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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wiederbewaffnung in Deutschland von vielen abgelehnt, da die Erfahrungen des Krieges und die Angst vor einem neuen Konflikt stark im kollektiven Gedächtnis verankert waren. Trotz dieser Bedenken setzte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Wiederbewaffnung voran, um die Bundesrepublik unter den nuklearen Schutzschirm der USA zu stellen. Im Jahr 1955 wurden erste Freiwillige in der neu gegründeten Bundeswehr eingestellt, doch die Truppe stieß auf große öffentliche Skepsis und wurde von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen kritisch betrachtet. Diese Kontroversen hielten über die Jahrzehnte an und spiegelten die tiefen gesellschaftlichen Spaltungen in Fragen von Krieg und Frieden wider.
Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stellte einen Wendepunkt für die deutsche Verteidigungspolitik dar. Angela Merkels früherer Außenminister Olaf Scholz kündigte eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben durch ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro an, um die Bundeswehr für zukünftige Konflikte aufzurüsten. Vor dem Krieg war die Bundeswehr nicht in der Lage, die Landes- und Bündnisverteidigung sicherzustellen, was die Warnung des Inspekteurs des Heeres unterstrich. Diese Situation führte zu einem Umdenken in der deutschen Gesellschaft bezüglich der Rolle der Bundeswehr und der Notwendigkeit einer effektiven militärischen Einsätze.
Die Bundeswehr steht vor der Herausforderung, sich an die veränderten Kriegsbedingungen anzupassen, einschließlich der Bedrohungen durch Cyberangriffe und den Einsatz von Drohnen. Die Diskussion über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht und Reformen zur Vereinfachung der Beschaffungsprozesse sind entscheidend für die zukünftige Einsatzfähigkeit der Streitkräfte. Angesichts von Mängeln in der Ausrüstung und des Nachwuchsmangels wird es notwendig sein, Strategien zu entwickeln, um die Truppenstärke und die gesamte Verteidigungsbereitschaft zu erhöhen. Das Ziel besteht darin, eine moderne und leistungsfähige Bundeswehr zu schaffen, die sowohl konventionelle als auch hybride Bedrohungen bewältigen kann.
Unumstritten war die Bundewehr in der Öffentlichkeit nie, und nach Ende des Ost-West-Konflikts und der teilweisen Integration der Nationalen Volksarmee in gesamtdeutsche Streitkräfte schien sie an Bedeutung zu verlieren. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich das geändert. Von Jochen Rack
Credits
Autor dieser Folge: Jochen Rack
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Berenike Beschle
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT 01 Rede Scholz:
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. (Klatschen)“
Sprecherin:
Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz drei Tage nach Russlands Invasion im Parlament ausgerufen hatte, war verbunden mit der Schaffung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Außerdem, versprach der Bundeskanzler, werde Deutschland „von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ in seine Verteidigung investieren. Die Bundeswehr sollte aufgerüstet werden, damit sie in Zukunft ihren Auftrag der Bündnis- und Landesverteidigung erfüllen kann. Denn tatsächlich war sie dazu im Jahr 2022 nicht in der Lage. Das Heer, konstatierte der Inspekteur des Heeres Alfons Mais, stehe mehr oder weniger blank da. Wie schon einmal in den 1960er Jahren lautete die Diagnose: „Bedingt abwehrbereit.“ Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius forderte im Jahr 2023, die Bundeswehr müsse wieder kriegstüchtig werden.
OT 02 Pistorius:
Ich weiß, das klingt hart. Ich weiß, das klingt ungewohnt und viele erschreckt es. Krieg führen können, um keinen Krieg führen zu müssen, und das ist kriegstüchtig.
Sprecherin:
Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine brachen Kontroversen auf, die die Bundeswehr seit ihrer Aufstellung im Jahr 1956 immer begleitet hatten. Denn als Lehre aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, der 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, lehnten viele Deutsche die Wiederbewaffnung ab, zumal unter den Bedingungen des Ost-West-Konfliktes ein neuer Krieg zum Atomkrieg eskalieren konnte. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer wollte die am 23. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik unter den nuklearen Schutzschirm der USA stellen. So trat am 5. Mai 1955 die Bundesrepublik der NATO bei, nachdem mit den Pariser Verträgen am selben Tag das Besatzungsstatut in Westdeutschland aufgehoben worden war. Im November desselben Jahres wurden 6.000 Freiwillige in der Bundeswehr eingestellt. Die neuen Lehrkompanien von Heer, Luftwaffe und Marine ließ Adenauer am 20. Januar 1956 in Andernach zum Appell antreten.
OT 03 Adenauer:
Soldaten der neuen Streitkräfte. Das deutsche Volk sieht in Ihnen die lebendige Verkörperung seines Willens, seinen Teil beizutragen zur Verteidigung der Gemeinschaft freier Völker, denen wir heute wieder mit gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen angehören.
Sprecherin:
Die Schaffung bundesrepublikanischer Streitkräfte war allerdings nicht möglich ohne personelle Anknüpfung an die Wehrmacht, erklärt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam:
OT 04 Neitzel:
Es gab ja keine Bundeswehr, es gab kaum Kasernen. Und die politische Führung, also Adenauer, die haben sich entschieden, mit 14.000 Wehrmachtsoffizieren diese Bundeswehr aufzubauen.
Sprecherin:
Man könne schließlich eine Armee nicht von achtzehnjährigen Generälen kommandieren lassen, soll Adenauer gesagt haben. So nahm die Bundeswehr in ihrer Gründungsphase auch ehemalige Nazis in ihre Reihen auf, z.B. 45 dienstgradniedrigere Offiziere der Waffen-SS, auf die man aus fachlichen Gründen glaubte, nicht verzichten zu können. Gleichzeitig wurde die Bundeswehr gegründet im bewussten Bruch mit den Traditionen des deutschen Militarismus. Ihr neuer Geist sollte sich in den schlichten Uniformen ausdrücken und die militärskeptische westdeutsche Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Bundeswehr eine demokratische Truppe war. Die Entnazifizierung der neuen Truppe gelang nur halbwegs, schreibt Sönke Neitzel in seinem Buch „Deutsche Krieger“. Aber die Wiederbewaffnung wurde von vielen Westdeutschen nicht nur deshalb kritisiert. Nach den traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wollten viele Deutsche nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Pazifismus schien die einzige Lösung. Innenminister Gustav Heinemann trat aus Protest gegen Adenauers Wiederbewaffnungspläne zurück.
OT 06 Neitzel:
Die Minderheit, die gegen die Streitkräfte war, war sehr heterogen. Das gab es von links bis rechts. Also es gab natürlich die linken Gruppen auf Seiten der Sozialdemokratie, die evangelische Kirche, es gab aber auch national eingestimmte Gruppen, die glaubten, mit der Gründung von westdeutschen Streitkräften sei die Teilung zementiert.
Sprecherin:
Adenauers Sicherheitsberater und später erster Verteidigungsminister Theodor Blank wurde bei öffentlichen Auftritten mehrfach ausgebuht und mit Eiern beworfen. Doch Adenauer setzte die Wiederbewaffnung gegen alle Widerstände der Opposition durch. Nach der Einberufung der ersten Freiwilligen in die Bundeswehr folgte die Einführung der Wehrpflicht am 21. Juli 1956. 1957 rückten die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. Dort sollte jetzt ein demokratischer Geist herrschen, nicht wie früher Drill und Kadavergehorsam. Wolf Graf von Baudissin erarbeitete das Konzept der „Inneren Führung“. Es entstanden neue zivile Kontrollinstanzen und eine neue Traditionskultur, die mit den soldatischen Werten der NS-Zeit brechen und das Primat der Politik über die Streitkräfte sicherstellen sollten. Die Bundeswehr wurde als Parlamentsarmee konzipiert. Der Generalinspekteur der Bundeswehr war dem höchsten zivilen Ministerialbeamten nachgeordnet. Ein von der Regierung unabhängiger Wehrbeauftragter vertrat die Interessen der Soldaten. Eine neue demokratische Kultur sollte die Bundeswehr prägen. Von Baudissin prägte dafür den bis heute gültigen Begriff vom „Staatsbürger in Uniform“. Der Aufbau einer riesigen deutschen Streitkraft begann.
OT 07 Neitzel:
Die Bundesregierung hatte den Alliierten versprochen, 500.000 Mann in drei Jahren, das hat sich als nicht machbar erwiesen, diese 12 Divisionen des Heeres, das ist ein Personalstand, den man erst Ende der 60er Jahre erreicht hat.
Sprecherin:
Die von den USA eingekauften Starfighter hätten im Rahmen der sog nuklearen Teilhabe im Ernstfall taktische Atomwaffen auf die Streitkräfte des Warschauer Paktes werfen müssen. Die Befehlsgewalt über den Einsatz von Nuklearwaffen lag aber bei den USA. Die Strategie der „massive retaliation“ entwickelte man weiter zur „flexible response“.
OT 08 Neitzel:
Weil man sagte, wenn es schon einen kleinen Vorstoß des Warschauer Paktes gibt, Eroberung Westberlins oder ein Vorstoß nach Hamburg, kann dann die Reaktion sein, dass wir sofort tausende von nuklearen Sprengköpfen einsetzen? Wohl nicht. Deshalb die Logik, sollte die Bundeswehr konventionell möglichst stark sein.
Sprecherin:
Dennoch war die Gefahr eines Atomkrieges real wie die Kubakrise 1962 zeigte. Verständlich, dass angesichts von Planungen, die Deutschland zum atomaren Schlachtfeld gemacht hätten, die Proteste gegen die Aufrüstung nicht aufhörten. Die Ostermarschierer, die sich 1960 zum ersten Mal von Hamburg aus auf den Weg machten, knüpften an die britische Bewegung für nukleare Abrüstung an. Doch die Ablehnung der Bundeswehr speiste sich nicht nur aus Kriegsangst, sondern auch aus der Kritik am – trotz Traditionserlass und Innerer Führung – noch immer vorhandenen autoritären Schleifergeist in der Truppe. Bei einem Manöver ertranken 1957 fünfzehn Wehrpflichtige in der Iller, in Nagold brach ein Soldat 1963 beim Dauerlauf tot zusammen – erste Skandale, die am Image der Bundeswehr kratzten. Die Luftwaffe hatte hohe Absturzzahlen zu beklagen, vor allem die Starfighter-Abstürze in den 60er Jahren machten Schlagzeilen. Ein spektakulärer Unfall in der Marine war der Untergang des U-Bootes Hai im Jahr 1966. Alles nicht gerade Kennzeichen funktionierender Streitkräfte. Vor allem seit 1968 machten immer mehr Wehrpflichtige von ihrem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch. Die APO, die vor allem von Studierenden bestimmte Außerparlamentarische Opposition, forderte gar die Auflösung der Bundeswehr und den Austritt aus der NATO. Und als Anfang der 80er Jahre die sog. Nachrüstung mit den amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing 2 beschlossen wurde, die ein Gegengewicht zu den sowjetischen SS 20 bilden sollten, kam es zu massiven Protesten.
OT 09 Petra Kelly Ansprache
„Hopp hopp hopp Atomraketen Stopp!
Sprecherin:
Auf einer großen Friedensdemonstration im September 1983 in Bonn sprach der ehemalige SPD-Kanzler Willi Brandt:
OT 10 Brandt
Wir brauchen in Deutschland und in Europa, solange es steht, nicht mehr Mittel der Massenvernichtung, sondern weniger. Deshalb sagen wir nein zu immer mehr Atomraketen.
Sprecherin:
Für Helmut Kohl, 1982 zum Nachfolger von Bundeskanzler Helmut Schmidt gewählt, waren die Protagonisten der Friedensbewegung „schlicht und einfach Vaterlandsverräter“. Ob die Bundeswehr einen Angriff des Warschauer Paktes hätte abwehren können, blieb ungewiss. Zum Glück kam es nie zum Ernstfall. Der Kalte Krieg ging überraschend zu Ende, als die Bundeswehr ihre größte Stärke und Kampfkraft erreicht hatte. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am 12. September 1990 unterzeichneten die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Moskau den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schuf und Deutschland die volle Souveränität verlieh. Die Bundeswehr sollte zunächst auf 370.000, ab 1994 auf 340.000 Soldaten abgerüstet werden.
OT 11 Neitzel
Die Bundeswehr wurde in den 1990er Jahren, kann man sagen, zum zweiten Mal gegründet, denn alles das, was die hatte, war jetzt nicht mehr vonnöten. Man hatte 2.200 Leopard 2 Panzer und 2.000 andere Panzer, Leopard 1 und zum Teil noch alte M48.
Sprecherin:
Und die ostdeutsche Armee - die Nationale Volksarmee NVA - wurde aufgelöst, ein Teil ihrer mehr als 90.000 Zeit- und Berufssoldaten in die Bundeswehr integriert. Die letzten russischen Truppen zogen 1994 aus Ostdeutschland ab, die Wehrpflicht wurde immer weiter verkürzt, Bundeswehrstandorte abgebaut, Kasernen geschlossen und umgewandelt in Wohn- oder Gewerbegebiete.
OT 12 Neitzel:
Nach 1990 geht der Verteidigungshaushalt massiv in den Keller. Das war davor 3%, sind dann nur noch 2,8 % ist in freiem Fall bis man nur noch 1,4% ausgibt.
Sprecherin:
Die ursprünglich angepeilte Truppenstärke von 370.000 Soldaten konnte und wollte man schon bald nicht mehr halten. Die Landes- und Bündnisverteidigung schien nicht mehr wichtig in einem friedlich gewordenen Europa. Stattdessen machte man die Bundeswehr fit für humanitäre Auslandseinsätze - wie 1992 in Kambodscha oder 1993 zur Luftraumüberwachung des ehemaligen Jugoslawien. Gleichzeitig gab die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, wie sie mit der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ 1995 geleistet wurde, den neuen Out-Of-Area-Einsätzen einen erinnerungspolitischen Flankenschutz. Eine Bundeswehr, die sich vom verbrecherischen Wehrmachtsmilitarismus abgrenzte, die sich ihres demokratischen Wesens versicherte, konnte im Namen der Verteidigung der Humanität 1993 zum Einsatz in Somalia und 1995 zum Einsatz in Bosnien ausrücken. Die Balkankriege führten zum Umdenken auch bei denjenigen, die bis dahin der Bundeswehr kritisch gegenübergestanden waren, vor allem bei den Grünen, deren Wurzeln in der Friedens- und Ökologiebewegung der 1980er Jahre lagen. 1999 stimmten die Grünen unter der Regierung von Gerhard Schröder für einen Kampfeinsatz der Bundeswehr in Serbien - ohne, dass es dafür ein UN-Mandat gab.
OT 14 Schröder:
Die Bundesregierung hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht. Schließlich stehen zum ersten Mal nach Ende des 2. Weltkrieges deutsche Soldaten im Kampfeinsatz. () Wir haben keine andere Wahl als die Mittel, die vorbereitet sind, dafür einzusetzen und wir werden das ... so lange tun, bis der jugoslawische Präsident auf den Boden von Menschlichkeit und internationalem Recht zurückkehrt.
Sprecherin:
Deutsche Tornados bombardierten serbische Stellungen, um einen drohenden Genozid im Kosovo zu verhindern. Die Begründung, die der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer für den Einsatz gab, sei schlüssig gewesen, meint der Politologe Herfried Münkler.
OT 15 Münkler:
„Nie wieder Krieg“ zu ergänzen durch „Nie wieder Auschwitz“, das war auf Srebreniza bezogen und es ging darum, dass deutsches Militär präsent ist.
Sprecherin:
78 Tage lang wurden serbische Truppen bombardiert. Helmut Kohls Vorgabe, die Bundeswehr dürfe an keinem Ort eingesetzt werden, wo einmal SS und Wehrmacht Krieg geführt hatten, galt nicht mehr. Humanitäre Einsätze zur Verhinderung eines Völkermords waren die Lehre aus den Verbrechen der Wehrmacht. Im Völkerrecht sprach man von der „humanitären Intervention“ und einer „responsibility to protect“.
Dann kam der Terroranschlag von 9/11 und der internationale Einsatz in Afghanistan zur Vertreibung der Taliban, an dem sich Deutschland beteiligte. Die politische Legitimation für den Einsatz der Bundeswehr formulierte am 11.3.2004 im Bundestag der damalige Verteidigungsminister Peter Struck:
OT 17 Struck:
Die Sicherheitslage hat sich entscheidend verändert. Deutschland wird absehbar nicht mehr durch konventionelle Streitkräfte bedroht. Unsere Sicherheit wird nicht nur aber auch am Hindukusch verteidigt.
Sprecherin:
Deutsche Soldaten bewachten Mädchenschulen und bildeten afghanische Soldaten aus. Das Kämpfen in gefährlichen südlichen Regionen Afghanistans überließen sie den Amerikanern und Briten. So konnte man weiter das Image der Bundeswehr als einer Art von technischem Hilfswerk pflegen. Das Bild des bewaffneten Aufbauhelfers, mit dem sich weite Teile der Gesellschaft, aber auch zunehmend die Bundeswehr selbst angefreundet hatte, passte aber nicht mehr, als deutsche Soldaten in Afghanistan zu Tode kamen. Der Spiegel titelte am 20.11.2006: „Die Deutschen müssen das Töten lernen.“ Und 2010 sprach Karl Theodor zu Guttenberg, damals Verteidigungsminister, zum ersten Mal von kriegsähnlichen Zuständen.
OT 18 Guttenberg:
Die Situation in Afghanistan ist eine gefährliche, () wir haben eine Abzugsperspektive zwar eröffnet, aber bis dahin wird es weiterhin ein schwieriger, ein gefährlicher Einsatz bleiben, und die Schwere der Gefechte zeigt das heute, dass wir uns in kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan befinden.
Sprecherin:
In zu Guttenbergs Amtszeit fiel das sog. Karfreitagsgefecht: Als eine Fallschirmjägereinheit der Bundeswehr am 2. April 2010 im Raum Isa Khel, südwestlich von Kundus, gegen afghanische Aufständische kämpfte, kamen drei deutsche Soldaten und sechs Soldaten der afghanischen Armee zu Tode. Die Konsequenz war nicht nur die militärische Aufrüstung der Truppe in Afghanistan, sondern eine neue Gedenkkultur für die Opfer der Bundeswehr. Eine Trauerfeier für die drei in Kunduz gefallenen Bundeswehrsoldaten fand am 9. April 2010 mit militärischen Ehren im niedersächsischen Selsingen statt. Anwesend waren der ranghöchste Soldat Generalinspekteur Wieker sowie Kanzlerin Angela Merkel, die Anteilnahme zeigen und den Einsatz politisch rechtfertigen wollte.
OT 20 Merkel
Im Völkerrecht nennt man das, was in Afghanistan in weiten Teilen herrscht, einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt. Die meisten Soldatinnen und Soldaten nennen es Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg. Und ich verstehe das gut.
Sprecherin:
Der Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch blieb bis zum Abzug 2022 umstritten. 59 Bundeswehrsoldaten kamen in Afghanistan zu Tode. Nicht zufällig entstand nun in Deutschland eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer: Das Bundeswehr-Ehrenmal in Berlin, wo die Namen aller Bundeswehrsoldaten genannt werden, die seit der Wiederbewaffnung im Dienst ihr Leben ließen. Doch die Kritik an der Bundeswehr riss nicht ab, auch befördert durch eine Reihe von Skandalen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kommentierte die Situation der Bundeswehr 2017 mit den Worten:
OT 21 von der Leyen:
Pfullendorf - sexualisierte Herabwürdigung, Sondershausen – übelste Schikane, und jetzt der Soldat A. mit rechtsextremistischem Gedankengut, das sind alles unterschiedliche Fälle, aber sie gehören für mich inzwischen zusammen zu einem Muster, dass ich heute sage: Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem und sie hat offensichtlich eine Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen.
Sprecherin:
Möglich, dass die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 zu den sog. Haltungsproblemen beitrug, da sich die Bundeswehr seitdem als Armee von Berufssoldaten stärker in Richtung einer soldatischen Parallelwelt entwickelt hat.
OT 22 Neitzel:
Ich würde schon sagen, dass die Aussetzung der Wehrpflicht zum damaligen Zeitpunkt konsequent war, weil alle NATO Staaten, mit Ausnahme Griechenlands und der Türkei, haben das gemacht. Alle großen Staaten hatten eine Berufsarmee, das waren auch die Streitkräfte, die man in Auslandseinsätzen wirklich brauchte.
Sprecherin:
Doch die für Out-of-Area Einsätze umgerüstete Truppe zeigte sich nach dem Beginn von Russlands Invasion der Ukraine nicht mehr zur Landesverteidigung fähig.
OT 23 Neitzel:
Alfons Mais hat am 24. Februar gesagt, das Heer steht nahezu blank da. () Natürlich heißt das nicht, dass wir keine Soldaten, dass wir keine Panzer und Flugzeuge haben. () Die Frage ist nur, ist die Bundeswehr in der Lage, Landes- und Bündnisverteidigung dazu einen wesentlichen Beitrag zu leisten. () Und wir sehen jetzt, dass es an sehr vielen Dingen mangelt. Es mangelt z.B. an Drohnen, an Drohnenabwehr, es mangelt an der Fähigkeit, russische Helikopter zu bekämpfen.
Sprecherin:
Um das zu ändern, wurde im Bundestag kurz nach Kriegsbeginn das sog Sondervermögen von 100 Milliarden Euro verabschiedet, mit dem die Bundeswehr Waffen und Munition kaufen soll.
OT 24 Scholz
Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. () Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen und Soldaten, die für ihren Einsatz optimal ausgerüstet sind.
Sprecherin:
Die Zerstörung von Mariupol, die Mordtaten russischer Soldaten in Butscha, die Entführung ukrainischer Kinder und Folterung von Zivilisten hatten in großen Teilen der deutschen Gesellschaft ein Umdenken bewirkt. Die Bundeswehr sollte nun schnell mit neuen Waffensystemen ausgestattet werden. Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärte das so:
OT 25 Pistorius:
Ein souveränes Land muss in der Lage sein, sich gegen äußere Feinde im Ernstfall zur Wehr zu setzen. () Das Ziel muss es sein, es gar nicht erst zum Ernstfall kommen zu lassen: durch eine effektive Abschreckung. Krieg führen können, um keinen Krieg führen zu müssen. Und das ist kriegstüchtig.
Sprecherin:
Zwar hatte das Parlament das Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen, aber die langfristige Finanzierung der deutschen Streitkräfte war damit nicht gesichert. Offen blieb auch die Frage, welche Ausrüstung die Bundeswehr in Zukunft brauchen würde.
OT 26 Neitzel
Das ist eine große Diskussion in der Bundeswehr: Wie sieht der Krieg der Zukunft aus? Die meisten Experten, die ich kenne, sagen, der Krieg der vierten Dimension mit den Drohnen im Cyberraum, () Ja, wir brauchen Panzer noch, aber wir müssen gleichzeitig auf jedem Panzer die Möglichkeit haben, Drohnen abzuwehren, wir müssen sie stören, sie auch aktiv abschießen, wir brauchen selber Drohnen.
Sprecherin:
Für das veränderte Kriegsszenario der Gegenwart will die Bundeswehr eine vierte Teilstreitkraft schaffen, die sich dem Bereich Cyber- und Informationsraum widmet und hybride Angriffe abwehren soll. Die Truppenstärke soll von 180.000 Soldatinnen und Soldaten auf über 220.000 anwachsen, doch Nachwuchsmangel ist ein notorisches Problem, seit 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Es wird sogar die Diskussion um die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht geführt. Auch Reformen in der Bundeswehrverwaltung, der Abbau von Bürokratie, die die Beschaffung von Waffensystemen verlangsamt und teuer macht, stehen auf der Tagesordnung. Auch von solchen Entscheidungen wird die Zukunft der Bundeswehr abhängen.
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