Andrea Böhm, Sudan-Expertin der ZEIT, diskutiert die verheerende humanitäre Krise im Sudan und die dramatische Fluchtbewegung nach Adré im Tschad. Sie beleuchtet die brutalen Kämpfe zwischen den paramilitärischen Rapid Support Forces und der regulären Armee, die die Zivilbevölkerung dramatisch beeinflussen. Im Flüchtlingslager Adré trotz der widrigen Bedingungen eine bemerkenswerte Gemeinschaft entstanden ist. Die Herausforderungen bei der Lebensmittelhilfe und der sehnliche Wunsch der Menschen nach Rückkehr und Frieden werden ebenfalls thematisiert.
Der anhaltende Konflikt im Sudan hat seit April 2023 über 14 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen und eine der größten humanitären Krisen der Welt ausgelöst.
Trotz widriger Bedingungen im Flüchtlingslager Adré im Tschad schaffen es die Flüchtlinge, durch Selbstorganisation und Unterstützung der Diaspora eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen.
Deep dives
Flucht und humanitäre Krise im Sudan
Der Sudan erlebt derzeit eine massive humanitäre Krise, da über 11 Millionen Menschen innerhalb des Landes geflohen sind und weitere 3 Millionen in Nachbarländer wie den Tschad gehalten haben. Der Konflikt zwischen der nationalen Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) hat zu extremer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung geführt, einschließlich Luftangriffe auf Wohngebiete und verheerende Verbrechen wie Massenvergewaltigungen und plünderungen. Die Kämpfe bringen Erinnerungen an frühere Konflikte und ethnische Vertreibungen in Regionen wie Darfur zurück, wo die Bevölkerung schwer unter den wiederholten Angriffen leidet. Diese Situation hat sowohl interne als auch externe Akteure mobilisiert, die versuchen, humanitäre Hilfe zu leisten und das Überleben der betroffenen Menschen zu sichern.
Das Flüchtlingscamp in Adre
Im Tschad hat sich ein großes Flüchtlingslager in der Stadt Adre gebildet, wo mittlerweile über 200.000 sudanesische Flüchtlinge Schutz suchen. Trotz der prekären Bedingungen, wie dem Mangel an Schulen, fließendem Wasser und Strom, haben die Flüchtlinge eine organisierte Gemeinschaft gebildet, die sich in verschiedene Bereiche oder 'Stadtteile' aufgeteilt hat. Innerhalb dieser Struktur gibt es Märkte, Schneider und sogar ein provisorisches Verwaltungssystem mit gewählten Vertretern, die sich um die Bedürfnisse der Lagereinwohner kümmern. Der Mut und die Ressourcen der Flüchtlinge haben es ihnen ermöglicht, inmitten des Elends ein gewisses Maß an Ordnung und Unterstützung zu schaffen.
Selbstorganisation im Camp Adre
Die Selbstorganisation der Flüchtlinge im Camp Adre zeigt enorme Resilienz und Kreativität, indem sie Verantwortung für ihre Bedürfnisse übernehmen. Es gibt verschiedene Komitees, die sich um Müllabfuhr, Wasserversorgung und rechtliche Hilfe kümmern, sowie Gesundheitszentren, in denen sie ihre eigenen medizinischen Versorgungen aufbauen. Diese Selbsthilfe wird durch die große Diaspora von Sudanesen unterstützt, die Spenden sammeln, um die Einrichtungen zu unterhalten und sicherzustellen, dass beispielsweise Gesundheitsversorgung und Essensverteilung stattfinden können. Trotz der Herausforderungen gelingt es den Bewohnern, ein funktionierendes System innerhalb des Camps aufzubauen, das ihnen eine gewisse Stabilität und Hoffnung gibt.
Die grundlegenden Bedürfnisse und Herausforderungen
Die humanitäre Unterstützung durch internationale Organisationen ist unerlässlich, um die wachsenden Bedürfnisse der Flüchtlinge im Camp Adre zu erfüllen. Das World Food Programme und andere NGOs haben die schwierige Aufgabe, Lebensmittel und Ressourcen zu beschaffen und zu verteilen, da das Camp aufgrund der immer größer werdenden Anzahl an Flüchtlingen an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Die Flüchtlinge sind stark auf diese Hilfsorganisationen angewiesen, um das Überleben in einer Umgebung zu sichern, die selbst von Herausforderungen wie politischen Unruhen und finanziellen Einschränkungen geprägt ist. Dennoch besteht in der Gemeinschaft immer noch die Hoffnung auf eine Rückkehr nach El Jeneyna, sobald der Konflikt endet und die grundlegenden Lebensbedingungen wiederhergestellt werden können.
Der Krieg im Sudan dauert weiter an. Seit dem 15. April 2023 kämpfen die sudanesischen Streitkräfte (SAF) gegen die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF). Angeführt werden die beiden Streitparteien von Machthaber und De-facto-Staatsoberhaupt Abdel Fattah Abdelrahman Burhan (SAF) und seinem ehemaligen Vize Mohammed Hamdan Daglo (RSF). Mehr als 14 Millionen Menschen sind mittlerweile auf der Flucht, nach Angaben der UN forderte der Konflikt bereits mehr als hunderttausend Tote und Verletzte, es handle sich um eine der größten humanitären Krisen der Welt.
Besonders betroffen ist die Region West-Darfur. Dort wurde im Juni 2023 in der Hauptstadt El Geneina ein Mord begangen, der eine riesige Fluchtbewegung in das nahe gelegene Nachbarland Tschad zur Folge hat. Das Mordopfer hieß Khamis Abakar, er war Gouverneur von West-Darfur. Abakar hatte öffentlich vor einem Genozid an der ethnischen Gruppe der afrikanischstämmigen Masalit, der auch er angehörte, gewarnt. Daraufhin wurde er von den arabischstämmigen Paramilitärs der Rapid Support Forces (RSF) getötet. Nach dem Tod von Gouverneur Khamis Abakar wurden die Masalit aus ihren Stadtvierteln in El Geneina brutal vertrieben oder ermordet.
An diesem Punkt kommt die Stadt Adré im Tschad ins Spiel. Dort sind die vielen Vertriebenen aus El Geneina hingeflohen. Adré, ursprünglich eine Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern, zählt mittlerweile mehr als 200.000 Menschen, die meisten davon Geflohene aus dem Sudan. Adré gehört somit zu den vier größten Flüchtlingslagern der Welt.
Andrea Böhm, Sudan-Expertin der ZEIT, war im Oktober 2024 in Adré. Dort erwartete sie, zwischen all dem Elend, ein außerordentlich organisiertes und strukturiertes Leben im Flüchtlingslager. Die Einwohner, die aus El Geneina nach Adré geflüchtet sind, haben eine Kopie ihrer eigenen Stadt aufgebaut, inklusive gesellschaftlicher Strukturen. Es gibt gewählte Vertreter, eine strukturierte Essensausgabe, Friseure und Schneider. In dieser Spezialfolge von "Was jetzt? " fragt Helena Schmidt bei Andrea Böhm nach, wie das tägliche Leben in Adré vonstattengeht und was genau Adré im Vergleich zu anderen Flüchtlingscamps so besonders macht.