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In aller Ruhe

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May 31, 2024 • 1h 27min

„Es geht nur europäisch“ – Jean Asselborn bei Carolin Emcke über die Europawahl und die Zukunft der EU

Vom 6. bis zum 9. Juni wird das Europaparlament neu gewählt – zum zehnten Mal. Wie es sich danach genau zusammensetzen wird, ist schwer abzusehen. Es gibt keine Umfragen für die europäische Ebene, weil die EU-Mitgliedsstaaten unterschiedlich wählen. Doch nationale Umfrageergebnisse prognostizieren einen Rechtsruck. Demnach könnten die Grünen und die Liberalen Sitze einbüßen. Die Rechtskonservativen und die Rechtsnationalisten könnten stark dazugewinnen. Was könnte das für die Zukunft der Europäischen Union bedeuten – wenn etwa das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit aus dem Europaparlament heraus angegriffen wird? Und wie sollte sich die EU in der Welt positionieren und ihre eigene Sicherheitsarchitektur aufbauen? Darüber spricht Jean Asselborn in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Jean Asselborn wurde 1949 in Luxemburg geboren. Über viele Jahre engagierte er sich in Gewerkschaften und arbeitete für seine Partei, die luxemburgischen Sozialdemokraten, in der Kommunalpolitik, bevor er ins nationale Parlament gewählt wurde. Ab 2004 war er fast zwanzig Jahre lang Außenminister Luxemburgs. Durch seine klare Sprache und teils humorvollen Auftritte erlangte er dabei auch auf europäischer Ebene Bekanntheit. Gerade zum Ende seiner letzten Amtszeit war er aufgrund seiner Erfahrung ein gefragter Gesprächs- und Verhandlungspartner. „Was wären wir ohne Europa?“ Im Podcast spricht er darüber, wie stark gerade kleine Staaten wie Luxemburg auf die europäische Zusammenarbeit angewiesen sind: „Europa ist unsere Garantie, dass wir als souveränes, freies Land existieren können.“ Historisch habe es allein im 20. Jahrhundert zwei Momente gegeben, an dem es kein souveränes Luxemburg mehr gegeben hätte. „Und heute sitzen wir mit am Tisch, wenn es um die Finanzpolitik in Europa geht. Wir können außenpolitisch mitreden.“ Auch andere Staaten würden so von der EU und ihren Werten profitieren, so Asselborn: „Ich glaube, die Deutschen waren nie so demokratisch wie sie es heute sind. Auch durch Europa.“ Durch den Euro sei Deutschland zudem wirtschaftlich stärker geworden. Generell unterstreicht Asselborn immer wieder die zentrale Bedeutung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit, hebt allerdings auch konkrete Errungenschaften für junge Menschen hervor, die von Erasmus-Studienaufenthalten profitieren oder im Schengenraum mit nur einem Pass reisen können. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung ab 2004 sagt Asselborn: „Die Löhne in diesen Ländern haben sich verdoppelt. 20 Prozent mehr Menschen aus diesen Ländern haben ein Universitätsstudium.“ Die Länder hätten wirtschaftlich und sozialpolitische profitiert. „Das muss man sagen: Das ist ein Erfolg“, so Asselborn. „Der Stimmzettel ist der größte Hebel, den man hat in der Demokratie.“ Die Europawahl am 9. Juni bereitet ihm dennoch große Sorgen. Sie könne entscheidend sein für den Kurs Europas. Entweder blieben Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Respekt vor Minderheiten bestehen – oder es werde ein Zeichen gesetzt, dass die, die Europa eigentlich kaputt schlagen wollen, stärker werden. „Wenn dieses Resultat herauskäme und wenn dann auch noch im November in den USA ein Präsident gewählt wird, der einen sehr negativen Einfluss hätte – mit falschem Patriotismus anstatt Multilateralismus – dann kann es schon gefährlich werden“, sagt Asselborn mit Blick auf die US-Wahl und einen möglichen Sieg von Ex-Präsident Donald Trump. Dieser würde dem russischen Präsidenten Putin wohl große Zugeständnisse machen, mit Blick auf die Krim und den Donbass. Zudem bestehe die Gefahr, dass Trump die Nato zerschlagen könnte. „Dann kommt notgedrungen eine Debatte auf uns zu: Wer schützt uns gegen die nuklearen Angriffe der Russen?“ Wie Asselborn als langjähriger Außenpolitiker die europäische Sicherheitspolitik bewertet, die Debatte um eine eigene europäische Atombombe und wie er den Krieg in Gaza betrachtet, darum geht es im weiteren Gespräch mit Carolin Emcke. Er hofft jedenfalls auf eine hohe Wahlbeteiligung und viel Engagement von jungen Menschen. In Deutschland können etwa erstmals die 16- und 17-Jährigen an die Urne, was Asselborn mit einem Appell verbindet: „Der Stimmzettel ist der größte Hebel, den man in der Demokratie hat, um die Weichen zu stellen.“ Empfehlung von Jean Asselborn Jean Asselborn möchte in seiner Empfehlung Luxemburg mit Deutschland verbinden. Er empfiehlt das Theaterstück: „Stahltier – Ein Exorzismus“, geschrieben vom luxemburgischen Theaterregisseur Frank Hoffmann. Hoffmann leitete von 2004 bis 2018 als Intendant die Ruhrfestspiele in Recklinghausen, ein bedeutendes Theaterfestival. Sein Werk „Stahltier“ wird nun am Renaissance-Theater Berlin aufgeführt. Es handelt von Leni Riefenstahl, die auf den nationalsozialistischen Propagandaminister Goebbels trifft. Es wirft, laut dem Theater, „Fragen auf zur Integrität und Menschlichkeit des Künstlers in Zeiten der Diktatur.“ Moderation: Carolin Emcke Produktion: Jakob Arnu
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May 17, 2024 • 1h 13min

„Verschieben ist verschärfen“ – Hedwig Richter bei Carolin Emcke über die Demokratie in der Klimakrise

Anfang des Jahres war es erstmals so weit: An zwölf aufeinander folgende Monaten war es mehr als 1,5 Grad wärmer als im vorindustriellen Zeitalter. Forscher des „Global Carbon Project“ haben berechnet, wie viel Zeit beim aktuellen Ausstoß von Treibhausgasen noch bliebe, bis das CO₂-Budget für das 1,5-Grad-Ziel restlos aufgebraucht wäre: sieben Jahre. Viel Zeit bleibt laut den Forschern also nicht, um die Gesellschaft klimaneutral umzubauen. Aber: Politische Willensbildung, Wahlen, Gesetzgebungsprozesse – bis aus einer Idee politisches Handeln wird, dauert es lange. Es scheint, es sei ein Widerspruch zwischen Klimaschutz und Demokratie entstanden. Wie ist es möglich, beides zu erhalten: Klima und liberale Demokratie? Darüber spricht Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit der Historikerin und Buchautorin Hedwig Richter. Hedwig Richter, 1973 geboren, ist seit 2019 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Sie hat Geschichte, Germanistik und Philosophie in Heidelberg, an der Queen’s University Belfast und an der Freien Universität Berlin studiert. 2008 hat sie an der Universität zu Köln promoviert, 2016 folgte die Habilitation an der Universität Greifswald. Ihre Dissertationsschrift „Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR“ wurde mit dem Offermann-Hergarten-Preis der Universität zu Köln ausgezeichnet. Richters Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Demokratie- und Diktaturforschung. Gemeinsam mit dem Journalisten Bernd Ulrich hat sie 2024 „Demokratie und Revolution – Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“ publiziert. Demokratie in der Krise? „Das gehört dazu“ In ihrer bisherigen Demokratieforschung habe die Entwarnung immer dazu gehört, sagt Richter. Zum Beispiel beim Thema Polarisierung: „Man muss sich nur daran erinnern, dass es in den 1950er-Jahren fast undenkbar war für ganz viele, dass eine Katholikin einen Protestanten heiratet.“ Viele der Probleme und Krisen, die in einer Demokratie immer wieder neu entdeckt würden, seien vorher auch schon da gewesen. „Ich würde sagen: Demokratien sollen sich immer ein bisschen in der Krise fühlen – das gehört mit dazu.“ Durch die Beschäftigung mit der Klimakrise habe sich ihr Blick auf das Jetzt allerdings verändert: „Wir sind tatsächlich in einer völlig neuen Situation“, sagt Richter. Mit Blick auf die erheblichen Umwälzungen, die die Klimakrise auslösen könnte – Massenmigration, ökologische Kipppunkte, Extremwetter: „Das finde ich verstörend.“ Durch die Beschäftigung mit der Klimakrise habe sich auch in ihrem Alltag viel geändert: „Meine Normalität hat sich in eine andere Normalität gewandelt.“ Denn die Krisen und Ängste der Vergangenheit seien nicht vergleichbar mit der Klimakrise. War im Kalten Krieg ein Tag, an dem nichts passierte, ein guter Tag, sei das jetzt anders: „Jeden Tag, an dem wir nichts machen, wird es schlimmer. Verschieben ist verschärfen.“ Deshalb schmerze die jahrzehntelange Untätigkeit: „Wenn wir in den Neunzigerjahren angefangen hätten, müssten wir heute nicht so viel und so radikal umstellen“, sagt Richter. „Wir brauchen eine neue Radikalität“ Doch diese nun geforderte Radikalität widerspreche dem, „was wir aus dem 20. Jahrhundert gelernt haben.“ Denn gesellschaftlich habe man sich auf ein demokratisches Selbstverständnis verabredet, dass sich so zusammenfassen lässt: „Wir wollen keine Radikalität mehr, wir brauchen Kompromisse.“ Um aber die Klimakrise zu bewältigen, „brauchen wir eine ganz neue Zeitlichkeit, eine völlig neue Radikalität“. Wichtig sei dabei, dass diese Radikalität vor allem von den „oberen Zweidritteln“ der Gesellschaft komme. Das untere Drittel lebe – bezogen auf den CO₂-Ausstoß – ohnehin so, dass es mit dem Pariser Klimaabkommen im Einklang sei. Wie stellt sich Hedwig Richter diese neue Radikalität vor – und was wünscht sie sich von Politik und Bürgern? Was hat die Klimakrise mit Diagnosen amerikanischer Psychotherapeuten zu tun? Das hören Sie in der neuen Folge von „In aller Ruhe“. Hedwig Richter empfiehlt: Hedwig Richter empfiehlt den Film: „Morgen ist auch noch ein Tag“. Der Film begleitet 1946 eine Frau in Rom, die ihre Rolle in ihrer Familie und der Gesellschaft findet und definiert. Für Hedwig Richter ein „unfassbar interessanter“ Film. Die Historikerin beschäftige sich in ihrer Forschung auch mit der Rolle und Bedeutung der „Hausfrau“. Der Film zeige die Ambivalenz „von der Unterdrückung dieser Frauen, von der Machtlosigkeit, aber auch von der Agency, die sie sich zuschreiben.“ Moderation, Redaktion: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche, Léonardo Kahn Produktion: Imanuel Pedersen
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May 3, 2024 • 1h 57min

„Kultur wirkt“ – Carola Lentz bei Carolin Emcke über die Kraft der Goethe-Institute

Das Goethe-Institut ist in fast 100 Ländern das Gesicht Deutschlands, bietet Sprachkurse an, ist Treffpunkt und lädt zu Kulturveranstaltungen ein. Oft prägt es das Deutschland-Bild in den jeweiligen Ländern und ermöglicht durch den Austausch mit den Menschen vor Ort eine Möglichkeit der Selbstreflexion deutscher Politik und Kultur. Doch auch das Goethe-Institut muss sparen, pro Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag. Was würde fehlen, wenn es das Goethe-Institut nicht mehr gäbe? Und wie verengt sich die Debattenkultur, wenn die Freiheit von autokratisch-rechten und identitätspolitisch-linken eingeschränkt wird? Darüber spricht Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke. Carola Lentz, 1954 in Braunschweig geboren, ist seit November 2020 Präsidentin des Goethe-Instituts. Sie studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Germanistik und Pädagogik in Göttingen und Berlin, 1987 promovierte sie an der Universität Hannover und habilitierte sich 1996 an der Freien Universität Berlin zum Thema „Die Konstruktion von Ethnizität. Eine politische Geschichte Nord-West Ghanas 1870–1990“. Anschließend war sie bis 2019 Professorin für Ethnologie, erst an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, dann an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Lentz hat angekündigt, keine Verlängerung ihres Amts beim Goethe-Institut anzustreben, im November dieses Jahres wird sie es dementsprechend ablegen. „Wir sind eben nicht nur bilateral.“ Manchmal spielen die persönliche Sicherheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine entscheidende Rolle wie bei der Schließung der Standorte wie zum Beispiel in Afghanistan und Belarus. Vor allem bei Mitarbeitern ohne deutsche Staatsangehörigkeit sei der Schutz gegenüber geheimdienstlichen Maßnahmen eben manchmal nicht ausreichend gegeben. Es gelte das Prinzip „Safety First“. „Wir können für die Offenheit des Austausches nicht riskieren, dass Leute ins Gefängnis kommen, gefoltert werden.“ Denn in autokratisch regierten Ländern werde selbst der Sprachunterricht zu einer politischen Angelegenheit. Wenn sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Präsenzkursen informell treffen könnten, dann sei das natürlich auch ein Raum für Gespräche über Regierungspolitik und über gesellschaftliche Verhältnisse im eigenen Land und in Deutschland Doch auch wenn das Goethe-Institut keine Dependance mehr in einem Land unterhält, heiße das nicht, dass es gar keine Möglichkeiten mehr für kulturellen Austausch mit dem Land gebe. „Da ist dann wichtig, dass wir ein weltweites Netzwerk sind. Wir sind eben nicht nur bilateral.“ Dann gehe der Blick eben auf andere Standorte in der betreffenden Region. „Wir machen dann eine Ausstellung mit belarussischen Künstlern in Polen.“ Aber grundsätzlich gelte: „Das Goethe-Institut versucht zu bleiben, solange es irgend geht.“ „Wichtig für die politische Mobilisierung gegen die Junta“ Für Carola Lentz steht außer Frage: „Kultur wirkt“. Das lasse sich zwar nur schwer in den Zahlen eines Bundeshaushalts messen, aber die Kraft der Goethe-Institute macht sie an einer Anekdote fest. Bei der 70-Jahrfeier des Goethe-Instituts in Athen habe der Oberbürgermeister von Athen eine Rede gehalten und darüber gesprochen, wie er als Student die Institution wahrgenommen habe. In den Jahren um 1970, als die Junta in Griechenland herrschte. Er habe erzählt, dass er damals das Goethe-Institut als „Ort erlebt hat, wo er sich mit anderen Studenten treffen konnte, wo sie über die Junta gesprochen haben, wo sie sich Kraft geholt haben, wo sie ein Fenster nach Europa hatten. Und er sagt jetzt im Rückblick: Das war ganz wichtig für den Widerstand und für die politische Mobilisierung gegen die Junta.“ Deswegen wünsche Lentz sich für die Zukunft des Goethe-Instituts „mehr Vertrauen seitens der ministerialen Bürokratien, seitens der Politik.“ Auch wenn die Ressourcen aufgrund unterschiedlichster Faktoren knapper sein, dürfe am kulturellen Austausch nicht gespart werden. „Ich wünsche mir einfach das Vertrauen, dass das extrem gut investiertes Geld ist.“ Es sei eine Stelle, „wo wenig Geld sehr, sehr viel bewirken kann.“ Gerade in Krisenzeiten und geostrategischer Polarisierung. Wie blickt Carola Lentz auf die teils aufgeheizten Debatten in Deutschland? Wie darauf, dass Forschende wegen einzelner Äußerungen von Veranstaltungen ausgeladen werden? Auch darüber spricht die Präsidentin des Goethe-Instituts in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Empfehlung von Carola Lentz Carola Lentz empfiehlt den Roman „Dein ist das Reich“ (480 Seiten, Claasen Verlag) von Katharina Döbler. Eine alte Frau erzählt ihrer Enkelin von ihren Reisen, von Soldaten, Zauberern und Dämonen in der Südsee – und die Enkelin begibt sich Jahre später auf die Suche nach den wahren Begebenheiten dieser Geschichten. Die Geschichte führt in das Amerika nach dem Ersten Weltkrieg – und in die Zeit der Missionierung Afrikas. Der Roman verwebe die emotionalen und politischen Verstrickungen von vier jungen Leute zu einem berührenden und erhellenden Familien- und Epochenroman, schreibt der Verlag. Lentz sagt: „Da haben wir einen Roman, der zeigt, wie dieses neokoloniale Denken unter dem Naziregime wiederum in diese Mission hinein gespielt hat.“
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Apr 19, 2024 • 1h 5min

„Eine andere Branche“ – Célia Šašić bei Carolin Emcke über den Unterschied zwischen Frauen- und Männerfußball

Vergangenes Wochenende ist Bayer Leverkusen Deutscher Fußballmeister geworden. Die Bilder von feiernden Fans auf den Straßen der Stadt haben wieder einmal gezeigt, wie emotional der Sport hierzulande verfolgt wird. Und auch: Wie groß und breit die Begeisterung in der Gesellschaft für den Fußball ist. Welche gesellschaftliche Rolle kann der Sport angesichts dessen im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung einnehmen? Und in welchem Bereich sollten Fußballerinnen gleich vergütet werden wie ihre männlichen Kollegen? Darüber – und über die anstehende Europameisterschaft in Deutschland spricht Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Célia Šašić, Ex-Fußballerin und DFB-Vizepräsidentin für Gleichstellung und Diversität. Célia Šašić, geboren 1988, gehört zu den erfolgreichsten Fußballerinnen ihrer Generation. Sie wurde zweimal Europameisterin (2009 und 2013), zweimal zu Deutschlands Fußballerin des Jahres (2011/2012 und 2014/2015) und einmal zu Europas Fußballerin des Jahres (2013/2014) gewählt. Seit März 2022 ist sie im Präsidium des DFB und als Vizepräsidentin zuständig für die Themen Gleichstellung und Diversität. „Der Fußball ist ein Abbild der Gesellschaft“ „Fußball ist in unserer Gesellschaft strukturell so stark verankert“, sagt Šašić. Dadurch könne der Fußball spielerisch in die Themen wie Integration, Chancengleichheit und Teilhabe in die Gesellschaft vermitteln. Trotz der klaren Positionierung des DFB und vieler Fußballvereine gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Sexismus sind diese gesellschaftlichen Probleme aber natürlich nicht vom Spielfeld und Tribünen verbannt: „Der Fußball ist ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Šašić. Am Beispiel des spanischen Ex-Funktionärs Luis Rubiales, der bei der Siegerehrung nach dem WM-Finale 2023 die spanische Spielerin Jennifer Hermoso gegen deren Willen geküsst hatte, und der darauffolgenden Reaktion, spricht Šašić über die gesellschaftliche Kraft von Fußball: „Weil es so viele Menschen schauen, verhandelt man über diese Szene wieder neue Standards“ in der Gesellschaft. Ein Thema, das im Fußball eine große Rolle spielt: Gleichstellung und Equal Pay. Der Unterschied bei den Gehältern zwischen Männern und Frauen sei erheblich: „Das ist eine ganz andere Branche.“ Für Šašić sei das aber nicht das Problem: „Man hat ja per se keinen Anspruch auf einen lukrativen Markt.“ Anders sieht sie das allerdings bei den Prämien des Verbands für Erfolge bei großen Turnieren. „In der Nationalmannschaft, bei der es darum geht, das Land zu repräsentieren, Identifikation zu stiften, am Ende ein Übertrag auf das Gemeinwohl, die Gesellschaft, die Gemeinschaft zu schaffen, muss es absolut egal sein, von wem dieser Impuls ausgeht.“ Zumal es während ihrer aktiven Karriere so war, dass man über die DFB-Prämien „einen Großteil des Verdiensts erhalten hat“. „Die richtige Kraft, die diese EM 2024 hat, ist, dass alle Menschen zusammenkommen“ Mit Blick auf das EM-Turnier der Herren, das in diesem Sommer in Deutschland stattfindet, sagt sie: „Der Titel hat die geringste Bedeutung für den Maßstab, ob es eine gelungene EM war oder nicht.“ Schließlich gehöre es zum sportlichen Wettkampf, dass am Ende nur eine Mannschaft gewinnen könne. Viel wichtiger sei in ihren Augen – auch im Rückblick auf das Sommermärchen und die WM 2006: „Ich habe da so eine Grundstimmung, so ein Grundgefühl in mir, was die Erinnerung an dieses Turnier auslöst. Was es mit uns als deutsche Gesellschaft gemacht hat, was es mit dem Blick der Welt auf uns gemacht hat.“ Für die EM 2024 hofft sie wieder auf einen Sommer, „aus dem man als Gemeinschaft, als Gesellschaft gestärkt hervorgeht.“ Denn: „Die richtige Kraft, die diese EM hat, ist, dass alle Menschen zusammenkommen.“ Wem die Deutsch-Französin Šašić die Daumen drücken wird? „Für mich gibt es kein: Ich muss mich entscheiden, für wen ich bin.“ Noch schöner sei das allerdings für sie und ihre Familie bei einer WM: „Da haben wir am Anfang fünf Eisen im Feuer: Deutschland, Frankreich, Kroatien, Serbien und Kamerun.“ Bei den fünf Ländern sei eigentlich die Chance immer recht hoch, dass einer beim Turnier weit komme. Célia Šašić empfiehlt Die Ex-Fußballerin empfiehlt: „Unter Menschen gehen.“ Nicht nur zum Sport: „Deswegen mag ich Konzerte einfach gerne. Oder Events, bei denen man gemeinsam mit Leuten ist und eine gute Zeit hat.“ Moderation, Redaktion: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche, Léonardo Kahn Produktion: Imanuel Pedersen
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Apr 5, 2024 • 1h 24min

"Definitionen sind Arbeitsinstrumente" – Barbara Stollberg-Rilinger bei Carolin Emcke über Wissenschaftsfreiheit

In aller Ruhe Wie frei ist die Wissenschaft in einer krisengebeutelten, postfaktischen Gegenwart? Mehrere Staaten in den USA haben etwa Forschungsgelder im Bereich Genderstudies gekürzt, wollen aber Kreationismus gleichberechtigt zur Evolutionstheorie lehren. Andere Studierende fordern wiederum, Aristoteles wegen seiner Frauenfeindlichkeit aus dem Lehrplan zu streichen. Angesichts dieser Entwicklungen drängt sich bei Carolin Emcke die Frage auf: Wie steht es um die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland? Darüber spricht sie mit Barbara Stollberg-Rilinger, 69, Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Sie ist Historikerin und hat zwanzig Jahre Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster gelehrt, bevor sie 2018 in Berlin ihre aktuelle Funktion antrat. Das Wissenschaftskolleg ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut, wo bis zu 50 internationale Wissenschaftler forschen, unter ihnen der deutsch-israelische Philosoph Omri Böhm, der den diesjährigen Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Kurzer Transparenzhinweis: Auch Carolin Emcke ist Mitglied der Einrichtung. Sie sitzt ehrenamtlich im Stiftungsrat. Zur Transparenz: Carolin Emcke ist Mitglied des Stiftungsrats des Wissenschaftskollegs. Im Bereich Genderstudies herrscht ein "riesiges Verständnisproblem" Im Wissenschaftskolleg hospitieren auch Forscher aus repressiven Regimen, die von der hiesigen Forschungsfreiheit profitieren. Ein chinesischer Kollege recherchiert etwa zur Erinnerungskultur des Tiananmen Massakers. Jeden Mittag setzen sich alle Stipendiaten zusammen, um ihre Forschungen zu besprechen. Dort tauschen sich auch Wissenschaftler aus befeindeten Länder aus, wie Ukrainer und Russen. Obwohl es da zu Beginn auch Irritationen gab, stellt Stollberg-Rilinger fest: Die Differenzen der Wissenschaftler lassen sich hauptsächlich auf die unterschiedlichen Disziplinen zurückführen, und weniger auf die Herkunft. Im Bereich Genderstudies herrscht etwa ein "riesiges Verständnisproblem" zwischen Natur- und Geisteswissenschaftler. Diese Missverständnisse ließen sich nur durch Austausch überwinden, sagt die Rektorin, indem die Forscher sich an bestimmte Standards des Argumentierens und der Empirie halten. Antisemitismusvorwürfe richten sich "groteskerweise" oft gegen Juden Grundsätzlich sollten Wissenschaftler in der Lage sein, über alles zu sprechen. Trotzdem gibt es eine "Grenze des Sagbaren". Es müssen also auch Verbote gelten, die Hetze gegen bestimmte Menschengruppen sanktionieren. "Es ist eine Gratwanderung", so die Leiterin, denn solche Verbote werden oft politisch missbraucht. "Es besteht immer die Gefahr, dass man immer nur die eigene Wissenschaftsfreiheit verteidigt und nicht die der Gegenposition." Das sei falsch, sagt die Rektorin: "Wenn Wissenschaftsfreiheit, dann auch grundsätzlich!" Besonders stark nehme sie das Problem in der Bekämpfung von Antisemitismus wahr. Der Berliner Senat hat im Januar angekündigt, Kulturförderungen an ein Bekenntnis zur Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA (International Holocaust Rememberance Alliance) zu knüpfen und hatte sogar überlegt, diese Bedingung auch auf die Wissenschaftsbranche auszuweiten. Die IHRA Definition gilt jedoch als umstritten, weil man damit auch Israelkritik als Antisemitismus einstufen kann. "Diese Antisemitismusvorwürfe richten sich groteskerweise fast immer gegen jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstler und Künstler", merkt Barbara Stollberg-Rilinger an. Sie warnt davor, Definitionen als Dogmen zu sehen: "Definitionen sind keine letzten Wahrheiten, sondern Arbeitsinstrumente." Sie müssen anfechtbar und korrigierbar bleiben, denn nur so bleiben sie wissenschaftlich, sagt die Rektorin. Empfehlung von Barbara Stollberg-Rilinger Barbara Stollberg-Rilinger empfiehlt "The Zone of Interest". Der Film über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seine Ehefrau Hedwig, gespielt von Christian Friedel und Sandra Hüller, gewann dieses Jahr den Oscar für den besten internationalen Film und für den besten Sound. Für Stollberg-Rilinger war es der "erschütterndste" Film, den sie seit Langem gesehen hat. Er sei gleichzeitig überwältigend und aufklärerisch, was man selten zusammenfinde. "Der Zuschauer sieht das Konzentrationslager nicht, er hört es nur." Das sei eine eindrucksvolle Vermittlung dessen, was man "Banalität des Bösen" nennt, sagt die Historikerin. Wie die Verdrängungsleistung ins Bild gesetzt wurde, die hier von der Familie Höß inszeniert wird, aber eigentlich vom ganzen deutschen Volk betrieben wurde, fand sie beeindruckend. "Der Film hängt einem lange nach."
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Mar 22, 2024 • 1h 18min

„Kein logistisches Problem, sondern ein politisches“ Parnian Parvanta bei Carolin Emcke über fehlende Hilfsgüter in Gaza

In aller Ruhe Die Katastrophe am Hilfskonvoi ist bisher einer der tragischsten Wendepunkte im Nahostkrieg. Während Palästinenser in Gaza-Stadt am 29. Februar auf Lebensmittel warteten, brach eine Massenpanik aus. Israelische Panzer rollten über die Menschenmasse, Soldaten schossen auf Zivilisten. Sie töteten insgesamt 110 Menschen. Seitdem liefern viele Länder ihre Hilfsgüter über eine Luftbrücke, auch Deutschland will damit Ende März beginnen. Doch Parnian Parvanta, Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, sieht diese Lieferungen skeptisch. Die Flugzeuge können die Güter nicht gezielt abwerfen, sodass es fast unmöglich sei, Krankenhäuser über diesem Weg mit Arzneimitteln zu versorgen. "Für uns sieht es sehr danach aus, als würde man versuchen, vom eigentlichen Problem abzulenken", sagt die Ärztin. "Es ist kein logistisches Problem, sondern ein politisches." Parnian Parvanta, 42, ist seit vergangenen Juni die Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Die Mainzer Gynäkologin war für die Hilfsorganisation in vielen Krisenregionen tätig. Ihren ersten Einsatz hatte sie 2011 als Ärztin in der Zentralafrikanischen Republik, zwei Jahre später flog sie nach Indien. Als Gynäkologin hatte sie 2017 ihren ersten Einsatz in Nigeria, später behandelte sie auch Frauen in der Elfenbeinküste und trainierte Ärzte und Pfleger in Irak. Als Vorsitzende koordiniert sie nun auch das Team im Gazastreifen, wo sich die humanitäre Lage seit Beginn der israelischen Militäroffensive drastisch verschlimmert hat. Dabei waren die Palästinenser schon vor dem 7. Oktober auf humanitäre Hilfe angewiesen, sagt Parvanta. Ärzte ohne Grenzen sind seit 1989 im Gazastreifen und im Westjordanland tätig. Nach Gaza waren täglich etwa 500 Lastwagen mit Hilfsgütern gefahren, seit Kriegsbeginn schaffen es "an guten Tagen" nur 100 Lkw über die Grenze. Angesichts des enormen Bedarfs an Lebensmitteln und Medikamenten seien die aktuellen Hilfslieferungen "nicht mal der Tropfen auf dem heißen Stein", sagt die Chefin der Organisation. Amputationen ohne Schmerzmittel In den Krankenhäusern sei die Lage katastrophal. Ärzte in Gaza berichten von Amputationen, die ohne Schmerzmittel ausgeführt werden, selbst an Kindern; von Verbandsmaterial, das nach der Behandlung ausgewaschen und sterilisiert werden muss; von jungen Müttern, die 24 Stunden nach einem Kaiserschnitt die Klinik verlassen müssen, um Platz für die nächste Geburt freizumachen. Die Ärzte seien überlastet, so Paravanta. Sogar erfahrene Kollegen sagen zu ihr, sie hätten derartig katastrophale Umstände noch nie gesehen. Neunmal mussten die Krankenhäuser nach Aufforderung der israelischen Armee evakuiert werden. Viele Ärzte mussten Patienten im Stich lassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Im Gespräch erzählt Parvanta auch von Kollegen, die von israelischen Soldaten getötet wurden, manche sogar während ihrer Arbeit am Patientenbett. Sie würde sich wünschen, dass die Vorfälle völkerrechtlich aufgeklärt werden, viel Hoffnung hat sie aber nicht. 2015 hat die US-Armee ein Krankenhaus der Hilfsorganisation in Kundus, im Norden Afghanistans, zerstört und dabei 42 Menschen getötet, darunter 14 Mitarbeiter. Seither werde das Völkerrecht immer wieder verletzt, ohne dass die Kriegsparteien Konsequenzen fürchten müssten, sagt Parvanta. Die Chefin von Ärzte ohne Grenzen fragt sich deshalb: "Wenn wir selbst das Minimum, worauf wir uns als Weltgemeinschaft geeinigt haben – nämlich, dass wir im Krieg das Recht auf medizinische Versorgung beachten – jetzt hier über Bord werfen: Wer guckt dann noch nach Sudan und Haiti, wo sowieso keiner hinguckt?" Empfehlung von Parnian Parvanta Die Ärztin empfiehlt den Roman „Die Hälfte der Sonne“ von der nigerianischen Bestseller-Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. "Wenn ich die Bücher anfange zu lesen, dann kann ich meistens nicht aufhören", sagt Parnian Parvanta. Im Buch geht es um den Krieg in Biafra, wo 1967 die Igbo-Bevölkerung ihre Unabhängigkeit von Nigeria ausgerufen hatte. Der Aufstand wurde von der nigerianischen Armee mit der Unterstützung von Großbritannien, der Sowjetunion und den USA auf brutaler Weise zerschlagen, der Krieg forderte mehr als eine Million Todesopfer. Biafra wurde 1970 wieder von Nigeria annektiert. In Adichies Roman steht eine Familie im Mittelpunkt. Wie diese mit der Kriegssituation umgeht, hat Parnian Parvanta "sehr berührt".
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Mar 8, 2024 • 1h 9min

„Musik kommt in der Schule deutlich zu kurz“ – Johanna Soller bei Carolin Emcke über die Zugänglichkeit von Kultur

In aller Ruhe Wie zugänglich ist Hochkultur? Opern, Orchester und Chöre haben sich zwar in den vergangenen Jahren weiter geöffnet, die breite Gesellschaft erreichen sie dennoch nicht. Die Dirigentin Johanna Soller findet das "grausam". Schuld seien jedoch nicht nur die hohen Eintrittspreise, sondern auch die fehlende kulturelle Bildung: "Musik kommt in der Schule deutlich zu kurz." Johanna Soller zählt zu den führenden deutschen Künstlerinnen ihrer Generation. Die 35-jährige Cembalistin und Organistin leitet seit Beginn der Saison 2023/24 als erste Frau den Münchener Bachchor und das Bachorchester. Die Ensembles wurden 1954 von Karl Richter gegründet und erlangten Weltrenommee. Soller ist erst seine vierte Nachfolgerin, was in 70 Jahren keine große Zahl sei, wie die Musikerin selbst anmerkt. "Karl Richter ist 1981 verstorben, ich bin 1989 geboren", sagt sie, "da liegt viel Zeit dazwischen." Dennoch empfindet die Dirigentin die weitreichende Historie des Chors nicht als Belastung, sondern als inspirierenden "Ausblick". Schon durch ihre Vorgänger hat sich die Linie des Ensembles seit dem Tod von Karl Richter weiterentwickelt, sagt die neue Leiterin: "Eigentlich fühle ich mich sehr frei in meiner Gestaltungsmöglichkeit." Der Chor probt zweimal die Woche, "das ist viel", sagt die Leiterin. So bleibt neben dem Proben auch Zeit, um über die Kompositionen zu sprechen. Sollers früherer Klavierprofessor, Friedemann Berger, war eine große Inspiration für sie, er zählte zu ihren wichtigsten Lehrern. "Es vergingen Stunden völlig ohne Klavier, weil das Lenken von Aufmerksamkeit mehr im Vordergrund stand als eine ausgefeilte Klaviertechnik." Sie fügt hinzu: "Ein guter Lehrer macht sich selbst überflüssig." Es sei eine große Qualität des Lehrens, Unterschiede unter den Musikern zuzulassen. Insbesondere bei Bach sei das wichtig, um der Vielschichtigkeit seiner Kompositionen gerecht zu werden. Warum ist Bach so zeitlos? Auf die Frage, warum die Musik von Johann Sebastian Bach auch drei Jahrhunderte später noch Konzertsäle, Kirchen und Philharmonien füllt, findet Soller keine klare Antwort. Teilweise lässt sich das durch Bachs "große Ebenbürtigkeit von verschiedensten Polen" erklären, wie er zwischen Intellekt und Emotionalität abwiegt. Die Kompositionen seien einerseits unfassbar komplex und andererseits "irgendwie einfach", sagt die Dirigentin. Dadurch sei Bach für viele Hörer zugänglich, auch für die ohne Barock-Kenntnisse. Gleichzeitig verbirgt Bachs Musik viele Details, etwa in "Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille" aus der Matthäus-Passion. Hier komponierte Bach 39 kurze Stakkato-Akkorde in der Oboe mit vielen Pausen und bezieht sich damit womöglich auf Psalm 39, wo es um das stille Schweigen geht. "Das ist dann eine Ebene, die sich nur in der Partitur auftut, niemand wird beim Hören die Akkorde mitzählen", sagt Soller. Und trotzdem schafft dieses Detail eine weitere Tiefe in der Komposition. "Das ist das unerschöpfliche Element bei Bach, wodurch man eigentlich mit der Interpretation nie fertig wird." Die Corona-Pandemie hat die Kulturbranche in eine lange Pause gezwungen. Erst kam das Johanna Soller gelegen, denn die Zeit konnte sie zum Klavier-Üben nutzen. Nur die Ensemblearbeit war zu Hause nicht möglich, was sie nach und nach immer weiter frustrierte. Trotzdem wollte sie keine Online-Konzerte veranstalten: „Ich habe kaum etwas als verzweifelter empfunden als Chöre, wo sich jeder von zu Hause aus zugeschaltet hat.“ Das habe ihr gezeigt, wie schlecht ein wirkliches Zusammenkommen sich auf ein Livestream übertragen ließe. Empfehlung von Johanna Soller "Ich hatte viel Bekümmernis" ist Johanna Sollers liebste Bachkantate, auch wenn sich das häufig im Leben einer Musikerin ändert, wie sie selbst anmerkt. Sie findet es "beinahe ungeheuerlich", auf welche Reise Bach die Zuhörenden da schickt. "Innerhalb dieser grob 40 Minuten ist eigentlich fast ein ganzes Leben gezeichnet", sagt sie, "es ist unvorstellbar." Insbesondere der letzte Chor mit den Pauken und Trompeten, der an den Anfang der Sinfonie erinnert, beeindruckt die Musikerin. Dieses "Durchmachen" hat sie so in anderen Kantaten bisher nicht gefunden. Bach komponierte die Kirchenkantate während seiner Zeit in Weimar zwischen 1708 und 1717.
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Feb 23, 2024 • 1h 9min

„Die Brandmauer gibt es im Stadtrat nicht“ – Matthias Meisner bei Carolin Emcke über Umgang mit Rechtsextremismus

In aller Ruhe Berlin, Hamburg, München – Hunderttausende Demonstranten gehen auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Auslöser war eine Recherche des Medienhauses Correctiv, das von einem geheimen Treffen rechtsextremer Akteure mit Parteimitgliedern der AfD, CDU und Werteunion in Potsdam berichtete. „Besonders toll“ findet Matthias Meisner, dass auch in kleineren Städten Demonstrationen stattfinden: „Sie gehen sogar in Hochburgen der AfD auf die Straße: Pirna, Görlitz, Zwickau.“ Doch der Journalist betont: „Der rechte Kern ist trotzdem nicht weg.“ Matthias Meisner, 62, beobachtet seit Anfang der Nullerjahre rechtsextreme Bewegungen in Deutschland. Er arbeitete mehr als zwanzig Jahre für den Tagesspiegel und schreibt seit drei Jahren als freier Autor. In seinem neuen Buch „Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“, erschienen im Herder Verlag, schlüsselt er gemeinsam mit Co-Autorin Heike Kleffner auf, wie auch die Polizei zum Teil von Rechtsextremisten unterwandert sei. Das sei etwa im Fall NSU 2.0 erkennbar gewesen. Jahrelang hat Alexander M. mit Drohbriefen Schrecken verbreitet, dafür wurde er zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Meisners Recherchen legen nahe, dass dabei auch Polizisten involviert gewesen sein könnten. Carolin Emcke bezeichnet das Recherchebuch als „sehr kompakt und vielschichtig“. Im Podcast nennt der Journalist etliche Beispiele, in denen Rechtsextremismus hierzulande bereits normalisiert ist. Szenetreffen von Neonazis, die historisch etwa auf Rechtsrock-Konzerten stattfanden, seien mittlerweile in die „ganz normale Dorfkneipe“ umgezogen. Das belegte im Januar eine Studie des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Meisner erzählt auch, wie die AfD bereits Einfluss auf kommunale Politik ausübt, ohne selbst den Bürgermeister zu stellen, indem sie jetzt schon gemeinsam mit der CDU Maßnahmen beschließen: „Die Brandmauer gibt es im Stadtrat faktisch nicht.“ Im Freital in der Nähe von Dresden sollte ein AfD-Landtagsabgeordneter die diesjährige Rede zum Holocaust-Gedenktag halten. Der Oberbürgermeister hatte dem zugestimmt. Der Auftritt des AfD-Abgeordneten wurde schließlich abgesagt, doch nicht etwa wegen der rechtsextremen Haltung des Politikers, sondern weil die Mitarbeiter des Rathauses bedroht worden seien. Meisner echauffiert sich: „Das ist doch verrückt.“ Der Journalist argumentiert mit Akkuratesse, vermeidet Verallgemeinerungen und belegt jedes Argument mit Studien und Beispielen. Er verweist dabei stets auf die Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen, das sei „unüblich“, sagt Carolin Emcke im Gespräch. Darauf antwortet Meisner: „Wenn die Rechten Netzwerke entwickeln, will ich auch meine Netzwerke haben.“ Empfehlungen von Matthias Meisner Matthias Meisner empfiehlt den Debütroman von Anne Rabe „Die Möglichkeit von Glück“. Das habe er „viel zu spät“ entdeckt. Er findet den Blick der jungen Autorin, Jahrgang 1986, auf die DDR „faszinierend“. Der Roman handelt von einer ostdeutschen Familie in der Nachwendezeit und vom Gefühl, in einer Region zu leben, die einst ein eigener Staat war. Rabes Debüt, das im Klett-Cotta Verlag erschien, gelang auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023. Außerdem empfiehlt Meisner den Dokumentarfilm „Green Border“ von Agnieszka Holland. Das Drama handelt von den Schicksalen der Geflüchteten an der belarussisch-polnischen Grenze. „Der Film hat mich sowas von berührt und mitgenommen und sollte für jeden politisch Interessierten Pflichtprogramm sein“, sagt Meisner. Er ist damit nicht allein. Der zweieinhalb Stunden lange Schwarz-Weiß-Film hat viele Kritiker, unter anderem in der SZ, überzeugt und gewann in Venedig 2023 den Jurypreis. Moderation, Redaktion: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Léonardo Kahn, Johannes Korsche Produktion: Imanuel Pedersen Klicken Sie hier, wenn Sie sich für ein Digitalabo der SZ interessieren, um unsere exklusiven Podcast-Serien zu hören: www.sz.de/mehr-podcasts Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER
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Feb 9, 2024 • 1h 22min

„Zweifel werden übersehen“ – Steffen Mau bei Carolin Emcke über Affektpolitik und Spaltung

Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor von "Triggerpunkte", bringt spannende Einblicke in die Polarisation unserer Gesellschaft. Er erklärt, warum trotz breitem Konsens in zentralen Fragen wie Klimapolitik häufig Meinungsverschiedenheiten auftreten. Mau beleuchtet die Rolle von Emotionen in der Politik und die Herausforderungen der Migration, während er zugleich den oft übersehenen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten thematisiert. Ein faszinierendes Gespräch über Spaltung und Möglichkeiten zur Solidarität.
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Jan 26, 2024 • 1h 35min

„Seit fünf Jahren Dauerbeschuss“ – Luisa Neubauer über Fridays for Future und das Engagement der Jugend

Ein Augusttag 2018 in Schweden, eine 15-jährige Jugendliche beschließt, nicht in die Schule zu gehen, sondern zu streiken. Wegen der unzureichenden Klimapolitik. In den kommenden Monaten schließen sich weltweit immer mehr Schülerinnen, Studierende und Auszubildende an, der Beginn der Klimabewegung „Fridays for Future“. Auch in Deutschland gehen von Dezember 2018 an immer mehr Jugendliche für mehr Klimaschutz auf die Straße. Die zentrale Figur der deutschen Proteste, Luisa Neubauer, ist in dieser Folge von „In aller Ruhe“ zu Gast. Luisa Neubauer, geboren 1996 in Hamburg, ist Klima-Aktivistin, Podcasterin, Autorin und Geographie-Studentin. Sie ist die prominenteste Stimme der deutschen „Fridays for Future“-Bewegung und als solche weltweit aktiv und bekannt. Außerdem ist Neubauer Autorin mehrerer Bücher, zuletzt ist auf Deutsch „Gegen die Ohnmacht – Meine Großmutter, die Politik und ich“ erschienen, das sie mit ihrer Oma Dagmar Reemtsma geschrieben hat. „Aktivismus ist nicht vorgesehen“ Nach fünf Jahren Aktivismus blickt Luisa Neubauer auf die Klimabewegung zurück, deren Engagement in ihren Augen als etwas zu normal angesehen werde. Aber: „Das ist nicht selbstverständlich.“ Denn „den meisten jungen Menschen sagt man: „Arbeite hart und kümmere dich um deinen Lebenslauf!“ Und Aktivismus, bei dem wir nicht genau wissen, ob er sich in zehn Jahren auszahlen wird, der ist nicht zwangsläufig vorgesehen.“ Das bedeute auch, dass sich die Klimabewegung Gedanken machen müsse, wie sie ihre Mitglieder halten könne. „Niemand gibt so viel Zeit für etwas, was halb gut ist.“ Die Alternativen, Zeit anders zu verbringen, seien zu verlockend: „Sonst sagen sie: „Wir gehen ins Freibad.“ Zumal das Engagement mit großen Opfern verbunden ist, zum Beispiel bei ihr auch mit Anfeindungen und Hass im Netz. „Jeder, der meinen Social Media Account mal näher betrachtet hat, stellt fest: Dazu kann ich schon was sagen“, sagt Neubauer. Ihr sei wichtig, das nicht als „Problem“ der angefeindeten Personen zu verstehen, sondern „es als das zu benennen, was es ist: ein Missstand.“ Sie erlebe „eine zunehmend digitale Gesellschaft, die es nicht schafft, diese digitalen Räume zu schützen.“ „Es kann keine Transformation geben ohne Investitionen“ Auch die Klimabewegung sieht Neubauer dauerhafter Kritik ausgesetzt: „In Deutschland sind wir seit fünf Jahren unter Dauerbeschuss. Es gab zwar immer wieder Zeiten, da wurden wir gelobt, aber unterm Strich waren das vielleicht zusammengerechnet vier Monate.“ Gerade befinde man sich „in einer Zeit, in der Aktivisten als Terroristen bezeichnet werden und die Existenz einer Klimabewegung als irgendwie demokratiefeindlich degradiert wird.“ Dabei gehe es darum Nachhaltigkeit und Demokratie zu verbinden: „Wir wissen bis heute nicht: Wie funktionieren liberale Demokratien aber in klimagerecht?“ Wenn man unter diesem Blickwinkel weltweit schaue und überlege, wo Präzedenzfälle dafür sein könnten, dann sei die Liste sehr kurz. „Da sind weltweit die Augen unter anderem auf Deutschland gerichtet.“ Es sei nicht möglich, in Deutschland einfach mit dem Rotstift Emissionen weg zu kürzen. „Es gibt da eine einzige Ausnahme: das Tempolimit. Das wäre einfach die Wegkürzung von Emissionen auf der Autobahn.“ Aber: „Jede andere Maßnahme in Deutschland ist auch eine Investitionsfrage. Es kann keine Transformation geben – sei es im Landwirtschaftssektor, sei es im Verkehrssektor, sei es im Energiesektor – ohne Investitionen.“ Auch Klimaschutzmaßnahmen müssten eben nachhaltig sein. „Klimapolitik, die nicht sozial ist, ist auch nicht nachhaltig.“ Es dürfe nicht dazu führen, dass sich Leute von demokratischen Parteien abwenden oder sich zurückgelassen fühlen. „Damit hängt auch so eine gesellschaftliche Nachhaltigkeit zusammen. Empfehlung von Luisa Neubauer Luisa Neubauer empfiehlt: „Die Unzertrennlichen“ von Simone de Beauvoir, verlegt von Rowohlt. „Ein ganz fantastisches Buch, was ich zuletzt sehr genossen habe.“ Und sie empfiehlt die Biografie von Rudi Dutschke, Titel „Wir hatten ein barbarisch schönes Leben“ von Gretchen Dutschke. „Das hat wirklich großen Spaß gemacht.“ Moderation, Redaktion: Carolin Emcke Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche Produktion: Imanuel Pedersen Klicken Sie hier, wenn Sie sich für ein Digitalabo der SZ interessieren, um unsere exklusiven Podcast-Serien zu hören: www.sz.de/mehr-podcasts Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER

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