
In aller Ruhe
Die Krisen überschlagen und verbinden sich: Pandemie, Klima, russischer Angriffskrieg. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz stellen die Gesellschaft vor immer neue Herausforderungen. Unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Es lohnt sich deshalb, aus der schnellen Aktualität und der eigenen Perspektive auf die Welt auszutreten.
Philosophin, Publizistin und SZ-Kolumnistin Carolin Emcke spricht in diesem Podcast dafür mit Aktivistinnen, Autoren, Künstlerinnen oder Wissenschaftlern über politisch-philosophischen Fragen hinter aktuellen Ereignissen und sortiert mit ihnen große gesellschaftliche Debatten.
Die Folgen erscheinen alle zwei Wochen ab dem 25. Februar 2023.
Latest episodes

Aug 25, 2023 • 1h 29min
„Glauben heißt Fliegen“ – Ahmad Milad Karimi über den Islam
Wenn in der Öffentlichkeit vom Islam die Rede ist, dann sind in aller Regel die Schlagworte Extremismus und Terrorismus nicht weit. Dass diese Einseitigkeit dieser Religion nicht gerecht wird, versteht sich von selbst. Aber: Was bedeutet Glauben im Islam? Welche Wirkung hat das gemeinschaftliche Fasten während des Ramadan auf die Glaubensgemeinschaft? Und: Was hat der Jahrhundertfußballer Diego Armando Maradona mit Gott zu tun? Darum geht es in dieser Folge von In aller Ruhe mit Carolin Emcke.
Zu Gast ist diesmal: Ahmad Milad Karimi. Karimi, geboren 1979 in Kabul, studierte Philosophie und Islamwissenschaften an der Universität Freiburg und promovierte 2012 mit einer Arbeit über Hegel und Heidegger. Karimi ist Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik, an der Universität Münster. Zudem ist er stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster und Direktor der internationalen Muhammad Iqbal-Forschungsstelle. Karimis Familie floh vor dem Krieg als er 13 Jahre alt war. 2019 erhielt er den Voltaire-Preis für „Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ der Universität Potsdam.
**„Ich werde nie sagen können, ob ich am nächsten Tag noch glaube“
**
Im Gespräch mit Carolin Emcke erinnert sich Karimi an seine Kindheit in Kabul – und besonders an einen Moment: „Während wir in der Moschee waren und das Singen des Korans zu lernen hatten, gab es einen Angriff - wie gewohnt. Das gehörte zu dieser Kindheit. Raketenangriffe sind ganz eigen: Sie sind abrupt und sie sind unheimlich laut. Man muss innehalten, man muss sich erst einmal orientieren. Aus welcher Richtung kommt das und wo ist es gelandet? Das haben wir wie immer gemacht. Und dann war auch üblich, kurz zu warten, ob noch weitere Angriffe kommen oder ob es nur eine Rakete war. Wir bemerkten, es kommen weitere. Und dann gab es Panik. Alle mussten rennen und wir auch. Der Imam wollte uns dort halten, aber keiner wollte bleiben. Alle rannten. Auch ich rannte und beim Laufen bemerke ich, dass ein Bettler immer noch dort sitzt. Aber regungslos, als wäre gar nichts. Ich bin an ihm vorbei gelaufen, drehte mich um beim Rennen und fragte: Haben Sie keine Angst? Wollen sich nicht verstecken?“ Der schaute mich an und sagte: „Ich habe meine Zuflucht bei Gott gefunden. Wohin soll ich denn flüchten?“ Das sagte er in einer ruhigen Stimme zu mir und ich lief natürlich weiter. Aber beim beim Rennen merkte ich, wie meine Beine schwerer wurden, wie ich langsamer wurde und immer langsamer. Ich war dann der Letzte, der angekommen ist.“
Außerdem geht es darum, was die Liebe und der Glaube gemein haben: „Liebe ist gerade dann Liebe, wenn wir auch die Verletzlichkeit der Liebe mittragen. Es gibt keine Garantie für die Liebe, die wir empfinden. Ich kann niemandem sagen: Ich werde dich morgen genauso lieben wie heute. Und – ich hoffe, aber – ich werde nie sagen können, ob ich am nächsten Tag weiterhin glaube.“ Und Karimi erzählt davon, warum ihn nach dem Nachtgebet immer eine Schwere überkommt. Außerdem in dieser Folge: Carolin Emcke und Ahmad Milad Karimi disktuieren, welches Tor von Diego Armando Maradona bei der WM 1986 im Spiel gegen England das göttlichere war: Das erste mit der „Hand Gottes“ oder das zweite, bei dem er seinen Sololauf, der zum Tor führen sollte, noch in der eigenen Hälfte begonnen hat.
Empfehlung von Ahmad Milad Karimi
Ahmad Milad Karimi empfiehlt die Serie This is Us. Die Serie ist auf Amazon Prime und Disney+ zu sehen: „Eine unglaublich berührende Geschichte“, sagt Karimi. Erzählt werde die Geschichte dreier Generationen – und zwar gleichzeitig. „Das alle in dieser Gegenwart sind. Das hat was von dem, was wir in der Theologie den Blick Gottes nennen. Für Gott ist alles Gegenwart.“

Aug 11, 2023 • 1h 40min
„Faschistische Revolutionen“ – Mirjam Zadoff bei Carolin Emcke über Trump, AfD und den globalen Rechtsruck
In vielen Nationen versuchen meist nationalistisch-rechte politische Kräfte die Geschichte des Landes in ihrem Sinne umzudeuten, neu zu erzählen. Zum Beispiel in den USA, wo Teile der Republikaner eine vermeintlich patriotische Geschichtserzählung anstreben – bis hin zu der Frage, ob denn nun die Sklaverei nicht auch Vorteile für die Sklaven hatte. Oder in Polen, wo es kaum mehr erwünscht ist, über die Kollaboration mit dem NS-Regime zu reden. Oder auch in Deutschland, wo sich mit der AfD eine Partei etabliert hat, deren führende Mitglieder unter anderem die NS-Zeit nur als einen „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bezeichnet haben. Wie man mit geschichtsrevisionistischen Strömungen umgehen kann, darum geht es in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke.
Zu Gast ist diesmal Mirjam Zadoff. Sie ist Historikerin und seit 2018 Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in München. Bevor sie zum NS-Dokumentationszentrums kam, war sie als Professorin für Geschichte und Jüdische Studien an der Indiana University in Bloomington (USA) tätig, wo sie den Alvin H. Rosenfeld Lehrstuhl inne hatte. Gastprofessuren führten sie unter anderem nach Zürich, Berkeley, Berlin und Augsburg. Sie promovierte und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie auch noch Gastprofessorin für Jüdische Geschichte und Kultur ist. In ihrer Forschung und Lehre beschäftigt Zadoff sich mit Erinnerungskulturen, neuen Formen der Vermittlung von Geschichte, sowie der Rolle von Museen als politische und demokratische Orte.
„Ein Spiel mit den Zeitebenen“
„Die Herausforderung für Historikerinnen und Historiker ist es, immer zu reflektieren, dass man auch falsch liegen könnte. Der Vorgang ist ein bisschen wie in der Justiz, wenn man versucht, ein Verbrechen zu rekonstruieren und unterschiedliche Meinungen hört“, sagt Zadoff zu ihrem Verständnis ihres Berufs. „Lange Zeit war es so, dass man vor allem den Blick von Männern in Machtpositionen gesehen und gelesen hat. Und es hat lange gedauert, bis auch der Blick der ganz normalen Menschen abgebildet wurde.“ Allgemein ist die Arbeit einer Historikerin immer „ein Spiel mit den Zeitebenen“. Also die ständige Reflexion, „dass sie versuchen, die Vergangenheit zu erzählen, indem sie aber gleichzeitig auch immer über die Zukunft nachdenken.“
Ein Moment, in dem sich das Spiel mit den Zeitebenen gezeigt hat: der 6. Januar 2020, der Sturm auf das US-Kapitol. „Da hatte ich damals einen Kommentar geschrieben, der sich auf den Putschversuch von 1923 und Hitler in München bezog. Nämlich eben auch mit der Überlegung und der Frage: Was passiert nach einem gescheiterten Putschversuch und inwiefern können wir aus einer historischen Erfahrung etwas lernen? Dass eben ein gescheiterter Putschversuch nicht das Ende einer Bewegung ist. Und das war ja in dem Moment schon klar, dass es mit „Make America Great Again“ und „America first“ ganz klar eine Bewegung ist, die Amerika erlebt. Und eben auch mit der Frage: Inwiefern kann sich ein System, auch ein Rechtssystem, gegen Attacken wehren?“
Eine globale „extrem rechte, faschistische Revolution“
Doch nicht nur in den USA erkennt Zadoff ein Erstarken dieser Angriffe auf die Demokratie. Ob in Indien, Polen, Italien und auch Deutschland. Sie beobachtet global eine „extrem rechte, faschistische Revolution“. Die historische Auseinandersetzung mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts kann da auch helfen, die Strategien in der Aktualität besser zu erkennen: „Es geht darum, wie faschistische Regime ihre Demokratien umgebaut haben. Mit welchen Tools sie gearbeitet haben, welche Bilder sie benutzt haben und wie diese Bilder heute instrumentalisiert werden.“ Konkret: „Wenn jemand wie Höcke sich ganz klar inhaltlich auf Hitler-Reden bezieht – wenn er sagt: „Die EU muss sterben, damit Europa leben kann“ – dann beziehen sich die Rechten ganz klar auf diese Zeit.“ Und da ist es „zentral, diese Ähnlichkeiten offen zu machen.“
Darüber – und wie deutsche Erinnerungskultur in einer zunehmend diversen und von migrantischen Gesellschaft aussehen kann–, spricht Carolin Emcke mit Mirjam Zadoff in dieser Folge von „In aller Ruhe“.
Empfehlung von Mirjam Zadoff
Mirjam Zadoff empfiehlt die malische Musikerin Fatoumata Diawara. Sie verbinde Elemente von Jazz, Pop und Wassoulou und „in ihren Texten die Themen, über die wir gesprochen haben: der Schmerz der Emigration, die Notwendigkeit für gegenseitigen Respekt, aber auch zum Beispiel der Kampf afrikanischer Frauen auch gegen gegen die Beschneidung und für ihre Rechte.“ Und Diawara sei eine beeindruckende Frau mit einer „unglaublich tollen Stimme.“ Zadoff empfiehlt die Alben „London Ko“ und „Fenfo“.

Jul 28, 2023 • 1h 19min
„Misstrauen gegen Allmachtsfantasien“ – Regina Ammicht Quinn bei Carolin Emcke über den Umgang mit Tech-Innovationen
Seit November vergangenen Jahres ist ChatGPT frei und öffentlich zugänglich. Der auf künstlicher Intelligenz basierende Chatbot hat weltweit Nutzerinnen und Nutzer fasziniert und Begeisterung ausgelöst – aber auch die Frage aufgeworfen: Welche Regeln braucht Künstliche Intelligenz, vor allem weil sie immer besser wird? Und welche Gefahren lauern in technischem Fortschritt? Darum geht es in der aktuellen Folge „In aller Ruhe“ von Carolin Emcke.
Zu Gast ist Regina Ammicht Quinn. Sie ist Sprecherin des Internationalen Zentrums für Ethik und Wissenschaft und Leiterin des Bereichs Gesellschaft, Kultur und technischer Wandel an der Universität Tübingen. Ammicht Quinn, geboren 1957 in Stuttgart, studierte Katholische Theologie und Germanistik, promovierte zur Ethik der Theodizeefrage. Ihre Habilitation schrieb sie zu Körper, Religion und Sexualität. Ihren Forschungsschwerpunkt legt Ammicht Quinn auf Grundfragen der Ethik.
„Misstrauen gegen Allmachtsfantasien“
Ammicht Quinn argumentiert für ein „Misstrauen gegen Allmachtsfantasien“, die im Silicon Valley kursieren. „Wenn wir im Silicon Valley, und zwar vor allem in der digitalisierten Medizin, gerade sehen, dass die Lebenserwartung für die nächste Generation teils auf 1000 Jahre beziffert wird. Oder gesagt wird, dass Mark Zuckerbergs Kinder ab 2050 keinerlei Krankheiten mehr haben werden, weil die ausgerottet sind. Also genau da brauchen wir Misstrauen gegen diesen Triumphalismus.“
Das betreffe vor allem die „extremen Debatten“, auch jene zur Künstlichen Intelligenz. Da gebe es zwei Pole: Erstens, die „utopische Debatte“. Diese folge der Logik: „Wenn wir nur alle Daten haben, dann können wir alle Probleme lösen.“ Auf der anderen Seite stehe die „dystopische Debatte“, wonach der Automatismus greife: „Wenn wir die Künstliche Intelligenz weiterentwickeln, bringt sie uns alle um.“ Zwar stehen sich diese beiden Polen recht deutlich entgegen, doch sie sind durch eine Gemeinsamkeit verbunden: „Diese extremen Debatten sind technikfixiert und nicht menschenfixiert“, sagt Ammicht Quinn.
„Es braucht Räume von Auseinandersetzung und Annäherung“
Abseits solcher Zukunftsvisionen sei es aber interessant darauf zu schauen, wie Künstliche Intelligenz funktioniere. Nämlich: durch Daten aus der Vergangenheit Prognosen für die Gegenwart und Zukunft zu generieren. „Aber dieser Prozess schafft zugleich auch eine neue Wirklichkeit.“ Und diese „neue Wirklichkeit“ reproduziere die Strukturen der Vergangenheit – mit ihren Diskriminierungen.
Auch deshalb plädiert Ammicht Quinn für ein anderes „Spannungsverhältnis zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften und den Technikwissenschaften.“ Sie setzt sich für „Räume von Auseinandersetzung und Annäherung“ ein.
Empfehlung von Regina Ammicht Quinn
Regina Ammicht Quinn empfiehlt: „ Atlas of AI - Power, Politics, and the Planetary Costs of Artificial Intelligence“ von Kate Crawford, erschienen bei Yale University Press. Die American Society for Information Science and Technology zeichnete „Atlas of AI“ als Bestes Sachbuch der Informationswissenschaften 2022 aus. „Das Buch, von dem ich in letzter Zeit am meisten gelernt habe“, sagt Ammicht Quinn.
Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche
Produktion: Imanuel Pedersen

Jul 14, 2023 • 1h 39min
„Man müsste einfach nur teilen“ – Ulrich Schneider bei Carolin Emcke über Strategien gegen Armut
14,1 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen, das hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem Armutsbericht 2022 mitgeteilt. Anders ausgedrückt: 16,9 Prozent der deutschen Bevölkerung. Ein Höchstwert. Doch warum wird über Armut nicht gesprochen – und wird sie politisch nicht ausreichend bekämpft? Darum geht es in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke.
Zu Gast ist der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider. Schneider, 1958 in Oberhausen geboren, studierte an den Universitäten in Münster und Bonn Erziehungswissenschaften. Seit 1988 ist er im Paritätischen Wohlfahrtsverband aktiv, seit 1999 als Hauptgeschäftsführer. Der Paritätische ist ein Dachverband von über 10 000 eigenständigen gemeinnützigen Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich. „Der Paritätische wirkt auf eine Sozial- und Gesellschaftspolitik hin, die die Ursachen von Benachteiligung beseitigen, ein selbstbestimmendes Leben ermöglichen und sachgerechte Rahmenbedingungen für eine zeitgemäße soziale Arbeit schaffen“, beschreibt der Verband sich selbst.
„Was macht eine Arbeiterkindheit und – jugend aus? Enge.“
Schneider erinnert sich in dem Gespräch mit Carolin Emcke an seine Kindheit: „Wir hatten wirklich sehr wenig. Das hätte man damals nicht als Armut bezeichnet, weil im ganzen Viertel hatten die Menschen wenig. Das waren alles sehr einfache Arbeiter wie mein Vater, der Bierfahrer war oder bei der Wach- und Schließgesellschaft gearbeitet hat. Also wirklich: kaum Geld.“ Was das im Alltag bedeutet hat: „Enge. Es ist alles eng und alles ist klein.“ Um damit in der Familie und im Umfeld klarzukommen, brauche es sehr viel Solidarität und Rücksichtnahme: „Enge heißt auch, dass man in Kauf nimmt, dass etwas sehr unbequem ist.“
An seinem früh verstorbenen Vater habe Schneider gesehen, wie sich ein Mensch „kaputt malocht“ habe. „Er hat nicht mal die Rente erreicht.“ Und das habe Schneider „unglaublich wütend gemacht“, wie „da Leute zerschlissen werden – erst für Nazideutschland und danach für ein angebliches Wirtschaftswunder, von dem nun wirklich nicht alle etwas hatten.“ Diese Erfahrung motiviere ihn noch heute, sagt Schneider. Denn auch heute noch heiße Armut „abgehängt zu sein. Armut heißt, nicht mithalten zu können. Armut heißt, auf sich zurückgeworfen zu sein. Armut heißt, permanent Existenzängste zu haben, soziale Existenzängste zu haben und nicht zu wissen, wie man seinen Lebensunterhalt bestreiten soll.“
„Politische Teilhabe ist in Deutschland im Wesentlichen noch eine Teilhabe ab bürgerlicher Mitte aufwärts“
Von der Politik ist Schneider „komplett enttäuscht“. Ein Grund: „Seit wir uns im Krisenmodus befinden, seit 2020 wird wirklich ungeheuer viel Geld rausgehauen mit Wumms und Doppelpunkt. Und das meiste geht wirklich an Wohlhabende.“ Armutsbekämpfung fände nicht statt. Der Grund: „Der Politikbetrieb, der läuft ja nun mal so, dass er in erster Linie politische Probleme löst – und nicht unbedingt gesellschaftliche. Ein gesellschaftliches Problem muss erst in ein politisches überführt werden, damit man dann auch Politiker ins Handeln bringt.“ Und weil Armut vordergründig kein politisches Problem sei, werde es auch aktuell nicht politisches gelöst. „Arme Menschen können sich ja nicht mal die Fahrtkosten leisten, um zur Demo zu kommen. Und deswegen heißt Armut wirklich, von politischer Teilhabe ganz faktisch ausgeschlossen zu sein. Politische Teilhabe ist in Deutschland im Wesentlichen noch eine Teilhabe ab bürgerlicher Mitte aufwärts.“
Dabei wäre es sehr einfach, sagt Schneider. „Armut zu bekämpfen ist ja nicht so schwierig. Man müsste einfach nur teilen. Also wenn alle genug Geld hätten, gäbe es keine Armut. So einfach ist die Welt.“ Nicht nur um den Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen, die in Armut leben, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen: „Die beste Politik gegen rechtsradikale Umtriebe ist eine gute Sozialpolitik.“
Empfehlung von Ulrich Schneider
Ulrich Schneider empfiehlt die Dokumentation: „Neil Young: Harvest Time“, die mit Originalaufnahmen aus den frühen Siebzigerjahren die Entstehung des Albums „Harvest“ begleitet. Und wenn man nicht an den Film herankommt? „Dann auf jeden Fall die Schallplatte besorgen, nach Möglichkeit wenn es irgendwie geht auf Vinyl: Harvest – Legendär.“
Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER

Jun 30, 2023 • 1h 34min
„Aktivismus ist radikaler Optimismus“ – Autorin Sharon Dodua Otoo bei Carolin Emcke über Schwarzsein in Deutschland
Was bedeutet es, in Deutschland, in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft, Schwarz zu sein? Und: Warum ist alles aktivistisch, was den Status Quo herausfordert? Während alles, was den Status Quo stützt, als „neutral“ wahrgenommen wird? Darum und um die Rolle von Literatur geht es in der neuen Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke.
Zu Gast ist Sharon Dodua Otoo, 1972 in London geboren. Otoo ist Schriftstellerin, politische Aktivistin und Herausgeberin der englischsprachigen Buchreihe Witnessed. Mit dem Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“ gewann Otoo 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 hielt sie die Klagenfurter Rede zur Literatur „Dürfen Schwarze Blumen Malen?“, die im Verlag Heyn erschien. Politisch aktiv ist Otoo bei der Initiative „Schwarze Menschen in Deutschland e.V., Phoenix e.V.“ und sie ist verbunden mit dem Schwarzen queerfeministischen Verein ADEFRA. Ihr erster Roman Adas Raum, ist 2021 im S. Fischer Verlag erschienen.
„Schwarz ist nicht eine vermeintliche Hautfarbe, sondern beschreibt eine politische Position innerhalb einer Gesellschaft, die Weißsein zur Norm setzt.“
Otoo sagt: „Ich nehme mich selbst als Aktivistin wahr und ich bezeichne mich und positioniere mich als Aktivistin.“ Aber: „Ich finde es schade, wenn meine Literatur dann ausschließlich so gelesen wird. Denn ich glaube, es ist möglich, Schriftstellerin und Aktivistin zu sein und dass die Kunst auch aus einem künstlerischen Anspruch gelesen werden kann.“
Otoo kam Mitte der 90er Jahre für eine Zeit nach Deutschland, nach Berlin. „Da habe ich das erste Mal Schwarze Mädchen aus Deutschland kennengelernt, die politisch aktiv waren und organisiert waren. Und tatsächlich: Das war so eine Art Black Coming Out.“ Davor habe sie zwar gewusst, „dass ich Schwarz bin, aber ich hatte keinen Zugang zu diesen politischen Identitäten.“ Denn „Schwarz ist nicht eine vermeintliche Hautfarbe, sondern beschreibt eine politische Position innerhalb einer Gesellschaft, die Weißsein zur Norm setzt.“ Und dass alles, was diese Norm, diese weiße Dominanzgesellschaft stütze, als neutral wahrgenommen werde. „Und alles, was jenseits davon passiert, ist dann parteiisch. Und da würde ich gerne daran rütteln, an diesem Selbstverständnis.“
Darüber und die politische Dimension von Haaren, das Schreiben über marginalisierte Gruppen und ihre Liebe zu Schriftstellern wie Friedrich Dürrenmatt oder Bertolt Brecht spricht Autorin Sharon Dodua Otoo in dieser Folge von „In aller Ruhe“.
Empfehlung von Sharon Dodua Otoo
Sharon Dodua Otoo empfiehlt: Vatermal von Necati Öziri. Der Roman erscheint am 27. Juli im Uhlstein-Verlag Claassen. Der Verlag kündigt den Roman so an: „Necati Öziri schreibt eine Familiengeschichte über einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester, deren Leben und Körper gezeichnet sind von sozialen und politischen Umständen. Und er schreibt über einen abwesenden Vater.“ Otoo sagt: „Das ist wirklich ein umwerfend tolles, schönes Stück Literatur.“
Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER

Jun 16, 2023 • 1h 27min
„Teuer und völlig kontraproduktiv” – Karl Kopp bei Carolin Emcke über die Asylpolitik der EU
Erst diese Woche sind wieder mehrere Hundert Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken – nach einem Bootsunglück vor der Küste Griechenlands. Das Ausmaß macht viele Menschen betroffen, doch dieses Unglück ist natürlich kein Einzelfall: Seit Jahren sterben Migranten auf dem Mittelmeer, aber auch die Zustände an den Landgrenzen der EU werden von NGOs wie Pro Asyl stark kritisiert. Auch die neuen Reformpläne des Asylsystems der EU aus der vergangenen Woche problematisieren sie.Wie konnte es zu dem aktuellen Asylsystem kommen? Und gibt es Hoffnung, dass sich an der Situation etwas ändert?
In der zehnten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Karl Kopp. Kopp, geboren 1960, ist Sozialwissenschaftler und seit über 30 Jahren Europareferent bei Pro Asyl. In dieser Funktion vertritt er die Menschenrechtsorganisation im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles) und vernetzt Pro Asyl europaweit mit Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Er ist Autor des 2001 erschienenen Buches „Asyl”, das sich mit der Historie des Asylrechts in Deutschland und Europa befasst.
Hinweis: Das aktuelle schwere Bootsunglück vor der griechischen Küste hat nach der Aufzeichnung dieses Gesprächs stattgefunden. Es ist deswegen kein Thema im Podcast. Mehr dazu finden Sie in dieser Folge unseres Nachrichtenpodcasts "Auf den Punkt".
„Das europäische Konzept ist es auch, Bilder des Elends zu vermeiden”
Kopp betont die Bedeutung von Bildern in der Asylpolitik. Durch die könne Empathie entstehen, man könne damit die Geschichten der Betroffenen erzählen. Die Öffentlichkeit bekomme deswegen nur selten freie Einblicke in die direkten Grenzregionen oder in Zentren, in denen Menschen auf der Flucht festgehalten werden. „Dass man Schutzsuchende aus der Öffentlichkeit rausnimmt in diesen Lagern, die sehr weit weg sind von Städten, von der Zivilisation”, das sei Teil des europäischen Konzepts.
Zur Asylpolitik der Europäischen Union sagt Kopp: „27 Staaten sollten sich an Völkerrecht halten.“ Sie sollen die Menschen an der Grenze daher nicht zurück prügeln. „Sie haben Zugang auf ein faires Asylverfahren und auf menschenwürdige Aufnahmebedingungen, keine Parkbank, keine Haftzelle.” Kopp spricht davon, dass es in der EU einen Konsens gebe der laute „Externalisierung: Möglichst viele draußen halten.” Und deshalb gebe es in Grenzverfahren „ein merkwürdiges Sortiersystem, das sehr technokratisch und ein bisschen auch von Omnipotenzgefühlen getragen ist.” Für Kopp ist das derzeitige System „an der Realität vorbei und nicht menschenrechtskonform.” Zudem kritisiert Kopp das Konzept der Abschreckung als „sehr teuer. Es suggeriert im Sinne der Hardliner Erfolge und ist eigentlich völlig kontraproduktiv.”
Einen Großteil der Arbeit mit den Asylsuchenden würden in Deutschland am Ende die Kommunen übernehmen, sie seien laut Kopp „die Maschinerien, die Menschen in die Gesellschaft bringen”, und genau das sei auch das Problem, denn „ein Teil der Kommunen ist am Limit”.
Empfehlung von Karl Kopp
Karl Kopp empfiehlt gleich mehrere Hymnen. Zum einen die der Eintracht, von der er großer Fan ist und zum anderen die Hymne von Sevilla, die sich besonders gut in schwierigen Zeiten hören lässt. Und zu guter Letzt noch der Song „Anthem” von Leonard Cohen mit der hoffnungsvollen Zeile: „there’s a crack, a crack in everything – that is how the light gets in: In jeder Spalte gibt es eine Chance, dass auch Licht einfällt, und wir müssen sehr genau hinschauen, um den Spalt zu finden, und die Lichtstrahlen”, sagt Kopp.
Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche
Produktion: Imanuel Pedersen
Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie hier.

Jun 2, 2023 • 1h 41min
„Demokratie demokratisieren“ – Robin Celikates bei Carolin Emcke über Protest und die Letzte Generation
Manche Gleichzeitigkeiten sind schon bemerkenswert: Die französische Regierung geht davon aus, dass sich das Klima in Frankreich in den kommenden Jahrzehnten um bis zu vier Grad erwärmen wird. Und zugleich diskutieren deutsche Politiker weniger über Klimapolitik und mehr darüber, ob denn nun die sogenannte „Letzte Generation“ angemessene Mittel in ihrem Protest wählt. Aber welche Rolle kommt Protest in einer Demokratie zu – und sind die Proteste der „Letzten Generation“ legitim?
In der neunten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Robin Celikates. Celikates, geboren 1977, ist Philosoph, Sozialforscher und seit 2019 Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind radikale Demokratietheorie, Protest und ziviler Ungehorsam. Er wurde 2008 mit seiner Arbeit „Gesellschaftskritik als soziale Praxis. Kritische Theorie nach der pragmatischen Wende“ im Fach Philosophie promoviert.
Hinweis: Die Razzien bei Mitgliedern der „Letzten Generation“ haben nach der Aufzeichnung dieses Gesprächs stattgefunden. Sie sind deswegen kein Thema im Podcast.
„Ohne Dissens und Widerspruch hätte es viele demokratische Fortschritte gar nicht gegeben“
Zunächst betont Celikates, dass „alle Demokratien, die wir kennen, auch durch strukturelle Demokratiedefizite gekennzeichnet sind.“ Im Umkehrschluss heißt das: „Dass Demokratie eigentlich immer weiter demokratisiert werden müssen.“ Und genau hier kann Protest eine wertvolle Rolle in einer Demokratie übernehmen. Denn „ohne Dissens und Widerspruch hätte es viele demokratische Fortschritte historisch gesehen gar nicht gegeben“, sagt Celikates.
Zu den Protestformen der „Letzten Generation“ sagt Celikates: „Straßenblockaden stellen prinzipiell eine legitime Form des politischen Protests dar.“ Vor allem in der Anfangszeit als die Protestgruppe noch recht klein war. Inzwischen sei er der Auffassung, dass Blockaden im Berufsverkehr kein besonders sinnvolles Mittel mehr sind. „Ich finde, es muss an den Stellen interveniert werden, wo tatsächlich diejenigen getroffen werden, die Verantwortung dafür tragen, dass es die Klimakrise in dem Ausmaß gibt. Und das ist bei den Leuten, die morgendlichen Berufsverkehr stehen, nicht der Fall.“ Wichtig sei ihm aber, dass „es nicht nur um zukünftige Generationen geht, sondern um die Generation, die jetzt schon hier ist.“
Die Diskussion um die Protestform der „Letzten Generation“ bezeichnet Celikates als „Ablenkungsmanöver“ und als „Fetischisierung der Mittel“.
Empfehlung von Robin Celikates
Robin Celikates empfiehlt: „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson, in deutscher Übersetzung 2021 im Heyne Verlag erschienen. Ein Roman, „der deshalb besonders gut ist, weil er zeigt, dass die Klimakrise tatsächlich so eine grundlegende Herausforderung darstellt, auf die wir nur dann eine Lösung finden würden, wenn alle Bereiche: die Wissenschaft, die Institutionen, die sozialen Bewegungen sich darauf einlassen“, sagt Celikates. Robinsons Roman sei „politisch, theoretisch, aber auch ästhetisch sehr interessant und herausfordernd.“
Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche
Produktion: Imanuel Pedersen

May 19, 2023 • 1h 54min
„Strategische Quecksilbrigkeit“ – Nicole Deitelhoff bei Carolin Emcke über die Rolle des Westens im Ukraine-Krieg
Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg in der Ukraine, seit 15 Monaten. Dabei sollte die russische Invasion, zumindest in der Vorstellung des Kremls, schnell wieder vorbei sein. Kiew sollte innerhalb weniger Tage besetzt sein, die Ukraine überrannt werden. Doch das Kriegsgeschehen hat sich in einen Abnutzungskrieg entwickelt. Mit zähen, langen und verlustreichen Kämpfen um einzelne Städte wie Bachmut. Wie blickt eine Friedens- und Konfliktforscherin auf diesen Krieg?
In der achten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Nicole Deitelhoff. Deitelhoff, geboren 1974 in Eutin in Schleswig-Holstein, ist Leiterin des Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, das die Ursachen internationaler und innerstaatlicher Konflikte analysiert und Wege sucht, diese Konflikte zu lösen. Sie gibt das jährliche „Friedensgutachten“ mit heraus, das mit Empfehlungen an die Bundesregierung weitergegeben wird. Deitelhoff studierte Politikwissenschaft, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt sowie Political Science an der State University of New York at Buffalo.
„Szenen, wie man sie eher von der Westfront im Ersten Weltkrieg kennt“
Hinter dem Handeln des russischen Präsidenten Wladimir Putin kann sie ein rationales Kalkül erkennen: „Nehmen wir mal an, es wäre tatsächlich innerhalb von fünf bis sieben Tagen der Sturm auf Kiew gelungen. Dann hätte Russland faktisch, wie Putin es ja auch vermutlich kalkuliert hat, die entsprechenden öffentlichen Strukturen unterwandern können und dann die Angleichung oder die Einvernahme der Ukraine durch Russland bewerkstelligen können. Das wäre alles noch logisch gewesen.“ Aber: „Dass es ein landbasierten Panzerkrieg geben würde – und das ist so einer – damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Das habe ich eigentlich für faktisch ausgeschlossen gehalten.“
Über das Kriegsgeschehen sagt Deitelhoff: „Das sind Szenen, wie man sie eher von der Westfront im Ersten Weltkrieg kennt. Also wirklich: Insbesondere bei den Wagner-Truppen, die über den Körpern ihrer toten Kameraden versuchen, weitere Gebietsgewinne zu machen. Und die fallen einer nach dem anderen. Das sind wirklich schreckliche Bilder.“
Der Krieg in den Medien als „postmodernes Spiel“
Die mediale Beobachtung und der Diskurs über den Krieg gegen die Ukraine blende sehr viele wichtige Themen aus: „Die Frontlinie ist ja nur die Spitze, die wir sehen können, aber darunter verbirgt sich der komplette Unterbau. Es geht um die sozialen Verhältnisse in den jeweiligen Konfliktparteien, um Verteilungsfragen, es geht um Ressourcen. Und das kommt in der Tat sehr, sehr kurz.“ Stattdessen erkennt Deitelhoff im Diskurs über den Krieg, „eine Art postmodernes Spiel, das wir beobachten und bei dem wir ein unterschiedliches Team anfeuern. Und wir schauen eben deswegen auch nur auf diese direkte Konfrontation zwischen den Teams.“
In der Debatte um ein Kriegsende nimmt Deitelhoff wahr, dass zwei Ebenen vermischt werden: „Ich würde sagen: Strategische und taktische Fragen werden direkt mit Moral aufgeladen und können dadurch eben nicht mehr getrennt behandelt werden. Das ist ein großes Problem. Also ich kann nicht über strategische Bedeutung sprechen, ohne dass ich gleichzeitig dazu Stellung nehmen muss, ob die Ukraine gewinnen oder verlieren muss.“ Die Folge: eine „moralische Durchdringung von eigentlich analytischen Fragen, die dazu führt, dass wir bestimmte Bedingungen gar nicht mehr diskutieren können.“ Zum Beispiel: „Wir können eigentlich nicht mehr darüber sprechen, dass wir ganz unterschiedliche Enden von Kriegen kennen. Und dass wir viel darüber wissen, was in Kriegen passieren muss und gegeben sein muss, dass es zu einem Ende kommt. Wir haben diese Expertise, aber es ist kaum möglich, sie auf den Tisch zu legen und nüchtern darüber zu sprechen.“
Wie dieser Krieg enden kann? Und warum es selten „gerechte Frieden“ gibt – darüber spricht Nicole Deitelhoff in dieser Folge.
Empfehlung von Nicole Deitelhoff
Nicole Deitelhoff empfiehlt die Horror-Serie „Midnight Mass“, 7 Folgen auf Netflix. Eine Serie, „die mich nicht loslässt“. In der Serie vollbringt ein junger Priester in einem Fischereidorf Wunder und löst einen religiösen Eifer in dem sterbenden Städtchen aus. „Es geht um Schuld, Vergebung, Sühne und Verdammnis.“ Eine „Horrorserie, aber sie setzt kaum auf blutige Schockeffekt, sondern eher auf der Horror, der sich der sich aus dem Ungewissen, aus diesem nicht Sichtbaren ergibt.“ Und ohne zu viel zu spoilern: „Ich kann schon mal sagen, es ist nicht so eine Happy-End-Serie, aber sie ist fantastisch.“
Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche
Produktion: Imanuel Pedersen

May 4, 2023 • 1h 26min
„Nicht reformfähig“ – Georg Essen über die katholische Kirche
Die katholische Kirche in Deutschland ist in der Krise: sinkende Mitgliederzahlen, der Missbrauchsskandal und gesellschaftspolitische Positionen, die nicht mehr das Lebensgefühl urbaner und junger Menschen ansprechen. Vor allem beim Umgang mit Queerness, der Rolle der Frau und dem Zölibat scheint eine Modernisierung überfällig. Aber: Warum tut sich die katholische Kirche damit so schwer? Und was bedeutet es überhaupt in einer säkularen Welt zu glauben?
In der neuen Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit dem Theologen Georg Essen. Er ist 1961 in Kevelaer am Niederrhein geboren. Er studierte von 1981 bis 1987 in Münster und Freiburg Katholische Theologie und Geschichte. 1994 wurde er „summa cum laude“ zum Dr. theol. an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster promoviert. Titel der Dissertation: „Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit“. 1999 habilitierte er sich mit der Arbeit „Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie“ Seit 2021 ist er Direktor des Zentralinstituts für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
„Was hat mich in Lebenskrisen getragen?“
Was bedeutet für Georg Essen „glauben“? „Was hat mich eigentlich in Lebenskrisen wirklich getragen, wenn wirklich kein Ende in Sicht war, kein Licht am Ende des Tunnels?“ Seine Erfahrung: „Ich kann es nicht gewesen sein. Ich habe mich selbst mehrfach in meinem Leben als sehr schwach und vor allen Dingen sehr angstbesetzt erfahren. “ Und „dann gibt es einige Religionen, die diesen tragenden Grund „Gott“ nennen.“
Und einen solchen, gesellschaftlichen Trost hat er von den Kirchen in Deutschland während der Corona-Zeit vermisst: „Mir fehlte ein großes Symbol, ein großes gesellschaftlich-öffentliches Wort. Da ich schon denke: Die Kirchen hätten sprechen können und Trost stiften.“ Das könne auch die Rolle von Religion in einer säkularen Gesellschaft sein: „Dieser Trost, der etwas stillen soll, was wir einander nicht geben können.“ Auch wenn das früher mal so war, aber: „Das Christentum ist keine Leitkultur in unserer pluralen heutigen Gesellschaft.“ Gleichzeitig sagt Essen auch: „Es ist zwar der Kipppunkt erreicht, was die Mitglieder der beiden Großkirchen angeht. Deren Anteil liegt jetzt ungefähr bei 50 Prozent. Das ist ein rasanter Rückgang. Aber es sind ja immerhin noch 50 Prozent. Und das ist sehr viel.“
„Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes“
„Der christliche Glaube hat ein wirklich erhebliches, strukturelles Problem: Das Problem ist, dass seine Wahrheit ja nicht in einem Buch, in einer Lehre seinen Niederschlag gefunden hat. Das ist sekundär. Das Primäre ist, dass die Wahrheit gebunden ist an ein geschichtliches Ereignis, nämlich an die Person des Jesus von Nazareth“, sagt Georg Essen. Und daraus folge ein Dilemma: „Das große Dilemma des christlichen Glaubens ist, dass seine Wahrheit eigentlich eine Wahrheit in der Vergangenheit ist. Über 2000 Jahre zurück.“ Das heißt: „Kirche ist in dem Sinne nichts anderes als die institutionalisierte Form einer Erinnerungs- und Erzähl-Gemeinschaft.“
Die Kirche müsse „religionsintern eine Antwort über die Würde der Frau und über Homosexualität finden.“ Und: „Empirisch, würde ich tatsächlich sagen, entscheidet sich alles dran. Der Laden bricht auseinander.“ Für Essen gibt die Bibel darauf aber eine Antwort: „Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes. Ein jeder Mensch, ohne jede Ausnahme. Und Menschen finden sich vor in ihrer Geschlechtlichkeit, in ihrer Queerness. Und das alles zu dämonisieren oder zur Sünde zu erklären, ist ein Frevel.“ Allzu viel Optimismus auf eine schnelle Modernisierung mag er aber fürs Erste nicht verbreiten: „Der Laden ist nicht wirklich reformfähig und -willig.“
Für die Zukunft wünscht sich Georg Essen, „dass diese Kirche meine Heimat bleibt.“
Empfehlung von Georg Essen
Georg Essen empfiehlt: „Fabelhafte Rebellen - Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ von Andrea Wulf, erschienen bei C. Bertelsmann. „Das ist eine Mikro-Studie über eine bestimmte Zeit in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in Jena, in der alle Geistesgrößen von Schiller, von Fichte, von Humboldt da waren.“ In dieser Zeit liegen laut Essen die „Ursprünge unseres heutigen Freiheitsdenkens.“ Und: „Es ist unglaublich lebendig zu lesen, wie Menschen nicht nur über Freiheit nachdenken, sondern Freiheit emanzipatorisch leben – vor allen Dingen auch endlich mal die Frauen.“
Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche
Produktion und Sounddesign: Justin Patchett

Apr 21, 2023 • 1h 33min
„Kein Entkommen“ – Ofer Waldman bei Carolin Emcke über die Demokratie-Krise in Israel
Hunderttausende Menschen gehen in Israel gegen die Justizreform des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu auf die Straße. Seit Monaten schon. Allein am Samstag waren es in Tel Aviv mehr als 100 000 Demonstranten. Sie protestieren für die Unabhängigkeit der Justiz, für die israelische Demokratie. Netanjahus Vorschlag für die „Justizreform“ sieht vor, dass Urteile des Obersten Gerichtshofs mit einfacher parlamentarischer Mehrheit übergangen werden können. Wie blicken progressive Israelis auf ihr Land? Und wie kann das gespaltene Land wieder zusammenfinden?
In der sechsten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Ofer Waldman. Er ist 1979 in Jerusalem geboren und lebt in Israel. Seit 2015 ist er als freier Autor für deutsche und israelische Medien tätig, vor allem für Deutschlandfunk Kultur, bei dem er regelmäßige Beiträge zu Israel und zur israelbezogenen Debatte in Deutschland sendet. In seinen Beiträgen thematisiert er unter anderem politische, gesellschaftliche, kulturelle und historische Fragen aus Israel und Deutschland. 2021 erhielt er den Deutschen Hörspielpreis der ARD für „Adolf Eichmann - Ein Hörprozess“ . Waldman ist 1999 als Mitglied des von Dirigenten Daniel Barenboim mitgegründeten, arabisch-israelischen „West-Eastern Divan“ Orchesters nach Berlin gezogen. Er absolvierte ein Diplomstudium an der Universität der Künste Berlin. Später wurde Waldman an der Freien Universität Berlin (Germanistik) und der Hebräischen Universität Jerusalem (Jüdische Geschichte) promoviert.
„Beide Bedrohungen sind gleich gefährlich“
In Israel kennt Waldman das Gefühl der ständigen Bedrohung. „Ich habe schon die sehr unschöne Erfahrung machen müssen, mit den eigenen Kindern zum Luftschutzkeller laufen zu müssen“, sagt er. „Man führt das normale Leben und trotzdem wartet immer das Ohr, das aussortiert. Geräusche, die man so wahrnimmt: die hupenden Autos, die Vögel, die Passanten. Und auf einmal hört man ein Motorrad, das irgendwo Gas gibt und denkt: Oh, ist das jetzt ein Luftalarm oder ist es nur ein Motorrad?“ Die Angst melde sich akustisch.
Für Waldman gibt es aber nicht nur diese äußere Bedrohung für das demokratische Israel. Für das Leben, das er in Israel lebt. Sondern auch eine innerhalb Israels: die derzeitige Regierung unter Benjamin Netanjahu. Und „beide Bedrohungen sind wahr. Beide Bedrohungen sind gleich gefährlich. Beide Bedrohungen sind sehr spürbar.“ Dass Netanjahus „sogenannte Justizreform, die keine ist,“ so gefährlich sei, habe mit einer Besonderheit des israelischen Staates zu tun: „Israel hat keine Verfassung.“ Das Oberste Gericht ist daher „zu einer Art Beschützer oder Begründer der verfassungsähnlichen Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger Israels“ geworden, sagt Waldman.
„Die besetzten Gebiete besetzen Israel“
Es sei Netanjahus „persönliches Anliegen: die Schwächung der israelischen Justiz.“ Das hänge damit zusammen, dass der israelische Premier derzeit – so sehe es aus – nur ein Ziel verfolge: „Und das ist, nicht ins Gefängnis gehen zu müssen.“ Die derzeitige Regierungskoalition zwischen Netanjahus Likud-Partei und teils rechts-religiösen Parteien lasse sich „mit drei Worten zusammenfassen: Annexion, Religion und Korruption.“ Aus den Protesten gegen die sogenannte Justizreform schöpft Waldman Hoffnung: „Sollte diese Protestbewegung sich politisch konsolidieren und eine politische Entsprechung im Parteiensystem in Israel finden, wäre das vielleicht endlich der Weg, um die Konstruktionsfehler Israels, um die Grundpfeiler Israels anzugehen.“
Denn die anschließende Frage ist für Waldman: „Demokratie – für wen?“ Auf den Protesten riefen die Demonstranten nach Demokratie, aber „man ruft nach einer Demokratie nur für die Bürgerinnen und Bürger Israels und nicht für die Palästinenser in den besetzten Gebieten.“ Und: „Die Entwicklungen, die uns hierher gebracht haben. Die Krankheit, deren Symptome wir jetzt erleben, die kommt aus der Besatzung. Weil die besetzten Gebiete besetzen Israel.“ Das demokratische, progressive Lager in Israel „hat keine politische Zukunft ohne eine Allianz mit den palästinensischen politischen Vertretern im israelischen Parlament. Punkt. Aus.“
Für die deutsche Debatte über Israel beobachtet Waldman: „Es geht um Deutschland. Es geht um ein identitätsstiftendes, eine deutsches Gespräch.“ Er würde sich wünschen: „Es wäre ein wichtiger erster Schritt, wenn wir über Israel reden, dass wir wirklich über Israel reden.“
Empfehlung von Ofer Waldman
Ofer Waldman empfiehlt das autofiktionale Hörspiel „Faust (hab’ ich nie gelesen)“ von Noam Brusilovsky, erschienen beim SWR. Der Protagonist beantragt darin die deutsche Staatsbürgerschaft und benötigt dafür eine Bestätigung des Arbeitgebers – dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Diese Bestätigung bescheinigt ihm eine vorangeschrittene Integration in Deutschland. Im Gegenzug soll er dafür Goethes “Faust“ als Hörspiel inszenieren. Das Problem: Den hat er nie gelesen. „Das ist der Ausgangspunkt für ein wirklich sehr, sehr lustiges, intelligentes, brillant gemachtes Hörspiel“, sagt Waldman. Bei dem sich vor allem eine Frage stelle: „Was steht auf der Eintrittskarte zu Deutschland, zum Deutschsein?“
Podcast: Carolin Emcke
Text: Johannes Korsche
Produktion, Schnitt: Justin Patchett