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In aller Ruhe

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Jan 13, 2024 • 1h 10min

„Putin is paranoid“ – Masha Gessen bei Carolin Emcke über mögliche und unmögliche Exit-Strategien der Ukraine

Russland führt den Krieg gegen die Ukraine weiterhin mit unverminderter Härte fort. In diesem Winter meldete die Ukraine die heftigsten Drohnenangriffe seit Beginn des Krieges. Die westlichen Sanktionen scheinen Putins Macht nicht zu untergraben. Wie funktioniert das System Putin? Und wie fühlt es sich an, auf der russischen Fahndungsliste zu stehen? Darüber spricht Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Masha Gessen. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt. Masha Gessen, 1967 in Moskau geboren, emigrierte Anfang der 1980er-Jahre mit ihren Eltern in die USA. Nach dem Ende der Sowjetunion kehrte Gessen nach Russland zurück, um dort journalistisch tätig zu sein. Gessen identifiziert sich selbst als non-binär. Aufgrund der zunehmend repressiven Politik in Russland folgte 2013 die Rückkehr in die USA. Gessen gilt als eine der eloquentesten Stimmen der Opposition gegen Wladimir Putin. Gessen ist mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award (2017), dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2019) sowie dem Hannah-Arendt-Preis (2023). Dieser Verleihung ging ein Eklat in Deutschland voraus, weil Gessen in einem Essay für den New Yorker das Warschauer Ghetto während des Nazi-Regimes mit der aktuellen Situation im Gazastreifen verglichen hat. Für Kritiker eine unzulässige Relativierung des Holocausts. „Es wird immer ein Gesetz geben, das sie gegen dich verwenden können.“ Masha Gessen ist in Russland angeklagt, der fingierte Grund: Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee. Konkret geht es darum, dass Gessen gesagt hat, dass die mehr als 400 getöteten Zivilisten des Massakers von Butscha von russischen Soldaten ermordet wurden. Russland behauptet, dass die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen auf die Straßen des Kiewer Vororts gelegt wurden. Satellitenbilder beweisen das Gegenteil. „Russland benutzt das Gesetz wie viele zeitgenössische Autokratien“, sagt Gessen. Nicht im Sinne eines Rechtsstaates, sondern zur Einschüchterung: „Es wird immer ein Gesetz geben, das sie gegen dich verwenden können.“ Diese Anklage habe letztlich drei Konsequenzen: „Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich nie wieder nach Russland zurückkommen können.“ Eigentlich habe Gessen am ersten Tag nach Putin ins Flugzeug steigen wollen – „Es ist meine Heimat“ –, aber nun sei nicht zu erwarten, dass das je wieder möglich sein werde. Die zweite Konsequenz: Es gebe eine Reihe von Ländern, in denen enge Freunde und Bekannte leben, in die Gessen nicht mehr reisen könne, weil sie an Russland ausliefern – oder Menschen von dort verschleppt und in russische Gefängnisse gebracht werden. „Das ist ein großer Teil der Welt.“ Die dritte Konsequenz betreffe die Länder, die nicht ausliefern, wie zum Beispiel jene in der EU. Aber: „Das sind Länder, in denen Russland Auftragsmörder hat.“ Es sei „kein gemütliches Gefühl, auf der Wanted-Liste Russlands zu stehen“. „Putin kann man nicht vertrauen.“ Bei der Analyse des Ukraine-Kriegs fällt Gessen eine Asymmetrie der Ausgangslagen auf. „Für Putin ist alles tolerabel, was keine völlige Niederlage ist, wie es der Verlust der Krim wäre.“ Die Konsequenz: „Er kann den Krieg auf unbestimmte Zeit führen.“ Für die Ukraine sei das Gegenteil richtig. „Sie kann den Krieg nur solange führen, wie sie noch Soldaten und die westliche Unterstützung hat – und beides läuft aus.“ Das spielt dem Kreml in die Karten, der keine Exitstrategie braucht und nicht verhandeln wolle. Die Forderungen an die Ukraine, in Friedensverhandlungen einzutreten, seien daher letztlich „unmoralisch“, sagt Gessen. Denn die Forderung, Territorium aufzugeben, bedeute nicht lediglich einen Gebietsverlust für die Ukraine, sondern: „Was man damit sagt, ist: Kannst du nicht deine Cousine, deine Tante, deinen Bruder der russischen Folter preisgeben?“ Denn: „Genau das passiert unter russischer Besatzung durchweg.“ Zudem sei selbst in dem unwahrscheinlichen Szenario, dass Putin bereit wäre zu verhandeln, keine stabile Situation zu erwarten. „Putin kann man nicht vertrauen.“ Seine Ambitionen, die Ukraine einzugliedern, „sind ja bekannt“. Das würde also einen endlos eingefrorenen Krieg bedeuten. „Vielleicht ist ein eingefrorener Krieg besser als ein heißer Krieg – aber es ist nicht sehr viel besser“, sagt Gessen. Empfehlung von Masha Gessen Masha Gessen empfiehlt: „Fellow Travelers“, in Deutschland auf Amazon Prime zu sehen. Die Acht-Episoden-Miniserie begleitet ein homosexuelles Paar von der McCarthy-Ära bis zur Zeit der Aids-Epidemie. „Das ist eine der wenigen Serien, die es schaffen, politisch und psychologisch klug von unseren schlechtesten Tendenzen zu erzählen.“ Moderation: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche Produzent: Imanuel Pedersen
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Dec 29, 2023 • 1h 5min

„Normalität ist ein Traum“ – Charlotte Knobloch bei Carolin Emcke über ihre Hoffnung nach dem 7. Oktober

Der Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 teilt die Zeit in ein Davor und ein Danach. Nicht nur in Israel, sondern mindestens für Jüdinnen und Juden weltweit. Der Ort, der in dem Moment sichere Zuflucht werden sollte, da Antisemitismus wieder zu Gewalt werden drohte – dieser Ort wurde am 7. Oktober das, was er für Schutzsuchende niemals sein darf: unsicher. Über das Gefühl der Schutzlosigkeit spricht die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Charlotte Knobloch, 1932 in München geboren, überlebte den Holocaust in einem Versteck auf dem Land, 1945 kehrte sie in ihre Geburtsstadt zurück. Das Amt als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern hat sie seit 1985 inne, zwischen 2006 und 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie ist unter anderem mit der höchsten zivilen Ehrung der Bundesrepublik ausgezeichnet worden: dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. „Das gehört zu den schrecklichsten Tagen in meinem Leben.“ Charlotte Knobloch erinnert sich daran, wie sie den Shabbat am 7. Oktober erlebt hat: „Ich bin in die Synagoge gegangen. Da fragten mich schon die ersten, die vor mir da waren, ob ich unterrichtet bin. Ob ich weiß, was heute in Israel passiert ist. Ich wusste natürlich nichts.“ Man habe es ihr dann erklärt. „Und ich kann sagen: Das war ein Gottesdienst in meinem Leben, wo ich mehr geweint als gebetet habe.“ Anfangs habe sie noch gehofft, dass die Meldungen vielleicht übertrieben seien, aber: „Es ist passiert. Leider Gottes ist es passiert.“ Einer ihrer ersten Gedanken sei bei dem Teil ihrer Verwandtschaft gewesen, der in Israel lebt: „Wie kann ich meine Enkelin – sie ist alleinerziehend mit ihren zwei Kindern – hierher bringen.“ Denn die Unsicherheit war groß: „Man wusste ja nicht, wie die nächste Stunde aussieht, wie der nächste Tag aussieht. Das gehört zu den schrecklichsten Tagen in meinem Leben.“ In den Wochen nach dem 7. Oktober hätten sie viele Zuschriften erreicht, auch von Nicht-Gemeindemitgliedern, die Knobloch als „kleines, aber ein sehr starkes Licht“ wahrgenommen hat. „Wir haben ganze Aktenordner voll von diesen Zuschriften“, sagt sie. „Es gab Stunden in diesen Tagen, die sehr gut getan haben. Weil es Menschen gibt und damals gab, die sich mit uns befassen, uns Mut zusprechen und uns auch Schutz versprechen.“ „Normalität war für mich ein Traum. Und es ist ein Traum.“ Sie denke aktuell viel an die Geiseln der Hamas, trägt ein silbernes Medaillon, auf dem steht: „Bring them home. Now.“ Die Gedanken an die Geiseln, die in den Tunneln unter dem Gazastreifen festgehalten werden, bringen sie zu einem Schluss: „Das hat man noch nicht erlebt, dass man Menschen schon lebendig in die Erde bringen will.“ Und ihre Gedanken sind bei den Zivilisten: „Man darf die Menschen nicht vergessen, die eigentlich in diesen Gebieten leben müssen. Und nicht die Möglichkeit haben, sich in ein anderes Land zu begeben oder zu fliehen.“ Charlotte Knobloch blickt auch darauf zurück, wie es war 1945 zurück nach München zu kommen, wo sie wieder auf jene Menschen getroffen ist, die sie zuvor wegen ihres Glaubens angespuckt und beleidigt hatten. Und es geht um die fortwährende Hoffnung: „Normalität war für mich ein Traum. Und es ist ein Traum.“ Denn friedliche Zeiten für Jüdinnen und Juden waren in der Geschichte „immer nur gewisse Zeiten. Dann war es wieder vorbei. Ich hoffe nicht, dass das jetzige Judentum auch unter ’gewissen Zeiten’ leben muss.“ Empfehlung von Charlotte Knobloch Charlotte Knobloch empfiehlt den Film „The Zone of Interest“. Ein Film über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seine Ehefrau Hedwig, die direkt an der Lagermauer leben. Und dort ihre Vorstellung eines Traumlebens verwirklichen – mit einer kinderreichen Familie, Haus und großem Garten. „Der Film zeigt das, was Menschen Menschen antun können.“ Es werden jene Deutschen gezeigt, die die Vernichtung der Juden geleitet haben, aber: „Er spricht den Mensch als solches an.“ Knobloch sagt: „Es wäre gut, wenn der Film Publikum hat.“
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Dec 15, 2023 • 1h 5min

„Autoritärer Demokratismus“ – Christoph Möllers bei Carolin Emcke über das Politikverständnis der AfD

Es ist ja fast so etwas wie die Gretchenfrage der derzeitigen demokratietheoretischen Debatte in Deutschland: Wie hältst du’s mit dem AfD-Parteiverbot? Auf der einen Seite verweisen Befürworter eines Verbots auf die in manchen AfD-Landesverbänden festgestellte „gesichert rechtsextremistische“ Ausrichtung der Partei. Sie warnen vor den Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung, sollte die AfD ihre aktuellen Umfrage- auch in Wahlergebnisse ummünzen können. Auf der anderen Seite wird gewarnt, dass man unliebsame Parteien nicht einfach verbieten könne, bevor sie Wahlen gewinnen könnten. Wie sieht das der Jurist Christoph Möllers, der beim zweiten NPD-Verbotsverfahren den Bundesrat als Antragsteller vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat? Christoph Möllers, 1969 geboren, studierte Rechtswissenschaf­ten, Philosophie und Komparatistik in Tübingen, Madrid und München. Sein Erstes Staatsexamen absolvierte er 1994 in München, sein Zweites Staatse­xamen 1997 in Berlin. 1999 wurde er bei Peter Lerche in München promoviert. Seine Habilitation folgte an der Universität Heidelberg. Seit 2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Seit April 2012 ist er Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Außerdem hat Möllers unter anderem Gastprofessuren an den Universitäten Paris I und II und der Princeton University inne. Als Prozessvertreter vor dem Bundesverfassungsgericht hat er neben dem Bundesrat auch Bundestag und Bundesregierung vertreten. Möllers ist unter anderem Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. „Die AfD hat völkische Argumentationstopoi.“ Bei der Beobachtung der AfD über die vergangenen Jahre kommt Möllers zu dem Schluss: „Es gab so einen Übergang von Lucke zu Petry, von Petry zu Meuthen, von Meuthen zum jetzigen Personal – und alle diese Stufen sind Radikalisierungsstufen, in denen eine Partei, die vielleicht nationalkonservativ und ordoliberal-europakritisch angefangen hat, mehr und mehr zu einer Partei wurde, die rechtsextreme Teile hat.“ Auch in der Art des politischen Sprechens erkennt Möllers eine Radikalisierung in den vergangenen Jahren. Er bescheinigt der aktuellen AfD „völkische Argumentationstopoi“. In diesem Zusammenhang weist Möllers auch auf eine Besonderheit politischer Parteien hin: „Eine politische Partei funktioniert anders als eine soziale Gruppe: Eine Partei kann natürlich von ihren extremistischsten Wählern und Funktionären auch abschließend definiert werden.“ Also: „Der Hinweis darauf, dass zum Beispiel innerhalb der Partei viele nicht verfassungsfeindlich sind, kann zutreffen, aber es ist nicht ganz klar, was es politisch bedeutet, wenn die nicht den Ausschlag geben für die politische Richtung.“ Möllers wirbt bei der Beschreibung der politischen Ziele der AfD für begriffliche Genauigkeit, weil: „Der Demokratiebegriff ist ein fundamental umstrittener Begriff.“ Was das bedeutet? „Auf der ganzen Welt berufen sich eigentlich alle Systeme darauf, demokratisch zu sein.“ Aber: „Sie berufen sich nicht unbedingt darauf, rechtsstaatlich zu sein. Es berufen sich jedenfalls nicht alle darauf, liberal zu sein.“ Die eigentliche Frage, argumentiert Möllers, sei daher nicht: Wie ist das Verhältnis der AfD zur Demokratie? Sondern er plädiert für Fragen wie: Wie ist das Verhältnis der AfD zum Rechtsstaat, zur liberalen Demokratie, zu Grundrechten? Denn: „Ich denke schon, dass die Idee der AfD – wie problematisch man sie auch immer finden kann – ideengeschichtlich in so einen bestimmten autoritären Demokratismus führt.“ Heißt konkret: „Es geht dann sehr stark darum, Mehrheitsherrschaft zum zentralen Element zu machen.“ Zum Beispiel bei der AfD-Forderung, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. „Und es geht darum, dass das Subjekt dieser Herrschaft – also das Volk – eigentlich eine kompakte Einheit sein muss, die weniger als Pluralität verstanden wird.“ Über das Dilemma von Parteiverboten in einer Demokratie – und welche Alternativen es zu einem AfD-Verbot geben könnte, spricht Christoph Möllers in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Empfehlung von Christoph Möllers Christoph Möllers empfiehlt den Essay „Freedom of the Park“ von George Orwell. „Das ist eine sehr gute Analyse der Tatsache, dass Freiheit sich nicht in der Formalstruktur erschöpft, sondern irgendwie eine allgemeine Stimmung braucht.“ Und: „ Die ist gar nicht so einfach hervorzubringen und zu bewahren.“
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Dec 1, 2023 • 1h 48min

„Akzeptanz ist Stärke“ – Raúl Krauthausen über Leben mit Behinderung

Erinnern Sie sich an den Lebensmitteleinkauf oder Ihre alltägliche Pendelfahrt in die Arbeit: Laut Statistik müsste ungefähr jeder zehnte Mensch, der Ihnen da begegnet, ein Mensch mit Behinderung gewesen sein. Zumindest gelten circa 7,8 Millionen Menschen in Deutschland als schwer behindert. Trotzdem sind alltägliche Begegnungen selten. Woran liegt diese Unsichtbarkeit? Darüber spricht der Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er ist studierter Kommunikationswirt und Design-Thinker. Krauthausen arbeitet als Inklusions-Aktivist unter anderem für den Verein „Sozialhelden“, den er 2004 selbst gegründet hat. Er erfand die Wheelmap, eine Karte für rollstuhlgerechte Orte und erwirkte eine Verfassungsklage gegen die Triage-Regelung. In Blogartikeln, Fernsehbeiträgen, Büchern und eigenen Podcasts klärt er über Behinderung auf. Für seine Verdienste um die sozialen Belange von behinderten und sozial benachteiligten Menschen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Sein Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ landete 2023 in der Spiegel-Bestsellerliste. „Behinderungen sind Tatsachenbeschreibungen, keine Beleidigungen“ Im Umgang mit ihm, stellt Raùl Krauthausen oftmals eine Unsicherheit fest: „Das sind oft die Leute, die am wenigsten Berührungspunkte mit Behinderung haben. Die benutzen dann Euphemismen wie: Handicap, anders-begabt, herausgefordert. Und das offenbart eigentlich viel mehr, dass sie keine Ahnung von der Materie haben, weil die Behindertenbewegungen sich eigentlich schon seit Jahren darauf geeinigt hat, dass es Menschen mit Behinderung oder behinderter Mensch heißt.“ Woher diese Unsicherheit kommt: „Wenn wir fragen: Warum haben die Menschen so eine Angst vor dem Wort behindert? Dann argumentieren sie oft damit, dass das auf dem Schulhof als Schimpfwort gebraucht wird.“ Aber Krauthausen sagt: „Es sind ja Tatsachenbeschreibung, sie sollten nicht als Beleidigung missbraucht werden.“ Wie er mit seiner Behinderung umgeht? „Die einzige Option, die ich habe, ist: akzeptieren. Und diese Akzeptanz ist eine Stärke. Ich gehe mit Würde aus dem Haus. Und mache mir nicht so die Sorgen, was die Anderen über mich denken könnten – natürlich auch Tagesform abhängig.“ Aber „diese Akzeptanz ist eine Reise gewesen, die erst mit Ende 20 eingesetzt hat und wahrscheinlich auch nie abgeschlossen sein wird. Ich würde auch heute noch sagen: Ich bin mit meiner Behinderung im Reinen. Aber trotzdem, es ist eine Reise.“ **„Kleinere Klassen und mehr Pädagogen“ ** Aber wie lässt sich Inklusion in unserer Gesellschaft vorantreiben? Für Krauthausen ist dabei gutgemeint nicht gleichbedeutend mit gutgemacht: „Wenn eine Veranstaltung „Mittendrin-Festival“ heißt, dann – sage ich – ist das wie Eulen nach Athen tragen. Dann kommen nämlich nur die Leute, die sowieso schon offen sind für das Thema.“ Krauthausen schlägt ein Gedankenexperiment vor: „Mal angenommen, ich bin ein Nazi und ich möchte nicht, dass behinderte Menschen „mittendrin“ sind. Dann gehe ich auch nicht auf eine Veranstaltung, die „Mittendrin“ heißt. Und das heißt: Wir laden gar nicht die Menschen ein, die vielleicht Ängste, Sorgen oder Unsicherheiten haben – es muss ja nicht immer gleich Hass sein. Und dann? Dann kommen die nicht.“ Und besagte Unsicherheiten können nicht abgebaut werden. Ein Ort, wo laut Krauthausen Inklusion wirklich gelebt werden könnte: die Schule. Aber wenn er das fordert, „dann wird mir quasi abgesprochen zu sehen, dass Bildung in Deutschland grundsätzlich ein Problem ist. Nur: Dafür können behinderte Kinder nichts.“ Und die Lösung der gängigen Einwände sei recht simpel: „Wir können 90 Prozent der Probleme mit kleinen Klassen und mehr Pädagogen lösen.“ Ein Weg, der eigentlich vor allem nicht-behinderten Kindern helfen würde, schließlich seien die in der Mehrheit, argumentiert Krauthausen. „Und die würden auf Vielfalt treffen, die sie von Kindesbeinen auf lernen.“ Warum er die Behindertenwerkstätten und so manche Aufklärungskampagne für falsch hält, erklärt Krauthausen genauso wie die langsame Gewöhnung an sein Spiegelbild. Empfehlungen von Raúl Krauthausen Raúl Krauthausen empfiehlt die Netflix-Serie: „All the Light We Cannot See“. Er sagt: „Da spielt eine blinde Frau die Hauptrolle. Und die Schauspielerin ist wirklich blind. Und man sieht, wie viel authentischer diese Darstellung ist, als wenn du ein nicht-behinderten Menschen diese Rolle gespielt hätte.“ Und Krauthausen empfiehlt auch die Kinderserie: „Raising Dion“.Krauthausen sagt: „Sie handelt von einem schwarzen Jungen, der bei seiner alleinerziehenden Mutter wohnt. Und er entdeckt, dass er Superkräfte hat.“ Und eine Szene hat ihn besonders beeindruckt: „Er hat eine Klassenkameradin, die Glasknochen hat. Das heißt: Die Schauspielerin hat auch Glasknochen. Und in einer Folge – und das habe ich so noch nie im Fernsehen gesehen - benutzt er seine Superkräfte, um das Mädchen mit Glasknochen schweben zu lassen. Und sie ist dann stinksauer, will sofort wieder in ihren Rollstuhl. Und Dion versteht das nicht, weil er denkt, er helfe ihr. Dann geht er nach Hause und fragt seine Mutter: Warum ist sie sauer auf mich? Und dann hat sie gesagt: „Weil du nicht gefragt hast.“ Und das ist so eine einfache Antwort und das erklärt es Kindern einfach, dass es manchmal wirklich diese einfachen, grundlegenden Dinge sind.“
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Nov 17, 2023 • 1h 42min

„Care-Arbeit wurde entpolitisiert“ – Teresa Bücker über Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft

Deutschland durchlebt viele Krisen. Eine davon greift sehr in das alltägliche Leben ein, ohne alltäglich die Schlagzeilen zu dominieren: die Care-Krise. In der Sorgearbeit – Pflege, Kinderbetreuung – fehlen Fachkräfte, weshalb sehr viel Care-Arbeit im privaten Haushalt und nicht in öffentlichen Einrichtungen verrichtet wird. Mehrheitlich von Frauen, die dafür ihre eigene berufliche Laufbahn mindestens temporär unterbrechen. Wie kann eine Gesellschaft damit umgehen? Darüber diskutiert Teresa Bücker in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Teresa Bücker, geboren 1984, ist eine der wichtigsten feministischen Stimmen in Deutschland. Zwischen 2010 und 2014 beriet sie die SPD als Digitalstrategin – erst den Parteivorstand, dann die Bundestagsfraktion. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins Edition F. 2017 wurde sie als „Journalistin des Jahres“ in der Kategorie „Entrepreneur“, 2019 in der Kategorie „Kultur“ ausgezeichnet. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen, . Ihr Buch „Alle_Zeit“ ist mit dem NDR Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet. Darin entwirft Bücker eine Zeitkultur in unserer Gesellschaft, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen könnte. „Care-Arbeit wird immer noch sehr stark ins Private verschoben“ Sie sei in den 80er- und 90er-Jahren großgeworden, als ihr vermittelt wurde: „Ihr könnt alles werden, was ihr wollt“, erinnert sich Teresa Bücker im Gespräch mit Carolin Emcke. Aber: „Wenn ich mich in meinem privaten Umfeld umgeschaut habe – in Westdeutschland, in einem konservativen Umfeld – dann gab es so gut wie keine Frauen, die eigenständig berufstätig waren. Keine, die so etwas wie eine Karriere hatten, sondern es waren überwiegend Hausfrauen, gegebenenfalls Teilzeitbeschäftigte nach einer längeren Familienphase.“ Prägend sei aber „eine sehr starke geschlechtliche Arbeitsteilung“ gewesen. Sie habe als Kind und Jugendliche auch kein feministisches Wissen vermittelt bekommen, sagt Bücker. „Ich bin deswegen erst spät zu feministischen Perspektiven und Autorinnen gekommen und musste mir das alles alleine erarbeiten – auch in Abgrenzung zu dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin.“ Inzwischen ist Bücker selbst ein solches Vorbild geworden. Vor allem weil sie mit einem feministischen Blick auf die Politik und die Gesellschaft schaut und auf Probleme aufmerksam macht. Zum Beispiel in der Sorgearbeit: „Im Bereich Care-Aufgaben muss man als allererstes feststellen, dass dieser Bereich entpolitisiert wurde.“ Die Folge: „Es wird immer noch sehr stark ins Private verschoben.“ Denn „bei Care-Aufgaben ist ja der Knackpunkt, dass sie gemacht werden müssen. Die können nicht verschoben werden.“ „Eigentlich werden wir an dieser Stelle für dumm verkauft und belogen“ Der Bereich erfahre aber nicht die politische Anerkennung, um ihn gerecht neu zu ordnen. Ein Beispiel: „Es ist so, dass bei den Kindern unter drei Jahren nur knapp über 30 Prozent überhaupt in Kindergärten und Kitas betreut werden. Das heißt, dass über 60 Prozent der Kleinkinder familiär betreut werden“, sagt Bücker. „Und wir haben jetzt schon einen Kita-Platz-Mangel von etwa 400 000 Plätzen, der aber abgeleitet aus dem jetzigen Bedarf von Familien ist.“ Anders ausgedrückt: Der aktuelle Mangel berücksichtigt jene 60 Prozent familiär betreute Kinder noch nicht mal. Den politischen Umgang mit der Care-Krise, die sich von Kita-Plätzen bis hin zur Sicherung der Rentensysteme durch alle Abschnitte des Lebens ziehe, bewertet Bücker so: „Man könnte es als magisches Denken beschreiben. Weil das, was politisch skizziert wird, in der gesellschaftlichen Realität nicht machbar sein wird.“ Einerseits sollte wegen des Fachkräftemangels möglichst jede erwerbsfähige Person in Deutschland arbeiten, aber: „Wir haben weder die Kita-Plätze noch die Plätze in Pflegeheimen, die überhaupt die Erhöhung der Erwerbstätigkeit ermöglichen würden.“ Ihr Fazit: „Also eigentlich werden wir an dieser Stelle für dumm verkauft und belogen.“ Welche Wege gibt es aus der Care-Krise? Und warum ist eine feministische Politik sehr zentral, um das Vertrauen in die Demokratie zu stärken? Darüber spricht Teresa Bücker in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Empfehlung von Teresa Bücker Teresa Bücker empfiehlt: „Weißen Feminismus canceln – Warum unser Feminismus feministischer werden muss“, erschienen im S. Fischer Verlag. Das Buch greife Themen auf, „die im deutschen feministischen Diskurs kontrovers sind.“ Gehe dorthin, „wo der dominante feministische Diskurs in Deutschland Leerstellen hat, beispielsweise bei der Sexarbeit, bei trans Rechten, beim Asylrecht.“ Das Buch stelle die Frage: „Wie kann man Feminismus inklusiver gestalten?“ Laut Teresa Bücker: „Ein hervorragendes Buch.“ Redaktion, Moderation: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche Produktion: Imanuel Pedersen
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Nov 3, 2023 • 1h 31min

„Liberalismus ist Lebensgefühl“ – Gerhart Baum über die FDP

Das Gespräch fand am 25. Oktober statt. Spätere Entwicklungen im Nahostkrieg konnten demnach nicht mehr diskutiert werden. Die Klimakrise, die Corona-Krise, die Demokratie-Krise – eigentlich könnten es gerade geschäftige Zeiten für Politikerinnen und Politiker sein, denen es an Freiheits- und Bürgerrechten liegt. Trotzdem ist eine solche Stimme im deutschen Diskurs nur sehr leise vernehmbar. Hört man dann doch mal eine nachdenkliche, liberale Stimme, gehört sie nicht selten einem Mann: Gerhart Baum, FDP-Politiker und ehemaliger Bundesinnenminister im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er ist in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke zu Gast. Gerhart Baum, 1932 in Dresden geboren, studierte Rechtswissenschaften in Köln. Ein Jahr nach dem Abitur trat er 1954 der FDP bei. Er nahm seitdem mehrere Funktionen innerhalb der Partei ein, unter anderem war er Bundesvorsitzender der Jungdemokraten sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP. Von 1972 bis 1994 saß er im Bundestag, von 1978 bis 1982 war er in der sozialliberalen Koalition des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt Bundesinnenminister. Von 1992 an war er für die UNO tätig, zuerst als Chef der deutschen Delegation in der UNO-Menschenrechtskommission in Genf und später als UN-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte im Sudan. Baum war zudem an mehreren Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt, unter anderem an der Klage, die 2004 dazu führte, dass der „Große Lauschangriff“ als verfassungswidrig eingestuft wurde. „Es gibt Leute, die meinen Frieden allein reicht. Das ist ein großer Fehler.“ Er habe zwar Hemmungen, Superlative zu gebrauchen, sagt Gerhart Baum im Gespräch mit Carolin Emcke, aber – mit Blick nach Israel und in die Ukraine – kommt er zu dem Schluss: „Es ist etwas in Gang gekommen, was ich in dieser bedrückenden Realität in meinem ganzen Leben nicht wahrgenommen habe.“ Sowohl in der globalen Ordnung, als auch in der politischen Landschaft in Deutschland. Für die einigermaßen friedliche Welt in den vergangenen Jahrzehnten sieht Baum eine große Gefahr: „Putin mit China zusammen strebt ja nicht nur die Vernichtung der Ukraine an, sondern er will eine neue Weltordnung, eine antiamerikanische, antiwestliche Weltordnung.“ Eine „Weltordnung, die nach den Prinzipien der autoritären Strukturen verfasst ist. Und das ist die Generalherausforderung.“ Zur derzeitigen Lage der FDP sagt Baum: „Ich vermisse seit langem bei der FDP eine Perspektive in dieser Zeit, die alles in Veränderung bringt. Eine Perspektive für den Liberalismus. Was ist denn heute Liberalismus? Das ist nicht nur die Bewahrung der Schuldenbremse, sondern das ist ein Lebensgefühl.“ Das sei ein Freiheitsgefühl. Aber die FDP biete jenen liberal-gesinnten Menschen derzeit keine politische Heimat. Baum empfiehlt seiner FDP, aber auch allen anderen demokratischen Parteien in Deutschland, vor allem: „Eines ist wichtiger denn je: die Wahrheit.“ Außerdem sprechen Carolin Emcke und Gerhart Baum darüber, wie ihn seine Mutter mit russischen Wurzeln geprägt hat. Und: Was er sich von der Klimabewegung heute wünscht. Empfehlung Gerhart Baum Gerhart Baum empfiehlt „Im Namen der Deutschen“ von Norbert Frei, erschienen bei C. H. Beck. Der Historiker Frei beschreibt darin, wie die deutschen Staatsoberhäupter im Nachkriegsdeutschland mit den NS-Verbrechen umgegangen sind. Das berühre die „Wurzeln unserer Gesellschaft, wie diese Repräsentanten des Staates“ mit der deutschen – gerade zu Beginn ja auch mit ihrer persönlichen -Geschichte im Namen der Bundesrepublik umgegangen sind. „Da findet man zum Beispiel etwas, was ich überhaupt nicht kannte: Dass der Heuss (Theodor Heuss, erster Bundespräsident der Bundesrepublik, Anm.) 1952 in Bergen-Belsen war. Und da sagt er ganz spontan: „Wir haben von den Dingen gewusst.“ Aber dennoch war das Wort von der kollektiven Verantwortung nicht durchsetzbar“, sagt Baum. Er erinnere sich an die damalige Diskussion. „Man sprach dann von Kollektivscham.“ Podcast: Carolin Emcke Redaktion: Johannes Korsche Produktion: Imanuel Pedersen _Klicken Sie hier, wenn Sie sich für ein Digitalabo der SZ interessieren, um alle Texte der Zeitung zu lesen. Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER._
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Oct 20, 2023 • 1h 52min

„Opfer brauchen Soldarität“ – Christina Clemm bei Carolin Emcke über Gewalt gegen Frauen

Das Lagebild zur häuslichen Gewalt des Bundeskriminalamts zeigt in den vergangenen Jahren einen traurigen Trend: Seit 2018 ist die Anzahl von Gewalttaten innerhalb der Familie und Partnerschaften deutlich angestiegen, um 13 Prozent auf mehr als 240 000 Fälle. „Weit überwiegend sind es weibliche Personen, die durch ihre (Ex-)Partner Opfer Häuslicher Gewalt werden“, heißt es im Lagebild. Laut Familienministerium wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner. Wie kann eine Gesellschaft mit so viel Gewalt und Hass umgehen? Darum geht es in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Christina Clemm, geboren 1967, ist Rechtsanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin. Seit fast dreißig Jahren vertritt sie Opfer geschlechtsspezifischer und rassistisch motivierter Gewalt. Clemm gehörte zur Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts. Als Sachverständige war sie bereits mehrfach in öffentlichen Anhörungen im Bundestag geladen, zum Beispiel 2021 zum Antrag „Femizide in Deutschland untersuchen, benennen und verhindern“. In diesem September erschien ihr neues Buch Gegen Frauenhass. Clemms Beruf? „Durchaus gefährlich“ Über die Auswirkungen ihrer Arbeit im Alltag sagt Clemm: „Die gefährlichsten Menschen in meinem Leben sind vor allem diese Ehemänner und Partner, die nicht mehr an ihre Ex-Partnerin herankommen.“ Denn sie selbst sei trotzdem erreichbar: „Ich bin öffentlich, man muss sich einen Termin bei mir geben lassen können. Deswegen ist das durchaus gefährlich.“ Zudem mache es natürlich etwas mit der Psyche, wenn man sich täglich mit Gewaltdelikten beschäftige: „Es macht was mit uns, Obduktionsberichte zu lesen. Es macht was mit uns, diese schrecklichen Fotos anzusehen.“ In den Gesprächen mit Opfern häuslicher Gewalt hat Clemm immer wieder festgestellt, dass sie vor allem eines brauchen: „Sie brauchen Solidarität. Sie brauchen ein Umfeld, das Ihnen glaubt.“ Das sei auch wichtig, weil „wenn wir von Personen sprechen, die jahrelang Misshandlungen durch ihren Partner erlebt haben, dann sind das häufig Menschen, deren Selbstbewusstsein quasi systematisch zerstört worden ist.“ Gewalt breche aus einer „emotionalen Gewohnheit“ heraus Interessant sei dabei, wie die Gesellschaft mit dem weit verbreiteten Problem der Gewalt gegen Frauen umgehe. Zum Beispiel bei der Erziehung von Mädchen: „Wir bekommen beigebracht, dass wir uns schützen sollen vor dieser Gewalt, dass wir irgendwie selber schuld sind, wenn wir uns in Gefahr begeben haben, dass wir uns eben auf eine bestimmte Art und Weise im öffentlichen Raum zu bewegen haben, dass wir Vorkehrungen treffen müssen“, sagt Clemm. Es sei dabei ein Missverständnis, wenn man denkt, dass diese Gewalt aus einem emotionalen Impuls des Hasses heraus komme. Sie breche vielmehr aus einer „emotionalen Gewohnheit“ aus. Deshalb habe sie auch überlegt, ob ihr Buch wirklich Gegen Frauenhass heißen solle, oder „ob es nicht eher Patriarchaler Hass heißen sollte oder Männlicher Hass.“ Clemm betont in dieser Folge auch, dass es eine Verbindung zwischen Frauenhass und rechtsextremen Terror: „Es gab nur wenige Stimmen, die thematisiert haben, dass bei dieses ganzen entsetzlichen rechtsextremen Attentate der letzten Jahre und Jahrzehnte, dass in diesen Pamphleten der Täter – oder eben dann auch in den Taten – ein unglaublicher Frauenhass eine wichtige Rolle spielt.“ Frauenhass sei „identitätsstiftend für rechtsextreme Bewegungen“, sagt Clemm. Das Gefährliche dabei: „Das setzt sich fort in die Mitte der Gesellschaft.“ Und letztlich diene der Antifeminismus als Kitt, auf den sich breite Teile der Gesellschaft einigen könnten. Was würde Christina Clemm gerne ändern, in der Ermittlungsarbeit bei der Polizei, in den Strukturen unserer Gesellschaft? Und: Wie geht Clemm mit Drohungen gegen sich selbst um? Empfehlung von Christina Clemm Christina Clemm empfiehlt das Theaterstück Prima Facie von Suzie Miller, in der Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin. Das Stück „ist sehr nah an meinem Beruf. Da geht es um eine sehr erfolgreiche Strafverteidigern, die im ersten Teil des Stückes beschreibt, wie sie es schafft, jeden Zeugin und Zeugen auseinanderzunehmen.“ Bis sich für sie die Perspektive ändert: „Irgendwann wird sie selbst vergewaltigt und kommt dann in die andere Rolle.“ An dem Stück werde manchmal kritisiert, dass es etwas mit dem erhobenen Zeigefinder daherkommen. „Aber ich bin ja durchaus für den moralischen Zeigefinger zu haben.“ _Klicken Sie hier, wenn Sie sich für ein Digitalabo der SZ interessieren, um alle Texte der Zeitung zu lesen. Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER._
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Oct 6, 2023 • 1h 21min

„Kollektive Verletzung“ – Thomas Krüger bei Carolin Emcke über die Nachwendejahre in Ostdeutschland

Die AfD befindet sich seit einigen Monaten im vielzitierten Umfrage-Hoch. Politiker wie Hubert Aiwanger (Freie Wähler) fallen in Wahlkampfreden mit rechtspopulistischen Sprüchen auf, wollen sich „die Demokratie zurückholen“ – und erleben ebenfalls hohe Zustimmungswerte in Umfragen. Es scheint, als wäre da etwas ins Rutschen geraten in Deutschland. Hat die politische Bildung in Deutschland versagt? Und ist die deutsche Demokratie robust genug? Darum geht es in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Zu Gast ist diesmal: Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Krüger, geboren 1959 in Buttstädt (Thüringen), war 1989 eines der Gründungsmitglieder der SPD in der DDR. 1990 bis 1991 war er Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters in Ost-Berlin und Stadtrat für Inneres. Anschließen war er bis 1994 Senator für Jugend und Familie in Berlin. Für die SPD saß Krüger 1994 bis 1998 im Deutschen Bundestag. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Aufgabe der Bundeszentrale für politische Bildung ist es, Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken. Zur Transparenz: Carolin Emcke kuratiert und moderiert die Diskussionsreihe „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin, die finanziell unterstützt wird von der Bundeszentrale für politische Bildung. „Die Institutionen der Demokratie verlieren ihre Bindungskräfte“ Zwar sei das Erstarken des Rechtspopulismus kein rein ostdeutsches Phänomen, sagt Krüger, aber: „Ich glaube, dass die spezifische Situation in den ostdeutschen Bundesländern sehr stark damit zu tun hat, dass man in den frühen Neunzigerjahren die Demokratie nicht immer als einen positiven Erfahrungsraum rezipiert hat“, sagt Krüger. Dreiviertel aller ostdeutschen Menschen hätten in diesen Jahren ihren Job verloren. 80 Prozent hätten ihren Bildungsabschluss, den sie in der DDR bereits erworben hatten, nochmal nachholen müssen. „Das hat viele Leute zutiefst verletzt, und das ist keine nur individuelle Verletzung. Sondern das ist eine Art kollektive Verletzung, die da entstanden ist.“ Hinzu komme eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung: „Die sogenannte Mitte-Studie zeigt das seit langer Zeit: Die Institutionen der Demokratie, die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen verlieren ihre Bindungskräfte.“ Das führe dazu, dass sich Parteien an den politischen Rändern etablieren können, indem sie Wähler mobilisieren, die früher eine Volkspartei gewählt hätten. „Das führt dazu, dass sich antisemitische, extremistische, rassistische Einstellungen in einer neuen Partei organisieren, die keinen Bogen mehr drumrum macht, sondern die das meint, was sie sagt. Und die Wählerinnen und Wähler tun das auch“, sagt Krüger. „Streit als konstitutives Merkmal von Demokratie“ Zur AfD sagt Krüger: „Es ist nicht eine einzelne Position, sondern es ist ein kultureller Habitus, der sich dort organisiert und der sich vielleicht am besten durch die Distanz gegenüber den herkömmlichen Verfahren der Demokratie, den Parteien, den Parlamenten kennzeichnen lässt.“ Und das sei nicht nur abhängig von ökonomischen Faktoren oder vom Bildungsstand: „Die AfD-Wählerschaft muss als eine plurale, vielfältige begriffen werden, die in allen sozialen Milieus Verankerung findet.“ Was diese Menschen laut Krüger eint: „Viele der Anhänger der AfD finden sich bei den Angeboten, die die Demokratie unterbreitet, nicht wieder und haben ein großes Zugehörigkeitsbedürfnis, ein Anerkennungsbedürfnis, ein Wertschätzungsbedürfnis. Und das bekommen sie nicht mehr in der Gesellschaft.“ Thomas Krüger spricht sich außerdem für mehr Streit aus: „Ich bin der Überzeugung, dass wir in einer Demokratie mit pluralen Lebensentwürfen gerade die plurale Interpretation von den Grundrechten benötigen und damit Streit als konstitutives Merkmal von Demokratie positiv besetzt werden muss.“ Allerdings gebe es da ein Problem: „Streit ist etwas, das die Menschen verabscheuen und das sie nicht akzeptieren. Da bedarf es der Reflexion, wie konstitutiv eigentlich Streit ist, um die verschiedenen Lebensentwürfe überhaupt verhandelbar, sagbar, akzeptabel in der Gesellschaft zu organisieren.“ Dem gegenüber stehe aber leider eine zu große Sympathie für den Konsens in unserer Gesellschaft, so Krüger. „Der Konsens aber macht gerade die unterschiedlichen und strittigen Punkte unsichtbar.“ Wie blickt Thomas Krüger auf die Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger? Was kann die politische Bildung in Deutschland leisten, um die Demokratie zu stärken? Und welche Formate erreichen junge Menschen? Darüber diskutiert er mit Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Empfehlung von Thomas Krüger Thomas Krüger empfiehlt: Die „Ursonate“ von Kurt Schwitters, „ein für meine Begriffe großes Werk des 20. Jahrhunderts“, sagt Krüger. Schwitters komponierte in dem dadaistischem Werk mit Silben als wären sie Töne. „Das hört sich urkomisch an. Und es gehört zu meinen größten Passionen, mit Freunden und Musikerinnen die Sonate vorzutragen.“
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Sep 22, 2023 • 1h 37min

„Will ich segnen“ – Erzbischof Heiner Koch bei Carolin Emcke über homosexuelle Paare

In Deutschland sinken die Mitgliedszahlen der Kirchen seit Jahren. Nach vielen öffentlich gewordenen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hat auch der Ruf der Kirche gelitten. Für manche hat sich die Institution auch von der Lebensrealität der Menschen entfernt, zum Beispiel beim Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Wie kann die Weltkirche die Balance finden zwischen den Anforderungen einer westlichen Gesellschaft, die sich eine Modernisierung wünschen, und anderen Glaubensströmungen? Zu Gast ist der Berliner Erzbischof Heiner Koch. Koch, 1954 geboren in Düsseldorf, studierte Theologie und promovierte über ein religionspädagogisches Thema, Titel: „Befreiung zum Sein als Grundperspektive christlicher Religionspädagogik“. Nach seiner Priesterweihe an seinem 26. Geburtstag arbeitete er zunächst in der Seelsorge als Kaplan und Studierenden-Seelsorger, bevor er in die Verwaltung und Leitung des Erzbistums Köln wechselte. 2006 wurde Koch zum Bischof geweiht. Papst Benedikt XVI. übertrug ihm 2013 die Leitung des Bistums Dresden-Meißen. Seit 2015 ist Heiner Koch Erzbischof von Berlin. „Anstrengend ist es auch“ Schon in seiner Kindheit spielte die katholische Kirche eine große Rolle für Koch: „Ich bin auch in der Kirche groß geworden. Ganz selbstverständlich.“ Er habe dort unter anderem Jugendarbeit mitgestaltet, Fahrten mitgemacht: „Dort habe ich Verantwortung übernommen.“ Eine Zeit, die ihn geprägt habe. Auch in seinen Ansichten, zum Beispiel durch das Sternsingen: „Das hat mich ein König sein lassen“, erinnert er sich. „Ich war damals stolz, ein König zu sein. Das habe ich nachher reflektiert und: die Würde eines Menschen ist die königliche Würde eines jeden Menschen. Das ist für mich verbunden mit den drei Königen.“ Für Erzbischof Koch ist der Kern des christlichen Glaubens nicht eine Lehre oder Dogmen: „Das Kernstück ist die Beziehung zu Jesus Christus.“ Das mache es allerdings manchmal schwierig, weil Jesus als Person nicht fassbar sei. „So wie Gott nicht greifbar ist. Es ist ein Geheimnis ist und bleibt ein Geheimnis.“ Über das Erzbistum Berlin sagt er: „28 Prozent der Katholiken des Erzbistums Berlin sind nicht deutsch. Das ist eine ganz bunte Gruppe.“ Das sei bereichernd: „Es kommen unterschiedliche Kirchen, Bilder, Gottesbilder, Glaubenserfahrungen zusammen.“ Aber: „Man versteht sich oftmals nicht. Das gleiche Wort wird anders verstanden. Das sind permanente Lernprozesse. Also: Anstrengend ist es auch.“ „Entweder lernt die Kirche oder sie gibt sich selbst auf“ Für die Zukunft der katholischen Kirche wünscht sich Koch „lernende Treue“. Eine Balance zwischen Zusammenhalt und Dazulernen. Einerseits gelte für ihn: „Ich kann nicht dauernd die Treue zum Heiligen Vater fordern. Und wenn es dann auf den Punkt kommt, distanziert man sich von ihm.“ Andererseits sagt Koch: „Entweder lernt die Kirche – dann wird sie immer Kirche sein – oder sie gibt sich selbst auf.“ So spricht sich Koch dafür aus, auch die Liebe von gleichgeschlechtlichen Paare zu segnen: „Es geht hier um die Menschenwürde.“ Er kenne gleichgeschlechtliche Paare in Berlin, „da ist eine wirklich tiefe Lebenstreue – auch in schmerzhaften Situationen. Und diese Hochachtung, die möchte ich segnen.“ Was Erzbischof Heiner Koch zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche sagt – und was er aus den Gesprächen mit Betroffenen gelernt hat. Das Hören Sie in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Empfehlung von Heiner Koch Heiner Koch empfiehlt: Verdis „Messa da Requiem“, in der Inszenierung des Staatsballetts Berlin an der Deutschen Oper Berlin. „Das war Leben und Leiden. Gesellschaftlich, persönlich und christlich – ohne zu vereinnahmen. In einer wunderbaren, kunstvollen Dichte. Von Chor, Dramaturgie, Bühnenbild. Aktualisierung. Text.“ Koch kommt zu dem Schluss: „Ich kann es nur empfehlen.“
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Sep 8, 2023 • 1h 22min

“Würden alle gleich erben, hätten wir kein Problem” – Stefan Gosepath bei Carolin Emcke über ungleiche Lebenschancen

Deutschland ist im weltweiten Vergleich mit anderen Demokratien eines der Länder, in denen Vermögen besonders ungleich verteilt ist. Und das, obwohl wir uns als Gesellschaft eigentlich das Gegenteil vorgenommen haben: Alle Menschen sind gleich und sollen die gleichen Chancen haben, so steht es in unserer Verfassung. Warum das Erben und Vererben trotzdem so geregelt ist, dass es die Chancen für die Menschen in Deutschland immer ungleicher macht, darum geht es in dieser Folge von “In aller Ruhe” mit Carolin Emcke. Zu Gast ist der Philosoph Stefan Gosepath. Er ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin und forscht unter anderem zu Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie.. Er war außerdem Professor an den Unis in Gießen, Bremen und Frankfurt. “Bestimmte Reiche schotten sich ab” Gosepath sagt: Im Prinzip sei unsere Vorstellung ja, dass Menschen einander in Deutschland im öffentlichen Raum begegnen – und es egal ist, wie arm oder reich man ist. Aber das treffe oft gar nicht mehr zu, sagt Gosepath. “Bestimmte Reiche schotten sich einfach durch ihren Lebensstil so ab, dass sie nicht mehr mit Menschen in Kontakt kommen, die weniger Vermögen haben. Die wissen dann nicht mehr, wie die soziale Realität in Wirklichkeit aussieht.” Dieses Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Gruppen gefährde den demokratischen Zusammenhalt. Allerdings, das glaubt auch Gosepath, könne man das Vererben nicht von einen auf den anderen Tag abschaffen. Eltern wollten nun einmal etwas von dem Wohlstand, den sie erarbeitet haben, an ihre Kinder weitergeben. Ein anderes wichtiges Argument, das oft angeführt wird: Unternehmen müssten an die nächste Generation vererbt werden können, damit sie bestehen bleiben und keine Arbeitsplätze verloren gehen. Warum diese Argumentation in Teilen falsch ist – und welche Erbschaftsregelung fairer wäre, darüber spricht Stefan Gosepath mit Carolin Emcke. Empfehlung von Stefan Gosepath Passend zum Thema empfiehlt Stefan Gosepath “Die Buddenbrooks” von Thomas Mann. Darin beschreibt Mann den Niedergang einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie über vier Generationen. Eben weil die Familienmitglieder mit ihrem Erbe nicht richtig umgehen können. Die Buddenbrooks, sagt Gosepath, seien damit ein sehr plastisches Beispiel, warum das Erben auch eine Bürde sein kann, an der Menschen scheitern und darüber sehr unglücklich werden.

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