Oliver Nachtwey: Das moderne Freiheitsversprechen, gescheitert? [live]
Apr 5, 2023
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Oliver Nachtwey ist Professor an der Universität Basel und forscht zu sozialen Bewegungen, während Rahel Süß als Postdoc an der Humboldt-Universität die Mehrdimensionalität des Freiheitsbegriffs untersucht. Sie diskutieren die komplexe Beziehung zwischen Freiheit und der Querdenker-Bewegung. Kritische Analysen entlarven autoritäre Züge in libertären Bewegungen. Zudem sprechen sie über den Einfluss der Digitalisierung auf soziale Strukturen und die Idee einer experimentellen Demokratie als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen.
Der Begriff Freiheit wird unterschiedlich interpretiert, wobei individuelle Ansprüche oft zu autoritärem Verhalten führen können.
Das Konzept der experimentellen Selbstverwirklichung fördert individualistische Denkweisen und ignoriert gesellschaftliche Missstände.
Die fortschreitende Digitalisierung verspricht mehr Freiheit, erhöht jedoch gleichzeitig die Komplexität und Unsicherheit des individuellen Lebens.
Deep dives
Die Definition von Freiheit und Kränkung
Der Begriff Freiheit hat eine komplexe Bedeutung, die von Menschen unterschiedlich interpretiert wird. Während einige Protestierende während der Corona-Pandemie für ihre individuelle Freiheit eintraten, ist dies oft mit Kränkungen verbunden, die aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit resultieren. Es ist wichtig zu beachten, dass diese Menschen nicht unbedingt dieselbe Freiheitssicht teilen, die das Grundprinzip liberaler Demokratien bildet. Diese Differenzierung ist entscheidend, um zu verstehen, warum während der Proteste oft widersprüchliche und extremistische Ideen nebeneinander existierten.
Der libertäre Autoritarismus
Die Untersuchung des Querdenken-Milieus hat zur Entstehung des Begriffs 'libertärer Autoritarismus' geführt, der ein neues Phänomen beschreibt. Hierbei handelt es sich um Menschen, die sich gegen staatliche Maßnahmen wehren und gleichzeitig versuchen, ihre eigene Freiheit in einer absoluten Form zu beanspruchen. Diese Art der Freiheit ist oft gepaart mit einer Kränkung, sodass Individuen trotz eines Anstiegs an Freiheitsmöglichkeiten das Gefühl haben, dass ihnen etwas vorenthalten wird. Dies zeigt, wie eine individuelle Wahrnehmung von Freiheit zu autoritärem Verhalten führen kann, wenn die eigenen Ansprüche nicht erfüllt werden.
Selbstverwirklichung und Gesellschaftskritik
Das Konzept der experimentellen Selbstverwirklichung spielt eine zentrale Rolle im aktuellen Verständnis von Freiheit. Statt sich auf gesellschaftliche Hierarchien zu emanzipieren, streben Individuen hauptsächlich danach, ihre eigenen Ziele zu erreichen und sich selbst zu optimieren. Dies führt allerdings zu einer Entkopplung von kollektiver Gesellschaftskritik, da die Verbesserung der eigenen Position Vorrang hat. Eine solche individualistische Denkweise, die sich weniger um Gemeinschaft und mehr um persönliches Wachstum kümmert, könnte langfristig dazu führen, dass gesellschaftliche Missstände ignoriert werden.
Die Rolle der Digitalisierung und Anonymität
Die fortschreitende Digitalisierung trägt zur Herausforderung von Freiheit und Selbstbestimmung bei, indem sie verstärkt auf Anonymität und Abhängigkeiten hinweist. Insbesondere während der Pandemie wurden Menschen gezwungen, anonymen Experten zu vertrauen, was als Verlust der Autonomie erfahren wurde. Diese Abhängigkeiten werden durch neue Technologien verstärkt, die sowohl Optionen zur Selbstverwirklichung bieten als auch gleichzeitig die Kontrolle über individuelle Entscheidungen vermindern. In diesem Zusammenhang wird die Zunahme von Freiheit zwar versprochen, gleichzeitig steigt jedoch die Komplexität und Unsicherheit des Lebens.
Experimentelle Demokratie als Lösungsansatz
Die Idee der experimentellen Demokratie zielt darauf ab, eine zukunftsorientierte Form der Demokratie zu fördern, die den Fokus auf Alternativen und Konflikte gesellschaftlicher Ressourcen legt. Dies bedeutet nicht nur, neue politische Institutionen auszuprobieren, sondern auch demokratische Prozesse als kontinuierliche Entwicklung zu begreifen. Eine erfolgreiche experimentelle Demokratie würde die Notwendigkeit herausstellen, Konflikte um Macht und Ressourcen zu diskutieren, anstatt sie zu vermeiden. Indem man demokratische Prinzipien als Lebensweise versteht und nicht auf politische Systeme beschränkt, können Gesellschaften die Herausforderungen des modernen Lebens besser bewältigen.