
In aller Ruhe
Die Krisen überschlagen und verbinden sich: Pandemie, Klima, russischer Angriffskrieg. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz stellen die Gesellschaft vor immer neue Herausforderungen. Unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Es lohnt sich deshalb, aus der schnellen Aktualität und der eigenen Perspektive auf die Welt auszutreten.
Philosophin, Publizistin und SZ-Kolumnistin Carolin Emcke spricht in diesem Podcast dafür mit Aktivistinnen, Autoren, Künstlerinnen oder Wissenschaftlern über politisch-philosophischen Fragen hinter aktuellen Ereignissen und sortiert mit ihnen große gesellschaftliche Debatten.
Die Folgen erscheinen alle zwei Wochen ab dem 25. Februar 2023.
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Apr 7, 2023 • 1h 18min
„Toxische Objekte“ – Léontine Meijer-van Mensch bei Carolin Emcke über Kolonialismus und Museen
Wer ethnologische Museen besucht, der taucht ein in eine ihm unvertraute Welt. In andere Kulturen und Kontexte. Und doch – so verschieden die jeweiligen Ausstellungen auch sein mögen – verbindet sie eines: eine oftmals von Kolonialismus geprägte Herkunft der Gegenstände. Wie damit umgehen? Und was für ein Ort kann das Museum in unserer Gesellschaft sein?
In der fünften Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Léontine Meijer-van Mensch. Meijer-van Mensch, geboren 1972 in Hilversum in den Niederlanden, ist Direktorin des „Grassi Museums für Völkerkunde zu Leipzig“. In der Sammlung des Leipziger Museums befinden sich etwa 200 000 Objekte, es ist eine der größten ethnologischen Sammlungen in Deutschland. Meijer-van Mensch studierte „Neue und Theoretische Geschichte“ und „Jüdische Studien“ in Amsterdam, Jerusalem und Berlin sowie „Schutz Europäischer Kulturgüter“ mit Schwerpunkt Museologie in Frankfurt (Oder). Bevor sie Leiterin des Grassi Museums wurde, war sie unter anderem Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin.
„Mit was für einer kolonialen Perspektive schauen wir immer noch auf auf die Welt?“
Museen sind für Léontine Meijer-van Mensch „inklusive Orte für kritischen Dialog“. Mehr noch: Museen könnten neben Arbeitsplatz und Wohnung ein sogenannter „dritter Ort“ sein. Der Ort, wo die Gesellschaft sich trifft, wie am Dorfbrunnen. Das Museum als „gesellschaftliche Dorfpumpe, wo wir tatsächlich Demokratie verhandeln“.
Gerade ethnologische Museen könnten einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes leisten, indem sie „dort anfangen, wo es am meisten wehtut.“ Bei den Fragen: „Wie haben wir gesammelt, kategorisiert und Kulturen in Schubladen gesteckt und mit was für einer kolonialen Perspektive schauen wir immer noch auf auf die Welt?“ Deshalb gehöre es zu den Kernaufgaben von Sammlungen und Museen „sich über die Erwerbskontexte Gedanken zu machen. Es geht nicht mehr ohne das – und glücklicherweise, würde ich sagen.“ Das beginne schon bei dem „semi-neutralen Wort: Erwerb.“ Hinter dem sich oftmals eine koloniale Geschichte verbirgt. Aber: „Da steht dann erworben und fertig.“
„Da sind auch Tränen geflossen, weil es so schön war“
Das Traurige an ethnologischen Objekte sei, dass sie ihrem ursprünglich häufig performativen, rituellen Kontext entrissen wurden, so Meijer-van Mensch. Und den verlieren sie natürlich, wenn sie im Museum ausgestellt werden. „Warum Objekte nicht viel stärker in einem Community-Kontext wieder benutzen?“ Sofern es die nachträgliche, konservatorische Behandlung der Stücke ermögliche. Aber es bleibt dann für Meijer-van Mensch die Frage: „Was geben wir dann zurück? Im doppelten Sinne des Wortes häufig: toxische Objekte.“
Als Ende Dezember 2022 die ersten „Benin Bronzen“ an Nigeria zurückgegeben wurden, saß Meijer-van Mensch im Flugzeug mit Außenministerin Annalena Baerbock. „Wir als Institution haben ein Ritual-Schwert, einen Ahnenstab und einen Gedenkkopf zurückgegeben. Sehr wertvolle – kulturell bedeutsame und nicht wertvolle im merkantilistischen Sinne – sondern kulturell bedeutsame Artefakte.“ Es sei sehr bewegend gewesen: „Da sind auch Tränen geflossen, weil es so schön war.“
Empfehlung von Leontine Meijer-van Mensch
Léontine Meijer-van Mensch empfiehlt: „Wo die Fremde beginnt – Über Identität in der fragilen Gegenwart“ von der Journalistin Elisabeth Wellershaus, erschienen im C.H. Beck Verlag. „In ihrem Buch erforscht Wellershaus Kontexte, in denen Fremdheit sich nicht gleich auf den ersten Blick erschließt: in Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, Nachbarschaften, der Familie – in unmittelbarer Nähe. Sie erzählt von unentschlossenen Biografien, komplexen Identitäten und verknüpft die Weltwahrnehmungen anderer mit eigenen“, kündigt der Verlag das Buch an. Für Meijer-van Mensch: Ein Buch, das die statische Grenze zwischen „Wir und die Anderen, zwischen was fremd und was nicht-fremd ist“ aufmacht. Und das Buch hat auch „meine Vision resoniert, was wir in diesen dritten Orten verhandeln müssen, die wir jetzt noch ethnologische Museen nennen.“

Mar 24, 2023 • 1h 31min
„Ungeheure Geschwindigkeit“ – Dirk Messner bei Carolin Emcke über die Klimakrise
Der IPCC-Bericht, der vergangene Woche vorgestellt wurde, zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft: In fast allen Szenarien wird eine globale Erwärmung von 1,5 Grad bereits im nächsten Jahrzehnt überschritten. Dabei sind die Auswirkungen der Klimakrise schon jetzt deutlich spürbar. In Europa herrscht eine Dürre – mitten im Winter. Einem Winter, der in Deutschland zum zwölften Mal in Folge eigentlich zu warm war. Die Waldzustandserhebung der Bundesregierung hält fest: Mehr als ein Drittel aller Bäume in Deutschland hat erhebliche Schäden. Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage: Was können wir tun? Und wie diskutiert die Gesellschaft über die Maßnahmen zum Klimaschutz?
In der vierten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Dirk Messner über die Klimakrise. Messner, geboren 1962, ist seit Anfang 2020 der Präsident des Umweltbundesamtes. In dieser Rolle arbeitet er an der Schnittstelle zwischen Forschung und Politikberatung. Davor war der renommierte Nachhaltigkeitsforscher und Politikwissenschaftler unter anderem von 2003 bis 2018 Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Außerdem war er beim Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderung der Bundesregierung Ko-Vorsitzender. Er prägte den Begriff der "Transformation", der den anstehenden Umbau der Städte, der Mobilität, der Energiesysteme und der Landnutzung beschreibt.
„Wir brauchen eine Antriebswende“
Messner hat am Aufnahmetag dieser Folge, dem 15. März, einen Bericht zu den Klimaschutzzielen der Bundesregierung vorgestellt. Zwar hat Deutschland diese für 2022 erreicht – allerdings nicht im Bau- und nicht im Vekehrssektor. „Man muss eine Strategie in die richtige Richtung sehen und die sehe ich im Verkehrsministerium jetzt nicht“, sagt Messner im Gespräch bei „In aller Ruhe“. Dabei muss es schnell gehen: „Wir müssen den privaten Verkehr auf den öffentlichen Verkehr verlagern, und wir müssen am Ende des Tages die Zahl der privaten Kraftfahrzeuge reduzieren, damit wir unsere Klimaziele erreichen können.“ Zudem „brauchen wir eine Antriebswende“. Ein Weg für besseren Klimaschutz: der Abbau klimaschädlicher Subventionen, sagt Messner. „Das sind 65 Milliarden im Jahr, also eine interessante Summe. Vom Umweltbundesamt haben wir gezeigt, dass wir die Hälfte davon in einer Legislatur abbauen können.“
Um die globale Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen und somit weitere Kipppunkte beim Klimawandel zu vermeiden – „dafür brauchen wir eine ungeheure Geschwindigkeit“ bei den Maßnahmen, sagt Messner. In der aktuelle gesellschaftlichen Debatte um den Klimaschutz sieht er deshalb ein „doppeltes Zumutungs-Paradoxon“. Einerseits gehe es vielen zu langsam beim Klimaschutz, was sie als Zumutung empfinden, insbesondere bei der jungen Generation. Andererseits gehe es vielen Menschen wegen der Veränderungen, die von den Klimaschutzmaßnahmen ausgehen, auch zu schnell. Das werde ebenfalls von diesen Gruppen als Zumutung empfunden. Deswegen müsse eine Klimapolitik auch die soziale Dimension berücksichtigen. Zudem hofft Messner auf eine neue Klima-Narration. Immerhin: „Es gibt schon eine ganze Reihe zentraler Weichenstellungen, die darauf hinweisen, dass wir noch eine Chance haben, die ganze Geschichte zu wuppen.“
Dirk Messner empfiehlt: „Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“ von Nobelpreisträger Eric Kandel, auf Deutsch erschienen im Siedler Verlag. Für Messner lohnt sich der Blick auf Wien um 1900, weil sich damals „ein gemeinsames Milieu“ von Kunst, Kultur und Wissenschaft herausgebildet habe. „Und ich würde mir wünschen, dass Kultur und Wissenschaft auf eine ähnliche Art und Weise zusammenfinden, um diese Klima-Narration voranzubringen.“

Mar 10, 2023 • 1h 17min
"Enttarnte Illusion" - Hengameh Yaghoobifarah bei Carolin Emcke über Migration
Erst vor wenigen Wochen, am 19. Februar, hat sich der rassistische Anschlag von Hanau zum dritten Mal gejährt. Neun Menschen starben an diesem Tag, weil sie als Migrantinnen und Migranten nicht in das Weltbild des rassistischen Attentäters passten. Dabei leben in Deutschland Menschen mit unterschiedlichsten Herkünften schon längst zusammen. Spätestens seit den ersten Anwerbeabkommen, die der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in den 1950er und 60er Jahren mit Italien, Griechenland und der Türkei geschlossen hat. Doch die Gewalt gegen die migrantische Community ging nie weg. Immer noch sehen Teile der deutschen Gesellschaft sie als fremd und anders an.
In der dritten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Hengameh Yaghoobifarah. Yaghoobifarah ist als Kind mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren und aufgewachsen. Wie sehr prägt die Angst vor rassistischer Gewalt die Kindheit: „Es wurde von vornherein vermittelt, dass der eigene Status und auch das Wahrnehmen der eigenen Rechte prekär ist.“ Und: „Es gab Migrantinnen, die wurden ermordet und es gab welche, die haben sich selbst umgebracht, weil das Leben hier nicht lebenswert und hoffnungslos erschien.“
Hengameh Yaghoobifarah, 1991 in Kiel geboren, hat Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping studiert. Seit 2014 ist Yaghoobifarah Redaktionsmitglied beim Missy Magazine. Von 2016 an erschien Yaghoobifarahs Kolumne „Habibitus“ sechs Jahre lang in der taz. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Yaghoobifarah 2019 den Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben. 2021 erschien der Debütroman „Ministerium der Träume“. Yaghoobifarah beschäftigt sich in ihren Texten mit Körperpolitiken, Rassismus und Queerfeminismus.
„Natürlich schreibt man gegen eine gewisse Norm an“, sagt Yaghoobifarah. „Was zum Beispiel antirassistisches Schreiben und queeres Schreiben miteinander gemeinsam haben, ist die deutsche Sprache, die für einiges kein Platz findet, nicht zu reformieren, sondern zu demolieren.“ Yaghoobifarah ist non-binär und sagt: „Wenn ich immer weiblich angesprochen werde, dann spiegelt das nicht wider, wer ich bin.“
Empfehlung von Hengameh Yaghoobifarah
„Bound“ ist 1996 in die Kinos gekommen und der Debütfilm der Wachowski-Geschwister, die später mit „Matrix“ das Kino revolutioniert haben. „Bound“ erzählt die Geschichte von zwei Frauen, die sich ineinander verlieben. Und gemeinsam einen Mafioso um zwei Millionen Dollar bringen wollen. Yaghoobifarahs Urteil: „Ich fand den richtig, richtig nice.“
Redaktion, Moderation: Carolin Emcke
Sounddesign, Produktion: Justin Patchett
Text zur Folge: Johannes Korsche

Feb 24, 2023 • 1h 13min
„Ein kollektives Trauma“ – Monika Hauser bei Carolin Emcke über sexualisierte Gewalt im Krieg
Die Kämpfe in der Ukraine sind nach einem Jahr noch immer in vollem Gange. Doch schon heute wissen wir, dass Frauen in besetzten Gebieten auch in diesem Krieg wieder sexualisierte Gewalt angetan wird, dass sie vergewaltigt werden. Auch wenn sich das volle Ausmaß erst noch zeigen wird.
Auf diese traurige Gewissheit blickt Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“. Gemeinsam mit Monika Hauser, die sich seit dem Jugoslawienkrieg für traumatisierte Frauen einsetzt. Sexualisierte Gewalt betreffe zwar in erster Linie immer Individuen, aber sei nie nur ein individuelles Trauma, so Hauser. Sie betreffe immer das ganze Kollektiv, die ganze Gesellschaft.
Monika Hauser, 1959 in Thal, Schweiz, geboren, ist Gründerin der Frauenrechtorganisation „medica mondiale“ und Fachärztin für Gynäkologie. Für ihr Engagement hat sie 2008 den „Alternativen Nobelpreis“ erhalten. Das deutsche Bundesverdienstkreuz hat sie 1996 abgelehnt, um gegen die Resolution des deutschen Innenministeriums zur Ausweisung bosnischer Flüchtlinge zu protestieren.
Sexualisierte Gewalt bekam sie schon früh mit, als junges Mädchen: „Meine Südtiroler Großmutter hat mir von eigenen Gewalterfahrungen erzählt.“ Da sei für sie sehr früh klar gewesen, „dass sexualisierte Gewalt zum Frauenleben dazugehört. Und dass das etwas ist, was ich nicht akzeptieren konnte.“
Frauen, die den Krieg überlebt haben, aber durch sexualisierte Gewalt traumatisiert sind, leiden oft noch lange darunter: „Wir sehen, dass es Langzeitfolgen gerade bei sexualisierter Gewalt gibt: extreme Ängste, Depressionen, Suizidgefühle. Alles auch Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung.“ Es können sich „aber auch psychosomatische Erkrankungen wie zum Beispiel chronische Unterleibsschmerzen“ entwickeln. Retraumatisierend wirkt oft auch der gesellschaftliche Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft: „Diese Stigmatisierung, diese Ausgrenzung, diese Verachtung, die den Frauen entgegengebracht wird“, sagt Hauser.
Die Empfehlung von Monika Hauser
Monika Hauser empfiehlt „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi, erschienen im Fischer Verlag. Der Roman erzählt die Geschichte einer über die Welt verstreuten Familie. Die Familienmitglieder wohnen in London, Accra und New York. Bis der Vater in Afrika stirbt. Nach vielen Jahren sehen sie sich auf diese Weise wieder. Für Monika Hauser ist es eine Geschichte, in der es um „das Leben nach der Traumatisierung und nach dem Krieg geht.“ Ein Thema, das auch für die deutsche Nachkriegsgesellschaft relevant war und ist. „Wir nehmen uns viel zu wenig Zeit, auf diese Zusammenhänge zu schauen.“
Moderation: Carolin Emcke
Produktion: Justin Patchett
Redaktion: Sabrina Höbel, Johannes Korsche, Vinzent-Vitus Leitgeb

Feb 24, 2023 • 1h 10min
"Ungezügelte Bösartigkeit" – Karl Schlögel bei Carolin Emcke über Putinismus
Seit dem 24. Februar 2022, an dem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, ist die Welt eine andere. Die Sicherheit des Friedens in Europa, dessen Länder sich auf Grenzen geeinigt hatten, endete abrupt mit Putins Befehl, die Ukraine zu überfallen. Ein Bruch in Europa. Ein Bruch auch in Deutschland: Diplomatische Beziehungen, das Verhältnis zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und die Gasversorgung des Landes mussten neu sortiert werden. Nun zum traurigen Jahrestag des Einmarsches blickt Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ auf ein Jahr Angriffskrieg zurück. Gemeinsam mit Osteuropa-Historiker Karl Schlögel geht es um den „Putinismus“ in Russland und auch darum, was es für Menschen im und außerhalb des Kriegsgebiets bedeutet, dem Krieg ausgesetzt zu sein.
Karl Schlögel, geboren 1948 im Unterallgäu, reiste in den 1960er Jahren das erste Mal in die damalige Sowjetunion. Seitdem beschäftigt er sich mit dem Gebiet, war ungezählte Male dort und lehrte an der Uni Konstanz „Osteuropäische Geschichte“. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher, unter anderem schrieb er „Das sowjetische Jahrhundert“, das mit dem Leipziger Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde. Er gilt als einer der besten Kenner Russlands.
Doch auch Schlögel war von dem russischen Einmarsch überrascht: „Ich konnte es nicht glauben.“ Ihm war allerdings schnell klar, „dass ein Zustand zu Ende gegangen ist und etwas ganz anderes angefangen hat.“ Auch weil er eine Veränderung bei den Reden des russischen Präsidenten Wladimir Putin wahrgenommen hat: „Diese ungezügelte, böse Boshaftigkeit und Bösartigkeit, die aus ihm herausgebrochen ist“, sei so offen auf einer Bühne neu gewesen.
Auch die Bilder von der Front, aus Mariupol, die von dem russischen Vernichtungswillen zeugen, haben Schlögel sehr beschäftigt. Er war schon oft in Mariupol, einem „Zufluchtsort für alle, die es im besetzten Donbass nicht aushielten“, wie er sagt. Unvorstellbar, was dort geschah. Denn selbst das, was den fernen Beobachter von den Schrecken der Schlacht erreicht hat, erlebte Schlögel als „Sprengung des Wahrnehmungshorizonts“. Weiter: „Die Erfahrung ist, dass man, oder, dass ich keine Sprache hatte für das, was passiert.“
Wie Karl Schlögel und Carolin Emcke trotzdem versuchen, Worte zu finden, hören Sie in der ersten Folge von „In aller Ruhe“.
Empfehlung von Karl Schlögel
Karl Schlögel empfiehlt „Stalingrad“ von Wassili Grossmann. Eine Familiengeschichte und ein Anti-Kriegsroman, der in Stalingrad im April 1941 beginnt. Der Krieg gegen die Deutschen scheint weit entfernt. Bis die Rote Armee beginnt, ihre Lager dort aufzuschlagen. Als die Bomben auf Mariupol fielen, habe er oft an dieses Buch denken müssen, sagt Schlögel. „Es ist eines der großartigsten Bücher des Kampfes um Würde und Selbstbehauptung.“
Moderation: Carolin Emcke
Produktion: Justin Patchett
Redaktion: Sabrina Höbel, Johannes Korsche, Vinzent-Vitus Leitgeb

Feb 20, 2023 • 2min
Trailer - In aller Ruhe
Carolin Emcke im Gespräch
Die Krisen überschlagen und verbinden sich: Pandemie, Klima, russischer Angriffskrieg. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz stellen die Gesellschaft vor immer neue Herausforderungen. Unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Es lohnt sich deshalb, aus der schnellen Aktualität und der eigenen Perspektive auf die Welt auszutreten.
Philosophin, Publizistin und SZ-Kolumnistin Carolin Emcke spricht in diesem Podcast dafür mit Aktivistinnen, Autoren, Künstlerinnen oder Wissenschaftlern über politisch-philosophischen Themen hinter aktuellen Ereignissen und sortiert mit ihnen große gesellschaftliche Fragen der Zeit. Die Folgen erscheinen alle zwei Wochen ab dem 25. Februar 2023.