Peter Becker ist Professor für Geschichte an der Universität Wien und Experte für Kriminalistik. Carsten Proff arbeitet als Sachverständiger beim Bundeskriminalamt und ist auf DNA-Analysen spezialisiert. Sie diskutieren die Evolution der Kriminalistik über die Jahrhunderte, von der Nutzung von Fingerabdrücken bis zu modernen DNA-Analysen. Dabei beleuchten sie bemerkenswerte historische Fälle und Pioniere der Ermittlungsarbeit. Außerdem wird die Rolle von forensischen Methoden und die Herausforderungen der Zeugenbefragung thematisiert, was spannende Einblicke in die Welt der Verbrechensaufklärung bietet.
Die Einführung der wissenschaftlichen Fingerabdruckanalyse im 19. Jahrhundert revolutionierte die Beweisführung und half bei der Täteridentifizierung.
Alphonse Bertillon trug zur Professionalisierung der Kriminalistik bei, indem er ein System zur Identifizierung von Verbrechern entwickelte.
Die Entdeckung der DNA-Struktur erweiterte die Möglichkeiten der Kriminalistik erheblich und wurde zu einem unverzichtbaren Werkzeug in Ermittlungen.
Deep dives
Der Mordfall Hermann Lichtenstein
Im Februar 1904 wurde Hermann Lichtenstein, ein Klavierhändler aus Frankfurt, ermordet. Zwei Männer, die zuvor in seinem Geschäft waren, kehrten zurück und forderten ihn auf, den Tresor zu öffnen, was schließlich zu seinem Tod führte. Die entscheidende Spur, die zur Aufklärung des Verbrechens führte, war ein blutiger Fingerabdruck, der am Hemdkragen des Opfers gefunden wurde. Dies war der erste dokumentierte Fall, bei dem Fingerabdrücke als Beweismittel vor Gericht anerkannt wurden, was das System der Beweisführung in der Kriminalistik revolutionierte.
Die Entwicklung der Fingerabdruckanalyse
Bereits seit der Antike wurden Fingerabdrücke in verschiedenen Kulturen genutzt, doch die systematische wissenschaftliche Untersuchung begann erst im 19. Jahrhundert. William James Herschel in Indien führte 1860 ein System ein, bei dem Arbeiter zur Identifikation ihre Fingerabdrücke hinterlassen mussten. Francis Galton begründete 1892 die wissenschaftliche Basis der Fingerabdruckmethode, nachdem er herausfand, dass Fingerabdrücke bei jedem Menschen einzigartig und unveränderlich sind. Diese Erkenntnisse führten zur Etablierung von Fingerabdrücken als Standardverfahren in der modernen Kriminalistik.
Die Wurzeln der modernen Kriminalistik
Die moderne Kriminalistik entwickelte sich im 19. Jahrhundert, als neue Beweiswürdigungsverfahren eingeführt wurden, die den Richtern die Bewertung von Indizien und Beweisen ermöglichten. Der Begriff 'Kriminalistik' entstand zu dieser Zeit und bezog sich auf eine systematische Auseinandersetzung mit Verbrechen und deren Aufklärung. Einflussreiche Figuren wie Alphonse Bertillon, der ein System zur Identifizierung von Verbrechern auf Grundlage ihrer Körpermerkmale entwickelte, trugen zur Professionalisierung der Ermittlungsarbeit bei. Diese Veränderungen führten dazu, dass Indizienbeweise nun eine reformierte Wertigkeit in strafrechtlichen Verfahren erhielten.
Die Rolle der forensischen Wissenschaften
Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen Polizeibehörden, forensische Wissenschaftler und Chemielabore in den Ermittlungsprozess einzubeziehen, um neue Verfahren der Spurensicherung zu etablieren. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung des Tatorts durch Georg Popp, der durch die Analyse von Bodenproben den Täter eines Mordfalls eindeutig identifizieren konnte. Diese Art der forensischen Geologie stellte eine innovative Methode zur Verknüpfung von Verdächtigen mit Tatorten dar. Solche wissenschaftlichen Methoden wurden zunehmend zum Standard in der Kriminalistik und haben die Art und Weise, wie Verbrechen aufgeklärt werden, nachhaltig verändert.
Die evolutionäre Bedeutung der DNA-Analyse
Die Entdeckung der DNA-Struktur in den 1950er Jahren eröffnete neue Möglichkeiten in der Kriminalistik, da sie eine einzigartige Identifizierung von Personen ermöglichte. Ende der 1980er Jahre wurde die DNA-Analyse erstmals erfolgreich zur Aufklärung eines Mordes genutzt, was den Grundstein für die moderne forensische Wissenschaft legte. DNA-Analysen werden mittlerweile bei nahezu allen Delikten angewandt und haben sich als unverzichtbares Werkzeug in der kriminaltechnischen Ermittlung etabliert. Diese Methodik hat nicht nur die Möglichkeiten zur Identifizierung von Straftätern erheblich erweitert, sondern auch zur Entlastung Unschuldiger beigetragen.
Mord, Diebstahl, Einbrüche Entführungen - Verbrechen gibt es vermutlich seit Anbeginn der Menschheit. Aber erst in den vergangenen 200 Jahren wurden technische Verfahren entwickelt, um den Tätern auf die Spur zu kommen. Vorher verließ man sich meistens auf Zeugenaussagen, befragte im Notfall sogar Orakel oder Griff zur Folter, um ein Geständnis vom mutmaßlichen Täter zu bekommen. Das änderte sich im 19. Jahrhundert. Aber wer identifizierte als erstes Täter anhand ihres Fingerabdrucks? Wer analysierte zum ersten Mal Blutspuren? Seit wann werden DNA-Proben erfolgreich zur Verbrechensaufklärung eingesetzt und stimmt es, dass das Bild des Täters im Auge des Mordopfers zu sehen ist? Ein Podcast über die ersten Kriminalisten der Geschichte, die Bedeutung der Wissenschaft bei der Verbrechensaufklärung und die Frage, was in der frühen Neuzeit eigentlich mit denen passierte, die trotz Folter kein Geständnis ablegten.
Gesprächspartner*innen:
Carsten Proff
Peter Becker
Bernd Stiegler
Stephan Dusil
Angelos Chaniotis
Quellen:
Becker, Peter (2005): Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik.
Chaniotis, Angelos (2005): Von Ehre, Schande und kleinen Verbrechen unter Nachbarn: Konfliktbewältigung und Götterjustiz in Gemeinden des antiken Anatolien, in: Frank R. Pfetsch; Angelos Chaniotis: Konflikt 48, S. 233–254.
Dusil, Stephan (2023): Researching Medieval Canon Law around 1900: The Life and Work of Viktor Wolf Edler von Glanvell (1871–1905)
Galton, Francis (1908): Memories of my life.
Galton, Francis (1892): Finger Prints.
Rösinger, Amelie; Signori, Gabriela (2014): Augen-Zeugen. Die Optographie in der Kriminalistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Amelie Rösinger und Gabriela Signori (Hg.): Die Figur des Augenzeugen. Geschichte und Wahrheit im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich, S. 135-158.
Siemens Daniel: (2013): Vermessen(d)e Verbrecherjagd: Zur Geschichte der biometrischen Identifizierungstechniken in der Kriminalistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Bernd J. Hartmann, Daniel Siemens, Gottfried Vosgerau et al.: Biometrie – Sicherheit für den gläsernen Menschen?, S. 43-78.
Siemens, Daniel (2008): Forschung am lebenden Objekt: Kriminologie und Expertenwissen in Chicago zwischen 1900 und 1930. In: Silvia Kesper-Biermann; Alexander Kästner: Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, S. 43-56.
Dahm, Ralf (2019): „Der vergessene Entdecker der DNA.“ In: Spektrum der Wissenschaft 1/19, 10-17.
Stiegler, Bernd (2012): Das Auge als photographischer Zeuge. Optographie und Kriminologie, in: Randgänge der Photographie, S.195-213.
Stiegler, Bernd (2011): Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina.