeige, taucht aber bald wieder bei Wang auf, um gemeinsam den Schuh auszulatschen.
Daraufhin hat das Paar bald die Rituale von öffentlicher Anprangerung und Beschimpfung, Selbstkritik und Umerziehung auszustehen. Wang wird verhaftet, er kann sich aber wieder freischreiben durch Schuldbekenntnisse – möglichst detaillierte Schilderungen der unehelichen sexuellen Aktivitäten, die die Parteibürokraten lesen wie einen erotischen Fortsetzungsroman.
Eigentlich hätten wir für unsere furchtbaren Verbrechen standrechtlich erschossen werden müssen, und es war allein der großen Gnade der Kader zu verdanken, dass wir nur Geständnisse schreiben mussten. (…) Die Kader behaupteten immer, meine Geständnisse seien nicht gründlich genug, ich müsse noch mehr gestehen.
Quelle: Wang Xiaobo – Das goldene Zeitalter
Trotzkopf im Kollektiv
Gegen den Kollektivismus lässt Wang Xiaobo einen individualistischen Trotzkopf antreten, der weniger vom großen Mao als vom „kleinen Mönch“ in seiner Hose angetrieben wird, wie das Kosewort für seinen unermüdlichen Freudenspender lautet. Die phallische Protzerei wird mit viel Charme, halb naiv und halb schlitzohrig, vorgetragen.
Wie jeder gute Schelmenroman ist „Das goldene Zeitalter“ in der Ich-Form erzählt, als handelte es sich um eine höchst authentische Autobiographie. In drei Teilen und in zeitlich verschachtelter Erzählweise werden die wichtigen Episoden und Erlebnisse aus Wang Ers Leben geschildert. Von Kind auf stellt er sich quer, eckt an in der Schule. „Der Bengel ist wie ein böser Erdgeist“, jammert sein Vater, schon als Frühgeburt in den Hungerjahren habe er ausgesehen wie eine „Abwasserratte“.
Ein nicht ganz freiwilliger Selbstmord
Trotzdem ist Wang Er später clever genug, eine Stelle als Biologiedozent zu ergattern. Von den merkwürdigen Zuständen an seinem Institut handelt der zweite Teil, der dritte dann unter anderem vom degradierten Herrn He, der eines Tages – wohl nicht ganz freiwillig – aus dem Fenster springt, einer der zahllosen „Selbstmorde“ zur Zeit der Kulturrevolution.
Auch wenn der Roman erst jetzt (und sehr gut) von Karin Betz ins Deutsche übersetzt worden ist – in China ist er seit langem ein Kultbuch, das zunächst nur in Taiwan veröffentlicht werden konnte. Dass er heute in China geduldet wird, hat damit zu tun, dass die Epoche der Kulturrevolution inzwischen auch parteioffiziell als schwere Verirrung beurteilt wird. Wie auch immer – „Das goldene Zeitalter“ ist gelungene und gewitzte Literatur.

Feb 25, 2025 • 4min
Andreas Beyer – Cellini. Ein Leben im Furor
Auf den Komponisten Arnold Schönberg geht das Bonmot zurück, dass Kunst nicht von ‚Können‘, sondern von ‚Müssen‘ komme – womit er vor allem die Vorstellung dekonstruierte, ein souverän agierender und in sich ruhender Mensch handle frei von materiellen Sorgen und körperlichen Beschwerden im Dienste des Guten, Wahren, Schönen.
Dass große Kunst jedoch immer auch mit Schmerzen, Versagensängsten und unbeherrschten Gefühlsausbrüchen zu tun hat, dafür steht wie kaum ein anderer der Florentiner Benvenuto Cellini, von dessen Autobiographie Goethe nicht zuletzt deshalb begeistert war – und sie ins Deutsche übersetzte –, weil Cellini sein Leben selbst zum Kunstwerk stilisierte.
Und dies ist auch der Ansatz, unter dem der Kunsthistoriker Andreas Beyer dem Goldschmied und Bildhauer Cellini ein Buch widmet, das den Untertitel ‚Ein Leben im Furor‘ trägt. Nicht nur die Werke des Florentiners stehen hier im Mittelpunkt, sondern vor allem die Umstände, die sie entstehen ließen.
Und zu diesen gehört ein überaus widersprüchlicher und aufbrausender Charakter, den Giuseppe Baretti, der Wiederentdecker der Autobiographie des Künstlers, wie folgt beschrieb: „Kühn wie ein französischer Artillerist, rachsüchtig wie eine Viper, überaus abergläubisch, voller bizarrer Einfälle und Launen.“
Dem Herrscher ebenbürtig
Und gewalttätig war er: Andreas Beyer schildert die Umstände der drei Morde, die Cellini im Laufe seines Lebens beging und die immer im Zusammenhang mit der Entstehung eines seiner Werke standen.
Es sind diese Werke – ob das berühmte ‚goldene Salzfass‘ für den französischen König François I oder der die Medusa tötende Perseus für den Medici-Herzog Cosimo I. –, welche dem Künstler in der frühen Neuzeit eine dem souveränen Herrscher ebenbürtige Stellung verschafften, nämlich über dem Gesetz; mit den Worten Andreas Beyers:
Die plenitudo potestatis des Künstlers, seine nur Fürsten vergleichbare Souveränität, findet in Cellini einen ihrer selbstbewusstesten Träger.
Quelle: Andreas Beyer – Cellini. Ein Leben im Furor
Der Künstler als Verbrecher
Andreas Beyers Berliner Kollege Horst Bredekamp hat vor einigen Jahren den bezeichnenden Titel „Der Künstler als Verbrecher“ für einen Vortrag gefunden, in dem er die Ästhetik vieler Künstler der frühen Neuzeit – wie Veit Stoß, Michelangelo oder Bernini – als Garantin ihrer Rechtsenthobenheit analysierte. Und Beyer zeigt, wie radikal diese Kunst-Souveränität von Cellini beansprucht und gelebt wurde.
Gleichzeitig macht er deutlich, dass diese Sonderstellung Ausdruck eines überaus modernen Künstler-Selbstbewusstseins ist – modern im Sinne der berühmten Pariser Querelle des 17. Jahrhunderts, in der die Überlegenheit des französischen Klassizismus über die Antike gepriesen wurde. Mehr als ein Jahrhundert früher preist der französische König Cellinis Jupiter-Darstellung dafür, dass dieses Werk jedem Vergleich mit antiken Vorbildern nicht nur standhalte, sondern diese sogar überträfen.
Daneben betont Beyer einen anderen, nicht weniger wichtigen Aspekt dieses exemplarischen Künstlerlebens, wenn er von der „künstlerischen Übertragungsleistung“ Cellinis spricht; mit dieser habe er offenbar kompensiert, was er weder öffentlich leben noch verbal zum Ausdruck bringen konnte. So manifestiert sich laut Beyer im ‚Perseus‘, der bis heute eine der Attraktionen der Loggia dei Lanzi im Herzen von Florenz ist, die Einlagerung der erotischen Energie des Künstlers als symbolischer Schöpfungsakt:
Cellini hat das Primat der unmittelbaren Herleitung der Kunst aus der Natur betont und so die zeitgenössische Doktrin von der nur geistigen Hervorbringung der Kunst konterkariert.
Quelle: Andreas Beyer – Cellini. Ein Leben im Furor
Einzelgänger und Außenseiter
À propos erotische Energie: Wie frauenverachtend, ja gewalttätig der bis in sein 62. Lebensjahr ewige Junggeselle Cellini war, erläutert Beyer an verstörenden Erzählungen aus diesem Leben, als dessen Konstante Uwe Neumahr in seiner 2021 zum 450. Todestag erschienen Cellini-Biographie den ewigen Kampf ausmachte. Ein Kampf, den er womöglich kämpfen musste, weil er ihm die Energie zu seiner außergewöhnlichen Kunst gab – die er schaffen musste.
Als einen notorischen Einzelgänger und ewigen Außenseiter beschreibt ihn Andreas Beyer im letzten Satz seines Buches – und als einen, „der in seiner Vereinzelung zur Essenz modernen Künstlertuns geworden war.“

Feb 24, 2025 • 4min
Etel Adnan – Hochbranden
Regen. Salzwasser. Wellen. Schon die ersten Bilder – oder sollte man sagen Elemente? – in Etel Adnans Band „Hochbranden“ ziehen einen hinein in das evokative Universum dieser Dichterin und Denkerin. Es sind sinnstiftende, da programmatische Bilder. Denn wie Wellen und das Meer kräuseln sich in diesem Band auch die Gedanken und Überlegungen in einer unendlichen Bewegung.
Regen kehrt zum Klang seines Ursprungs zurück, wenn die Nacht sich ausbreitet; über dem Land ist die Nacht so lang wie die verlassenen Straßen einer Stadt ... oder der Weg zu fernen Galaxien.
Quelle: Etel Adnan – Hochbranden
Erkundungen über das Sein
Tatsächlich ist „Hochbranden“ eine tiefgründige Erkundung von grundlegenden Fragen des Seins: Was ist Identität? Was ist Realität? Wo sind die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Selbst? Der Band ist zusammengesetzt aus einem längeren Prosa-Gedicht und einem dreiteiligen Zyklus mit dem Titel „Gespräche mit meiner Seele“. Was die Texte eint, ist die fragmentarische Form des philosophischen Aphorismus.
Niemand weiß, woraus das Leben entspringt, aber es entspringt, wie die Realität aus einem Heidegger-Buch. Normalerweise sehe ich einen Teppich auf dem Boden, Stühle, wahrscheinlich einen Hund, ganz einfach. Und wahrscheinlich alles falsch.
Quelle: Etel Adnan – Hochbranden
Immer wieder versinnbildlicht Adnan mit solch unerwarteten Wendungen: Es gibt keine eindeutigen Antworten auf die großen existentiellen Fragen. Im Gegenteil: Fast lustvoll bricht die Autorin mit der Illusion, es gäbe so etwas wie ein letztes Wissen.
Spirituelle Gelassenheit, kindliche Neugier
Spirituelle Gelassenheit ist deshalb in diesen Texten ebenso zu vernehmen wie Adnans lebenslang ungetrübte, fast kindlich anmutende Neugier auf alles, das sie umgibt: vom Nebel im geliebten San Francisco bis zum Mond am fernen Horizont. Zugleich ist nichts darin reine Abstraktion: Etel Adnan war bereits 93 Jahre alt bei Erscheinen des Bandes. Alles, worüber sie schreibt, ist durchtränkt von den Erfahrungen ihres langen Lebens. Dazu zählt auch das Nachdenken über den Tod:
Wir spüren nur zu gut dieses Hochbranden einer Angst in der Obskurität der Organe, diese Obskurität, diesen inzestuösen Schmerz.
Quelle: Etel Adnan – Hochbranden
Das Grenzenlose denken. Denken ohne Grenzen
Adnan weiß um diesen Schmerz. Aber indem sie sich selbst in den endlosen Seins-Kreislauf von Vergehen und Werden einwebt, verweigert sie dem Tod die Macht über sich und ihr Denken. Dieses Denken ist grenzenlos – wie die Gezeiten. Überhaupt: Grenzen zu überwinden ist tief in die Poetik von Etel Adnan eingeschrieben.
Berge steigen in uns auf, wie es die Sprache tut, machen aus der Analogie einen wesenhaften Teil des Denkens (somit des Daseins). Daher sind Berge Sprachen und Sprachen sind Berge. Wir sprechen beides.
Quelle: Etel Adnan – Hochbranden
Diese Grenzenlosigkeit erlaubt es Adnan auch, Poesie und politische Realitäten mühelos miteinander zu verbinden. So lässt sie mit nur wenigen Worten das Bild einer scheinbaren Idylle in die Versehrungen einer Welt münden, die von Krieg und Vertreibung heimgesucht ist.
Züge zu nehmen, ist beruhigend: Ihr gleichmäßiger Rhythmus durchdringt die Landschaften, die sie durchqueren, während viele Flüchtlinge, die am Rande von Kriegen leben, diesen Rhythmus in ihren Adern tragen. Aber in einer Stadt anzukommen, ist eine andere Geschichte: Es bedeutet, Kriegsherren in die Arme zu laufen, die ganze Ortschaften niedergemäht haben.
Quelle: Etel Adnan – Hochbranden
Und doch: „Hochbranden“, von Klaudia Ruschkowski in ein glasklares Deutsch übertragen, spendet Trost: Denn auch Etel Adnans Liebe zu allem Seienden ist: grenzenlos. Wer sich mit ihr auf Reise begibt, ist gerüstet für eine ungekannte Zukunft.

Feb 23, 2025 • 7min
Tine Høeg – Hunger | Buchkritik
Dieser Roman ist das Dokument einer neun Monate dauernden Tortur. Doch keine neun Monate, in denen im Körper der Ich-Erzählerin Mia ein Kind heranwächst, sondern neun Monate, in denen sie verzweifelt versucht, schwanger zu werden. Mia ist 35, lebt in Kopenhagen und ist eine bekannte Autorin und schillernde Persönlichkeit.
Auf der Straße wird sie erkannt und auf ihre Romane angesprochen, die auch im Theater auf die Bühne kommen. Mia ist mit dem etwas älteren Emil zusammen und sie versuchen seit einem Jahr ein Kind zu bekommen – als das nicht klappt, unterzieht sich Mia einer Fertilitätsbehandlung mit anschließender künstlicher Befruchtung.
Medizinische Prozeduren
Der Roman hat die Form eines Tage- oder Notizbuchs, in dem Mia täglich die medizinisch komplizierten, schmerzhaften und immer wieder dramatisch enttäuschenden Prozeduren festhält, denen ihr Körper ausgesetzt ist.
2. Mai: Ich bin es die Hormone nehmen muss, zwei Tabletten oral in den ersten fünf Zyklustagen um meine Eizellen zur Reife zu bringen, vielleicht kann ich zwei oder sogar drei produzieren, wie eine Käfighenne der man Gift spritzt damit sie schneller wächst, ich bin es die zum Ultraschall muss, und wenn die Eibläschen groß genug sind bin ich es der man in den Bauch sticht um den Eisprung in Gang zu setzen, und sechsunddreißig Stunden später bin ich es die mit Emils Samen befruchtet wird, und ich bin es die sich anschließend morgens und abends Zäpfchen in die Scheide stecken muss um meine Schleimhaut so zu stärken dass sie das Ei festhält. Vielleicht wäre es ganz gut wenn du damit aufhörst die ganze Zeit daran zu denken sagte Emil neulich und ich hätte schreien oder lachen können. Wie sollte das möglich sein? Ich bin allein ich fühle einen Hunger von dem ich nicht weiß ob er je gestillt wird.
Quelle: Tine Høeg – Hunger
Dieser „Hunger“ nach einem Kind wird zur alles vereinnahmenden Obsession der Erzählerin Mia; ein Hunger, der alles andere verdrängt und ein Leben ohne Kind sinnlos erscheinen lässt.
Literarische Sogwirkung
Die Autorin Tine Høeg kreiert im für sie typischen notizhaften Stil von hingeworfenen Gedanken, schnell aufeinander folgenden Sätzen ohne Punkt und Komma das sprachliche Abbild eines inneren Sogs. Mit ihm wird man - rhythmisch, dicht und poetisch – hineingezogen in den alles beherrschenden Wunsch nach einer ersehnten Schwangerschaft.
3. Juni: Negativer Test 4. Juni: Ich will jetzt besser sein. Ich will fröhlicher sein, alles von der heiteren Seite betrachten. Meltdown gestern Abend. Lust zu sterben, ich will mich kneifen, mich blutig kratzen, ich will an einem dunklen Meer stehen und schreien. Eins werden mit meinem Schrei was ist los fragt Emil. Mia, was ist los? Ich glaube nicht, dass es klappt sage ich. Emil ist still. Dann sagt er verbissen: aber ich glaube es. Ich sehe ihn an und er weint
Quelle: Tine Høeg – Hunger
Der Roman „Hunger“ ist ein eindrucksvolles Protokoll davon, wie das gesellschaftliche Ideal einer eigenen biologischen Familie sich in sein dunkles Gegenteil verkehrt, sobald die Körper nicht entsprechend funktionieren. Denn obwohl es Emils Spermien sind, die zu großem Teil nicht zeugungsfähig sind, wird das Versagen einer ausbleibenden Schwangerschaft der Frau angelastet. In ihrem Körper wird der Kampf um ein Kind ausgetragen.
Schwanger werden oder sterben
Die vielen fehlgeschlagenen Versuche der künstlichen Befruchtung, die körperlichen Belastungen durch die Hormone, die wiederkehrenden Enttäuschungen der negativen Schwangerschaftstest – all das lässt die ungewollte Kinderlosigkeit für Mia zu einer allmählichen Nahtoderfahrung werden.
„Ich will schwanger werden oder sterben“ ist ein wiederkehrender Satz aus „Hunger“, der ihr Erleben auf den Punkt bringt. Als ihre Emotionen immer extremer werden und für ihre Umwelt immer weniger nachvollziehbar, droht der Wunsch nach einem Kind auch die Beziehung zu zerstören:
24. November: Aber ich erlebe ja das alles weil ich mich so wahnsinnig danach sehne Mutter zu werden. Das ist das Brennglas durch das ich alles sehe, und ich empfinde tiefen Hass gegenüber allen bei denen dieses Bedürfnis gestillt ist. Ich denke an den Körper der Frau. Brutalität und Tod ob sie nun gebiert, abtreibt oder nicht schwanger werden kann, der Körper der Frau ist ein Ort der Gewalt. Du kultivierst deine schlechten Gefühle, sagt Emil. Gestern sagte er: manchmal habe ich das Gefühl ich bin nur Statist für deine Gefühle
Quelle: Tine Høeg – Hunger
Das einzige, an was Mia sich halten kann, ist ihr Schreiben, das schriftliche Festhalten ihrer Erlebnisse.
10. Juli: Meine Arbeit muss sein: diesen Text schreiben. Ich hatte das Schreiben als eine Fluchtmöglichkeit gesehen. Ich wollte eine andere Welt schaffen, aber ich muss hierbleiben. Mit meinem Blut schreiben. Kein Schluss, keine Erlösung, kein Plot nur endloser langwieriger Schrecken
Quelle: Tine Høeg – Hunger
Kinderlosigkeit als Strafe
In diesem Raum des Schreibens entwickelt Tine Høeg auch ein gesellschaftliches kritisches Nachdenken über Fruchtbarkeit und den daran gebundenen Wert eines Frauenkörpers.
Sie erkundet die bis heute einflussreiche Bedeutung von Schwangerschaft in der christlichen Tradition; in der Kinderlosigkeit die Strafe Gottes bedeutet was in der Entwicklung der Medizin wiederum dafür sorgte, dass Zeugungsunfähigkeit bei Männern bis heute wenig erforscht ist. Und sie beobachtet mit größer Härte gegen sich selbst, dass die ausbleibende Schwangerschaft in den weiblichen Selbsthass führen kann.
5. Juli: Ich habe Angst die Verbindung zu meinem Körper zu verlieren. Ich hasse ihn, sage ich zu Emil. Ich ertrage es nicht ihn länger anzusehen. Ich habe Lust ihn abzuschrauben und ihn den Ärzten zu geben und nur ein Kopf zu sein bis ich schwanger bin. Ich habe Lust darauf von mir selbst befreit zu werden. Von jetzt an will ich nicht mehr hoffen, das ist zu hart.
Quelle: Tine Høeg – Hunger
Ob Mia am Ende doch noch schwanger wird, lässt das Buch offen. Es endet nach neun Monaten Aufzeichnungen und entlässt ganz bewusst nicht in ein glückliches Ende. In jeder Zeile Schmerz „Hunger“ ist ein verstörend aufrichtiges und oft aufwühlendes Protokoll von der unbedingten Sehnsucht nach Mutterschaft.
Tine Høeg hat ein eindrucksvolles autofiktionales Buch geschrieben, in dem aus jeder Zeile der Schmerz spricht. Darüber hinaus fragt es kritisch nach dem infrage gestellten Wert eines Frauenkörpers, wenn er nicht das leistet, was ihm kulturell und gesellschaftlich als Last auferlegt ist – nämlich: neues Leben in die Welt zu setzen.

Feb 23, 2025 • 25min
Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten
Ein wichtiger Schauplatz: Der „Magasin“, ein Laden für russische Spezialitäten in Leipzig. „Ich nehme mir in diesem Buch Freiheiten, die ich mir noch nie genommen habe", sagt der Autor und Journalist Dmitrij Kapitelman.
Frische sprechende Fische im „Magasin“
In seinem Roman „Russische Spezialitäten“ finden sich allerlei surreale Momente: Menschen verwandeln sich in überdimensionierte Zigaretten, Fische und Maschinengewehre fangen an zu sprechen. Für Kapitelman sei das ein Weg gewesen, um „die Bizarrheit unserer Gegenwart einfangen zu können“. Um näher an die Realität rankommen zu können, habe er ins Fantastische ausweichen müssen.
Parallelen zum Leben des Autors
Die Realität, das ist der „Magasin“, der Laden für russische Spezialitäten in Leipzig, der den Eltern seiner Hauptfigur Dmitrij gehörte. Und diese Realität, das ist auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, das Geburtsland des Erzählers.
Dass sein Held genauso heißt wie er, sei kein Zufall, sagt Dmitrij Kapitelman. Auch er ist in Kyjiw geboren und es gab auch den Laden seiner Eltern in Leipzig:
Aber es ist mir wichtig, dass es ein Roman ist, der viel mehr Perspektiven zeigt als die, die persönlich kenne. Und es ist ein Roman über autoritäre Gewalt und über Wahrheitsfälschung.
Quelle: Dmitrij Kapitelman
Wem gehört die russische Sprache?
Diese Wahrheitsfälschung flimmert im Roman tagtäglich ins Wohnzimmer von Dmitrijs Mutter: Sie schaut russisches Staatsfernsehen und glaubt der Propaganda über die Ukraine und den Krieg. Für Dmitrij ist das schwer auszuhalten.
Seine Mutter und seine Muttersprache fühlen sich für ihn fremd an, gleichzeitig aber möchte er diese Entfremdung nicht zulassen: „Die Liebe zur russischen Sprache wie zur russischen Mutter ist ein zentrales Motiv in diesem Buch. Das ist emotional wichtig und es ist eine politische Emanzipation, denn diesem Regime im Kreml gehört diese Sprache nicht. Es hat sie vor ihnen gegeben und es wird sie nach ihnen geben", so Kapitelman.
Das schwerste Buch über eine schwierige Zeit
Dmitrij Kapitelman ist vergangenes Jahr selbst nach Kyjiw gereist. Die Erfahrungen von dort verarbeitet er im zweiten Teil seines Romans: Luftalarm, Fahrten in die befreiten Orte Butscha und Borodjanka, schwierige Gespräche mit Freunden über die Angst, ins Militär eingezogen zu werden.
Es sei das schwerste Buch gewesen, denn er schreibe über die schwerste Zeit, sagt Kapitelman: „Die Ereignisse, mit denen ich darin ringe, sind so viel blutiger, als ich gedacht hätte, dass sie es je werden"


