Ute Frevert, Historikerin und Expertin für menschliche Emotionen, und Leon Windscheid, Psychologe und Podcaster, untersuchen, wie sich unsere Gefühle im Laufe der Geschichte verändert haben. Sie diskutieren die emotionale Dimension historischer Figuren wie Heinrich VIII. sowie den kulturellen Wandel von Liebe und Trauer. Zudem thematisieren sie, wie Sprache unser Empfinden prägt und die komplexe Beziehung zwischen biologischen Reaktionen und langfristiger Liebe. Der bewusste Umgang mit Emotionen wird als Schlüssel für psychische Gesundheit hervorgehoben.
Die Emotionen von Heinrich VIII. verdeutlichen, wie persönliche Gefühle politische Entscheidungen enorm beeinflussen können, insbesondere in Zeiten persönlicher Krisen.
Historiker argumentieren, dass sich Emotionen im Laufe der Zeit verändern und Menschen in der Vergangenheit anders fühlten als heute, was kulturelle Unterschiede verdeutlicht.
Sprache spielt eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von Emotionen, da das Fehlen spezifischer Wörter in einer Kultur die Anerkennung bestimmter Gefühle beeinflusst.
Deep dives
Der Wunsch nach einem Thronfolger
Der junge, starke König hatte eine kluge und bezaubernde Königin, doch das Paar blieb viele Jahre ohne den sehnlich gewünschten Thronfolger. In seiner Verzweiflung führte der König weitreichende Maßnahmen durch, da ihm der Papst nicht half, seine Frau zu verlassen. Er entschied sich, seine Kirche zu spalten, um seine erste Ehe zu annulieren und heiratete daraufhin mehrere Frauen, doch keine bescherte ihm den erhofften Sohn. Dies führte zu einem Kreislauf aus Ehen und Scheidungen, der in der Hinrichtung von zwei seiner Frauen gipfelte, was seine Besessenheit nur verstärkte, einen männlichen Nachkommen zu bekommen.
Die Emotionen von Heinrich VIII.
Die Geschichte von Heinrich VIII. verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen persönlichen Emotionen und politischen Entscheidungen. Trotz seiner brutalen Maßnahmen war Heinrich bekannt für seine leidenschaftlichen und oft wechselhaften Liebesaffären, was zu Verwirrung über die wahren Bedürfnisse des Monarchen führte. Historiker haben aufgezeigt, dass die damalige Gesellschaft durchaus über Heinrichs emotionale Intensität erstaunt war, was zeigte, dass die Liebe für ihn sowohl privates als auch öffentliches Leben beeinflusste. Seine tiefen emotionalen Bindungen zu seinen Frauen wurden in zahlreichen Liebesbriefen dokumentiert, die den historischen Rahmen seiner Herrschaft lebendig machen.
Die Entwicklung von Gefühlen über die Jahrhunderte
Historiker argumentieren, dass unsere Emotionen sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben und dass Menschen in der Vergangenheit anders fühlten als heute. Es wurde betont, dass die Art und Weise, wie Gefühle in verschiedenen Kulturen wahrgenommen und ausgedrückt werden, stark variieren kann. Einige Kulturen kennen möglicherweise bestimmte Gefühle gar nicht, die in anderen Gesellschaften als selbstverständlich gelten, was die Forschung zur Geschichte der Gefühle bereichert. Historische Studien haben gezeigt, wie das Verständnis von Emotionen in Deutschland im 20. Jahrhundert bedeutend gewachsen ist, was uns hilft, unsere heutige Gefühlswelt besser zu verstehen.
Die Rolle der Sprache in der Emotionswahrnehmung
Sprache beeinflusst maßgeblich, wie Menschen Emotionen empfinden und ausdrücken. Forscher haben herausgefunden, dass das Fehlen bestimmter Wörter in einer Kultur bedeutet, dass auch das jeweilige Gefühl möglicherweise weniger ausgeprägt oder anerkannt wird. Ein Beispiel hierfür sind Begriffe für spezifische Gefühle, die in anderen Kulturen existieren, jedoch nicht in unserer Sprache verankert sind. Die Entwicklung und der Gebrauch von emotionale Wörtern zeigen, dass unsere Wahrnehmung von Gefühlen nicht universell, sondern stark kulturell geprägt ist.
Einfluss der Gefühle auf gesellschaftliche Veränderungen
Auf die breite Gesellschaft wirken sich Emotionen nicht nur auf individuelles Verhalten, sondern auch auf kollektive Handlungen aus. Die Diskussion über Gefühle kann helfen, komplexe gesellschaftliche Probleme zu verstehen und zu lösen, insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheiten, wie während der Corona-Pandemie. Psychologen raten, dass das Verständnis und die Akzeptanz eigener Emotionen entscheidend sind, um zu einem besseren emotionalen Wohlbefinden zu gelangen. Diese Fähigkeiten können es uns ermöglichen, sowohl mit den eigenen als auch mit fremden Emotionen auf eine produktive Weise umzugehen, was nicht nur der individuellen Psyche hilft, sondern auch der kollektiven Gesellschaft dient.
Mit Historikerin Ute Frevert und Psychologe und Podcaster Leon Windscheid
Wir alle haben Gefühle - und denken naheliegenderweise, dass Menschen vor Jahrtausenden diese genauso fühlten. Immerhin sprachen auch sie von “Liebe”, “Hass”, “Freude” und “Trauer”. Mit dem “Zorn des Achilles” beginnt sogar eines der ältesten Werke der Weltliteratur: Die Ilias.
Ob das wirklich stimmt - daran beginnen Historiker:innen seit einiger Zeit zu zweifeln. Ihre These: Unsere Emotionen verändern sich über die Jahrhunderte - wir “fühlen” tatsächlich anders, als es Menschen in früheren Epochen taten. Belege dafür finden sich nicht nur in Quellen, sondern auch in der psychologischen und anthropologischen Forschung.
Ob auch Gefühle eine “Geschichte” haben: Darüber sprechen wir heute mit der Historikerin Ute Frevert. Und warum ein bewusster Umgang mit Gefühlen wichtig für unsere psychische Gesundheit ist - das erklärt uns der Psychologe und Podcaster Leon Windscheid.
Paul Ekman (1992): Are There Basic Emotions? in: Psychological Review 99/3, S. 550-553.
In der anthropologischen Forschung wird die Luganda-Sprache als Beispiel für eine Sprache erwähnt, in der für “Wut” und “Trauer” dieselben Begriffe verwendet werden. James A. Russell (1991): Culture and the Categorization of Emotions, in: Psychological Bulletin 110/3, S. 426-450.
Ute Frevert: Gefühle in der Geschichte. Göttingen 2021.
Ute Frevert: Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung - Deutsche Geschichte seit 1900. Frankfurt am Main 2020.
Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1995.
Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 1995
Leon Windscheid: Besser fühlen. Eine Reise zur Gelassenheit. Hamburg 2021.
Unsere Beispiele für Gefühle in anderen Kulturen (wie "hiraeth" und ”iktsuarpok") stammen aus folgendem Buch: Tiffany Watt Smith: The Book of Human Emotions. New York–Boston–London 2015.