Andreas Reckwitz, Soziologe und Experte für gesellschaftliche Veränderungen, teilt seine Sichtweisen über Verlusterfahrungen in der modernen Welt. Er diskutiert, wie dystopische Perspektiven den Fortschrittsoptimismus beeinflussen und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verlust transformieren. Reckwitz beleuchtet die Herausforderungen des Alterns und den Druck zur Jugendlichkeit, sowie das Konzept des 'Asketen der Zukunft', welcher Verzicht als Möglichkeit zu mehr Lebensqualität begreift. Eine tiefgründige philosophische Betrachtung des Themas Verlust wartet auf die Zuhörer.
Die moderne Gesellschaft hat einen kollektiven Verlust des Glaubens an eine positive Zukunft erlebt, was das Bedürfnis nach Utopien verstärkt hat.
Dystopien gewinnen an Glaubwürdigkeit, da sie realistische Darstellungen zukünftiger gesellschaftlicher Krisen bieten und das Vertrauen in Utopien schwindet.
Ein realistischer Umgang mit Verlusten erfordert die Anerkennung ihrer Existenz sowie eine Rückbesinnung auf alte Rituale zur Verarbeitung von Trauer.
Deep dives
Der Verlust des Optimismus
Die moderne Gesellschaft hat einen kollektiven Verlust des Glaubens an eine positive Zukunft erfahren, was zu einem verstärkten Bedürfnis nach Utopien führt. Dies zeigt sich in der allgemeinen Wahrnehmung, dass sich die Zukunft nicht mehr zum Besseren entwickeln wird. Statistiken deuten darauf hin, dass viele Menschen nicht mehr daran glauben, dass zukünftige Generationen bessere Lebensbedingungen haben werden. In einem Kontext, in dem Dystopien zunehmend in der Popkultur vorkommen, ist das Gefühl vorherrschend, dass negative Entwicklungen mehr Gewicht haben als positive Fortschritte.
Die Rolle der Dystopien
Dystopien gewinnen an Glaubwürdigkeit und Popularität, während Utopien an Vertrauen verlieren. Dies liegt daran, dass viele dystopische Narrative ein realistisches Bild zukünftiger gesellschaftlicher und ökologischer Krisen zeichnen. Serien wie 'The Handmaid's Tale' verdeutlichen, wie nah diese düsteren Zukunftsvisionen der Realität erscheinen können. Die Historie zeigt, dass Dystopien bereits seit den Anfängen der Moderne existieren, doch ihre Häufigkeit und Beliebtheit hat in den letzten zwei Jahrzehnten stark zugenommen.
Gesellschaftlicher Umgang mit Verlusten
Um Verluste besser zu bewältigen, muss die moderne Gesellschaft lernen, deren Existenz anzuerkennen, anstatt sie zu tabuisieren. Verlustserfahrungen sind seit jeher Teil des Menschseins, doch der moderne Fortschrittsglaube macht diese schwieriger zu akzeptieren. Wenn Individualismus und Fortschritt versprechen, dass alles besser wird, erscheinen Verluste als Versagen, was den emotionalen Schmerz verstärkt. Es benötigt eine Neubewertung des Umgangs mit Verlusten, um emotionale Resilienz wiederherzustellen.
Kultureller Wandel und Verlust
Der Gedanke, dass Verluste unvermeidbar sind, ist mit einem kulturellen Wandel verbunden, der der modernen Gesellschaft oft fehlt. In früheren Zeiten wurde Verlust durch Rituale und soziale Praktiken verarbeitet, was im modernen Kontext immer seltener wird. Die heutige Gesellschaft versucht oft, das Unvermeidbare zu ignorieren oder zu verdrängen, was die Trauer um das Verlorene verstärkt. Um mit Verlusten besser umzugehen, könnte eine Rückbesinnung auf alte Praktiken und den Austausch über Verlusterfahrungen notwendig sein.
Realistische Perspektiven für die Zukunft
Ein realistischerer Umgang mit der Zukunft beinhaltet sowohl das Akzeptieren von Verlusten als auch das Erkennen von Chancen. Es wird betont, dass Pessimismus und Optimismus nicht die einzigen Perspektiven sind, sondern ein ausgewogener Realismus gefordert ist, der zukünftige Herausforderungen realistisch einschätzt. Angesichts gegenwärtiger Bedrohungen, wie den Klimawandel, muss die Gesellschaft lernen, mit Unsicherheiten umzugehen und gleichzeitig Veränderungen zu gestalten. Diese Herangehensweise könnte helfen, sowohl individuelle als auch kollektive Traumata zu bewältigen, während man weiterhin Fortschritte für kommende Generationen anstrebt.
Im Moment nehmen wir Verluste in vielen gesellschaftlichen Bereichen stärker wahr als Fortschritt. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht mit Jürgen Wiebicke darüber, wie wir besser mit persönlichen und gesellschaftlichen Verlusten umgehen können.
Andreas Reckwitz (*1970) istGesellschafts- und Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin und zählt zu den einflussreichsten deutschsprachigen Soziologen der Gegenwart. Für sein Sachbuch "Verlust" wurde er mit dem Sachbuchpreis "Das politische Buch" 2025 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet.
Dystopie versus Utopie: Negative Zukunftsvorstellungen nehmen zu (02.03)
Die Moderne propagiert Fortschritt – die Spätmoderne fürchtet Verluste (06:15)
Der Tod als Beleidigung moderner Gesellschaften (13:05)
Buddhismus: Berechenbarkeit loslassen und Veränderung akzeptieren (17:08)
Warum weder Pessimismus noch Optimismus uns nützen (22:35)
Warum gesellschaftliche Verluste schwer zu ertragen sind und wie Populisten das ausnutzen (27:12)
Altern als schmerzhafte persönliche Verlusterfahrung – und Lernprozess (30:20)
Askese: Über Verzicht als freiwilligem Verlust(35:38)
Warum man den negativen Emotionen nach Verlust Raum geben muss (43:53)
Warum nicht jedes Verschwinden auch Verlust bedeutet (51:50)
Literatur: Andreas Reckwitz (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag. 463 Seiten. 32 Euro. ISBN 978-3518588222.
Philosophieren Sie mit über die großen Themen unserer Zeit. Das philosophische Radio mit Jürgen Wiebicke immer montags um 19:04 Uhr live in WDR 5. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/index.html
Im nächsten Podcast sprechen wir mit Eva Schürmann über Theorien des Sehens.
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