

Sternengeschichten
Florian Freistetter
Das Universum ist voll mit Sternen, Galaxien, Planeten und jeder Menge anderer cooler Dinge. Jedes davon hat seine Geschichten und die Sternengeschichten erzählen sie. Jeden Freitag gibt es eine neue Folge - das Universum bietet genug Material für immer neue Geschichten.
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May 14, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 442: Numerische Astronomie
Das Universum im Computer
Sternengeschichten Folge 442: Numerische Astronomie
In dieser Folge der Sternengeschichten geht es um eines der wichtigsten Instrumente der modernen Astronomie. Ein Instrument, über das ich erstaunlicherweise in den bisherigen 440 Folgen noch nie ausführlich geredet habe und dieses Versäumnis muss dringend behoben werden. Denn ohne dieses Instrument geht in der modernen Forschung gar nichts. Und ich spreche nicht von einem speziellen Teleskop oder einem Satellit. Sondern von dem, was vermutlich die meisten von uns zuhause oder am Arbeitsplatz stehen haben: Einen Computer.
Den benutzt man in der Astronomie natürlich genau so, wie wir ihn alle benutzen. Die Forscherinnen und Forscher schreiben damit ihre Fachartikel; sie rufen ihre Emails ab und recherchieren damit in Literaturdatenbanken. Vermutlich schaut man damit auch zwischendurch mal das eine oder andere YouTube-Video, das nichts mit Forschung zu tun hat, liest die Zeitung oder spielt vielleicht sogar zwischendurch mal ein Computerspiel. Man kann ja nicht immer nur arbeiten… Aber WENN man arbeitet, dann ist der Computer in der Astronomie weit mehr als ein organisatorisches Hilfsmittel. In der "numerischen Astronomie" steht der Computer gleichberechtigt neben dem Teleskop als Quelle für relevante Daten.
Klassisch lässt sich die Astronomie in zwei große Bereiche einteilen. Da ist einmal das, an das man sofort denkt, wenn man "Astronomie" hört: Die Beobachtung! In der beobachtenden Astronomie schaut man - wenig überraschend - zum Himmel und analysiert die Himmelskörper die man sieht. Früher fand diese Beobachtung mit den Augen statt; später hat man immer mehr technische Hilfsmittel wie Teleskope oder Satelliten genutzt. Ebenso lange wie die beobachtende Astronomie gibt es aber auch die theoretische Astronomie. Hier probiert man auf mathematischem Weg die Himmelskörper zu verstehen. Als etwa Johannes Kepler zu Beginn des 17. Jahrhunderts berechnet hat, wie man die Bewegung der Planeten beschreiben kann und seine berühmten Keplerschen Gesetze aufgestellt hat, war das theoretische Astronomie. Als Urbain LeVerrier im 19. Jahrhundert aus Unregelmäßigkeiten in der Bewegung des Planeten Uranus auf die Existenz eines weiteren, damals noch unbekannten Planeten geschlossen hat, war das theoretische Astronomie. Entdecken musste diesen Planeten dann natürlich jemand, der durch ein Teleskop schaut (was in dem Fall auch passiert ist und zum Fund von Neptun geführt hat). Beobachtung und Theorie sind unterschiedliche Gebiete, die dennoch fest zusammenhängen. Das eine kommt nicht ohne das andere aus. Lange Zeit über bestand die Arbeit der theoretische Astronomie zum Beispiel aus der Berechnung von Sternpositionen und der Erstellung entsprechender Himmelskarten. Und aus dem Berechnen und Verfassen langer Tabellen, die die Position der Planeten für konkrete Zeitpunkte der Zukunft vorhersagen. Ohne solche Kataloge, Karten und Tabellen kommt man bei der Beobachtung natürlich nicht aus. Früher haben die meisten Astronom:innen auch beobachtet UND gerechnet. Heute hat sich die Wissenschaft sehr viel mehr spezialisiert.
Ein bisschen rechnen muss man natürlich immer können, wenn man Astronomie betreiben will. Aber mittlerweile hat sich zwischen Theorie und Beobachtung ein komplett neues Gebiet etabliert: Die numerische Astronomie. Die wird immer ein wenig vernachlässigt, wenn man über die Forschung spricht. Das finde ich ungerecht. Denn erstens ist sie enorm wichtig und zweites war die numerische Astronomie auch mein eigenes Arbeitsgebiet. Es wird also Zeit, mal ein wenig ausführlicher darüber zu reden!
Als Naturwissenschaft will die Astronomie natürlich die Natur erforschen. Es geht darum herauszufinden, was da draußen im Universum tatsächlich und real passiert. Die Forschung der Astronomie muss sich also immer an echten Beobachtungsdaten orientieren. Man kann sich nicht einfach irgendwas ausdenken. Oder, etwas anderes gesagt: Man kann sich schon etwas ausdenken. Das muss man aber auf die richtige Weise tun, so dass es als vernünftige wissenschaftliche Hypothese durchgeht. So eine Hypothese, so eine Vermutung muss prinzipiell durch Beobachtungen überprüfbar sein. Manche Dinge lassen sich in der Astronomie nur sehr schwer überprüfen und manche lassen sich so gut wie nicht beobachten. Genau hier kommt die numerische Astronomie ins Spiel.
Nehmen wir eine ganz klassische Frage: Man hat - durch Beobachtung - einen Asteroid entdeckt. Und will jetzt wissen, wo der in Zukunft hinfliegt. Man will vor allem wissen, ob er irgendwann mit der Erde kollidiert. Aus den Beobachtungsdaten kann man nun natürlich seine Umlaufbahn um die Sonne berechnen. Aber das reicht nicht. Denn wie ich in vielen Folgen schon erzählt habe, sind die Umlaufbahnen der Himmelskörper nicht fix. Sie ändern sich dauernd, weil alle Himmelskörper im Sonnensystem einander mit ihrer Gravitationskraft beeinflussen. Das kann man natürlich auch alles entsprechend berechnen. Zumindest im Prinzip… In der Praxis wird das sehr schnell sehr kompliziert. Denn ändern sich die Positionen der Himmelskörper, dann ändert sich auch die Stärke der Anziehungskraft, die sie ausüben. Und dadurch ändern sich die Positionen - wodurch sich die Anziehungskraft wieder ändert. Und so weiter, bis in die Unendlichkeit. Man kann zwar mathematisch die Gesetze beschreiben, denen die Bewegung der Himmelskörper folgt. Das ist das, was Menschen wie Johannes Kepler, Isaac Newton oder Albert Einstein getan haben. Man kann diese Gleichungen aber nicht mehr exakt lösen, wie ich in Folge 175 schon genauer erklärt habe. Da sich alle Himmelskörper gegenseitig beeinflussen und die Stärke des Einflusses bestimmt, wie stark der Einfluss ist, kriegt man eine Art unendliche Rückkopplung die schlicht und einfach mathematisch nicht mehr exakt darstellbar ist. Jetzt hat man zwei Möglichkeiten. Oder eigentlich drei: Natürlich kann man sich einfach auf den Beobachtungsstandpunkt zurückziehen und sagen: Ich SCHAUE einfach, ob der Asteroid mit der Erde kollidiert oder nicht. Das ist aber unpraktisch, denn sowas will man gerne vorher wissen. Und es ist ein weiteres Mal unpraktisch, weil es unter Umständen Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende dauert, bis es so weit ist. Und wenn ich nicht an der Bewegung eines Asteroiden interessiert bin, sondern an der Bewegung von zum Beispiel Galaxien, dann dauert es Jahrmilliarden. Das kann man alles zwar im Prinzip beobachten. In der Praxis aber nicht. Von den verbleibenden zwei Möglichkeiten ist die erste der klassische theoretische Ansatz: Man probiert, die mathematischen Gleichungen so weit zu vereinfachen, dass man trotzdem irgendwelche brauchbaren Lösungen kriegt. Im Fall der Bewegung der Himmelskörper nennt sich das dann "Störungsrechnung" und ich habe in Folge 96 ein bisschen was dazu erzählt. Am Ende kriegt man dann eine Ahnung, wie sich der Asteroid bewegt. Aber man hat unterwegs so viele Vereinfachungen machen müssen, dass man nicht mehr wirklich gut vorhersagen kann, was in der Zukunft passieren wird. Vor allem muss man wirklich viel rechnen, wenn man das herausfinden wollen würde.
Das war früher nicht möglich. Man wusste zwar, was man rechnen muss. Aber es war schlicht und einfach zu viel Arbeit, die Rechnungen auch konkret durchzuführen. Wenn man alles händisch mit Bleistift auf Papier ausrechnen muss, gibt es Grenzen. Man kann die Position der Himmelskörper vielleicht für ein paar Jahre halbwegs genau vorhersagen. Aber es ist praktisch unmöglich zu wissen, was in ein paar Jahrhunderten passieren wird oder gar in ein paar Millionen Jahren. Bleibt Möglichkeit drei: Die numerische Astronomie. Würde ich jetzt sagen, dass die darin besteht, einfach mit dem Computer zu rechnen, als mit der Hand, der wäre das zu sehr vereinfacht. Aber im Prinzip geht es genau darum. Eben weil wir seit ein paar Jahrzehnten die Möglichkeit haben, Rechnungen am Computer durchzuführen, können wir wesentlich mehr machen als vorher. Wir können die Bewegung der Himmelskörper immer noch nicht exakt bestimmen; das verbietet die zugrunde liegende Mathematik. Aber wir können sie quasi beliebig exakt annähern. Dazu bauen wir uns im Computer ein Modell des Sonnensystems. Wir kennen aus Beobachtungen die aktuellen Positionen der Himmelskörper. Wir kennen aus der Theorie die Gesetze, die die Bewegung bestimmen. Und aus der Mathematik wissen wir auch, wie wir solche Gleichungen wenn schon nicht exakt, dann zumindest näherungsweise lösen können. Der Fehler unserer Lösung wird umso größer, je weiter wir in die Zukunft schauen wollen. Also schauen wir einfach nur sehr kurz in die Zukunft und berechnen, wie die Position der Planeten morgen sein wird. Das hilft uns vorerst nicht viel weiter. Aber ein Computer kann diese Rechnung sehr schnell anstellen. Und dann nehmen wir den morgigen Zustand einfach als neuen Startpunkt für eine weitere Rechnung und schauen, wie es übermorgen aussieht. Und so weiter. Am Ende können wir mit diesen numerischen Modellen ein paar Jahrtausende oder Jahrmillionen weit in die Zukunft schauen.
Auch hier gibt es natürlich Grenzen. Die Beobachtungsdaten sind nicht beliebig genau und diese Fehler setzen sich bei den Berechnungen fort. Man kann den aktuellen Zustand des Sonnensystems auch anderweitig nicht beliebig genau festhalten. Man müsste zum Beispiel berücksichtigen, dass jeder Himmelskörper eine unregelmäßige Form hat und seine Masse nicht exakt gleichmäßig verteilt ist. Man müsste nicht nur den gravitativen Einfluss der großen Planeten berücksichtigen, sondern auch den der vielen kleinen Milliarden Asteroiden. Das ist alles prinzipiell möglich; aber irgendwann stößt man an die Grenzen der aktuellen Computertechnik. Trotzdem lassen sich mit numerischen Modellen sehr gute Aussagen über die Zukunft machen, denn die kleinen Fehler fallen nur dann ins Gewicht, wenn man entweder extrem genaue Ergebnisse haben will oder aber sehr weit in die Zukunft blicken möchte.
Numerik ist aber weit mehr, als nur ein paar Zahlen in einen Computer zu tippen. Es gibt in der numerischen Astronomie so gut wie keine vorgefertigte Software. Jede Forschungsfrage ist so speziell, dass man sich so gut wie immer seine eigenen Programme schreiben muss. Man muss die richtige Näherungsmethode für die vorliegenden Gleichungen finden; die richtige Strategie, wie man diese Gleichungen am Computer löst und braucht ein gutes astronomisches Verständnis um das Modell so aufsetzen zu können, dass man am Ende die Antworten auf genau die Frage kriegt, die man gestellt hat. Ein Beispiel: Wenn ich wissen will, wie sich die Asteroiden in der Nähe der Erde bewegen, wie muss ich dann den Zeitschritt der Simulation wählen? Also den "Sprung" in die Zukunft, den ich bei jedem Berechnungsschritt mache? Beim meiner Erklärung vorhin habe ich einen Tag gewählt, das aber war rein willkürlich. Das muss man immer auf das Problem abstimmen und im Fall der erdnahen Asteroiden muss ich mir zum Beispiel überlegen, was mit Merkur und mit Neptun ist. Neptun braucht 165 Jahre für eine Runde um die Sonne. Merkur dagegen nur 88 Tage. Ein erdnaher Asteroid braucht ungefähr ein Jahr. Wenn ich jetzt eine Million Jahre in die Zukunft schauen will, und einen Zeitschritt von einem Tag wähle, muss ich eine Million mal 365 die gravitative Wechselwirkung zwischen allen beteiligten Himmelskörpern ausrechnen. Das kann einen Computer schnell an seine Grenzen bringen (man hat ja in der Wissenschaft auch nicht immer beliebig viel Geld zur Verfügung um bessere Geräte zu kaufen). Also nehmen wir vielleicht besser ein halbes Jahr als Zeitschritt? Dann bräuchten wir nur eine halbe Million Rechenschritte - würden aber den Merkur in der Simulation verlieren: Wenn ich den Zustand des Sonnensystems nur alle knapp 183 Tage (also ein halbes Jahr) betrachte, der Merkur aber in 88 Tage einmal um die Sonne rum ist, dann kann ich seine Bewegung in der Simulation nicht mehr auflösen. Jetzt ist der Merkur ein recht kleiner Planet mit recht geringer Masse. Sein gravitativer Einfluss ist ebenso gering und man kann sich nun überlegen, ob das Ergebnis der Simulation signifikant ungenauer wird, wenn man ihn einfach weglässt. Das muss man natürlich testen und mit den eigenen Ansprüchen an die von der Simulation gewünschten Antworten abstimmen. In manchen Fällen wird man Merkur ignorieren können, in manchen dagegen nicht. Umgekehrt mit Neptun hat man ein ähnliches Problem: Wenn man zum Beispiel feststellt, dass man Merkur braucht, wird man den Zeitschritt auf zum Beispiel höchstens circa 10 Tage setzen können um gute Ergebnisse zu kriegen. Man bräuchte dann aber auch auf jeden Fall mindestens 6022 Rechenschritte, um damit einen kompletten Umlauf des Neptuns zu simulieren. Will man wirklich wissen, wie der Einfluss des Neptuns ist, reicht aber ein einziger Umlauf nicht; da wird man vielleicht ein paar zehntausend Umläufe oder noch mehr benötigen - und entsprechend viele Rechenschritte. Also muss man sich überlegen, ob man Neptun rauswerfen kann oder nicht.
Wenn man numerische Astronomie betreibt, muss man also definitiv auch die astronomischen Phänomene gut verstehen um die es geht; es reicht nicht, einfach nur ein paar Computerprogramme zu schreiben. Und die Numerik spielt nicht nur bei der Bewegung der Himmelskörper eine Rolle. Man braucht sie überall! Zum Beispiel wenn wir Sterne verstehen wollen. Auch da können wir nicht direkt reinschauen; auch hier müssen wir Computersimulationen und Beobachtungsdaten kombinieren. Und auch hier müssen wir wissen, WIE wir rechnen sollen. Reicht vielleicht ein zweidimensionales Modell des Sterns aus oder müssen wir die ganzen wirbelnden und strömenden Gasmassen dreidimensional am Computer simulieren? Was müssen wir alles simulieren um an Ende Vorhersagen über die Auswirkungen an der Oberfläche des Sterns machen zu können, die der Beobachtung zugänglich ist? Und so weiter - ohne Numerik geht es nicht. Also 2015 die Entdeckung der ersten Gravitationswellen bekannt gegeben wurde, hat man verkündet, man habe die Auswirkungen der Kollision zweier schwarzer Löcher gemessen. Was auch richtig war, aber nicht die ganze Geschichte. Die entsprechenden Gravitationswellen waren absurd schwach und das Meßgerät absurd groß (mehrere Kilometer lang). Es war auch extrem empfindlich und hat ALLES gemessen; jede kleinste Erschütterung in der Umgebung. Will man in all diesem Datenrauschen die Gravitationswellen zweier kollidierender schwarzer Löcher finden, muss man GENAU wissen, wonach man sucht. Und woher weiß man das? Weil zuvor sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr viel Arbeitszeit damit verbracht haben, neue Methoden zu entwickeln, wie man die Kollision von schwarzen Löchern am Computer berechnen und die dabei entstehenden Gravitationswellen vorhersagen kann!
In der Astronomie geht es immer noch um Sterne, Planeten und Galaxien. Aber wir stehen schon längst nicht mehr nur Nacht für Nacht am Teleskop und schauen in den Himmel. Das ist weiterhin wichtig. Aber ohne das Universum im Computer wüssten wir heute längst nicht so viel über das Universum da draußen.

May 7, 2021 • 17min
Sternengeschichten Folge 441: Die Bonner Durchmusterung
Ehemalige Hauptstadt der Astronomie
Sternengeschichten Folge 441: Die Bonner Durchmusterung
Der Himmel ist voller Sterne. Als Astronom werde ich immer wieder mal gefragt, ob ich auch schon mal einen neuen Stern entdeckt habe. Habe ich nicht. Das tut man in der Astronomie so gut wie nie. Ab und zu findet man einen Stern, der außergewöhnlich ist, zum Beispiel die Sterne, die ich in den Folgen 433, 437 oder 438 vorgestellt habe. Aber die "entdeckt" man nicht im eigentlichen Sinn. Man erforscht sie, und findet unter Umständen etwas cooles über sie raus! Es gibt schlicht und einfach zu viele Sterne um sie entdecken zu können. Unsere Milchstraße besteht aus circa 200 Milliarden Sterne. Man muss nur mit einem ausreichend guten Teleskop ausreichend genau zum Himmel blicken, und hat mit einem Schlag mehr Sterne im Blick, als man überhaupt sinnvollerweise erforschen kann.
Die Sterne sind da, wir müssen einfach nur hinschauen, um sie zu sehen. Das hat mit "Entdecken" nichts zu tun. Wir wollen die Sterne verstehen, wir wollen mehr über sie wissen, als nur dass sie da sind. Dafür müssen wir die unzähligen Sterne irgendwie sinnvoll organisieren, sortieren und vor allem katalogisieren. Das erste, was man von einem Stern wissen muss, ist seine Position am Himmel und seine Helligkeit. Auf diesen Daten baut der ganze Rest unseres Wissens über das Universum auf. Ohne diese absolut fundamentalen Informationen kann man keine seriöse astronomische Forschung angehen. Deswegen WAR die Astronomie die längste Zeit ihrer Existenz über auch genau das: Der Versuch, Positionen und Helligkeiten von so vielen Sternen wie möglich so genau wie möglich zu bestimmen.
Wir haben heute ein völlig anderes Bild von der Arbeit in der Astronomie als früher. Heute sehen wir die bunten Bilder der großen Weltraumteleskope. Wir sind fasziniert von der Erforschung schwarzer Löcher, ferner Galaxien, fremder Planeten. Die Astronomie ist ein großes Abenteuer bei der wir quer durch das gesamte Universum wandern. Die Astronomie war früher auch ein Abenteuer - aber eines, das aus heutiger Sicht sehr viel weniger aufregend wirkt. Wer früher - und damit ist alles gemeint, was circa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat - ernsthaft astronomisch arbeiten wollte, musste vor allem sehr gut rechnen und beobachten können und durfte absolut kein Problem damit haben, über lange Zeit hinweg die immer gleichen, sich wiederholenden Arbeitsschritte zu absolvieren.
Man saß Nacht für Nacht vor dem Teleskop, in Kälte und in Dunkelheit. Nicht so wie heute, wo man die Beobachtungen vom warmen, hellen Kontrollraum steuert oder überhaupt vom Schreibtisch im eigenen Büro ganz woanders auf der Welt. Damals musste man mit eigenen Augen durchs Teleskop schauen und die Ergebnisse der Beobachtung händisch irgendwo notieren. Das Resultat so einer Beobachtungsnacht war eine lange Liste an Daten und Zahlen, die man dann untertags mathematisch auswerten musste. So ging es Tag für Tag und Nacht für Nacht. Ja, es gab auch andere Tätigkeiten; man konnte die Planeten beobachten; man konnte nach Kometen suchen; man konnte philosophisch über die Natur des Universum spekulieren, usw. Aber die "echte" Astronomie damals war genau das: Die Position von Sternen messen. So viele wie möglich und so genau wie möglich. Und am Ende einen Katalog mit den Ergebnissen veröffentlichen.
Das klingt aus heutiger Sicht langweilig. Ist es aber nicht. Das ist auch heute noch enorm wichtig. Wir brauchen diese Kataloge. Sie sind immer noch die Grundlage der Astronomie. Ich hab in den Folgen 370 und 395 schon genauer erklärt, warum das so wichtig ist. Kurz gesagt: Was auch immer wir wissen wollen - wie alt ein Stern ist, wie heiß er ist, wie weit er entfernt ist, ob er von Planeten umkreist wird oder nicht, und so weiter - was auch immer wir wissen wollen: Wir müssen zuerst wissen, wo sich der Stern am Himmel befindet und wie hell er ist.
Sternkataloge hat man daher von Anfang an erstellt. Zuerst hat man die Sterne einfach "so", mit freiem Auge beobachtet und die entsprechenden Daten so gut wie möglich geschätzt. Später hat man Hilfsmittel benutzt, Instrumente aus Stein oder Holz um die Höhe der Sterne über dem Horizont zu messen und ihre Bewegung verfolgen zu können. Dann kamen die Teleskope, die die Beobachtung einfacher machten - aber auch sehr viel mehr Sterne sichtbar: Noch mehr Material für noch mehr Beobachtungen…
In der heutigen Folge der Sternengeschichten möchte ich mich einem ganz speziellen Katalog widmen, der im 19. Jahrhundert und darüber hinaus von enormer Bedeutung für die Astronomie war. Es geht um die "Bonner Durchmusterung", die - wie der Name andeutet - an der Sternwarten von Bonn in Deutschland erstellt wurde. Und zwar von Friedrich Wilhelm August Argelander. Er wurde am 22. März 1799 in Klaipėda geboren. Das liegt heute in Litauen; war damals aber Teil von Ostpreußen und Argelanders Geburtsstadt trug den deutschen Namen "Memel". Er begann ein Studium an der Universität Königsberg; eigentlich um dort Wirtschaft zu studieren. Zu der Zeit hielt dort aber der große Astronom Friedrich Wilhelm Bessel Vorlesungen und die begeisterten Argelander so, dass er auf Astronomie umstieg. Nach dem Studium arbeitete er zuerst an der finnischen Sternwarte in Turku; später wurde er Professor an der Universität Helsinki. In seiner Zeit in Finnland beschäftigte sich Argelander vor allem mit der Messung von Helligkeiten der Sterne und mit Untersuchungen zu ihrer Bewegung. 1836 aber beschloss Preußen, eine neue Sternwarte in Bonn zu bauen. Und Argelander sollte ihr erster Direktor werden, was ein Jahr später auch genau so passierte. Es hat dann aber noch bis 1845 gedauert, bis das Observatorium fertig war.
Damals gab es natürlich schon Sternkarten und -kataloge. Argelander selbst hatte sich immer wieder damit beschäftigt und Daten gesammelt. Aber wie das so ist mit solchen Projekten: Man verliert leicht den Überblick. Sterne schauen ja nur wie helle Punkte am Himmel aus; einer wie der andere. Und bei so VIELEN Punkten, macht man leicht mal Fehler. Manche Sterne, die man im Teleskop sehen konnten, fehlten in den Karten; manche waren in der Karte, obwohl es sie am Himmel gar nicht gab. Unterschiedliche Kataloge machten unterschiedliche Angaben. Und je besser die Teleskope wurden, desto mehr Sterne konnte man sehen - und wenn die neuen nicht bald in den Katalogen landeten, dann war das Potenzial für Verwechslungen und Fehler groß. Mitte des 19. Jahrhunderts brauchte es dringend einen neuen und besseren Katalog. Nicht nur der Sterne wegen: 1801 hatte man den ersten Asteroid im Sonnensystem entdeckt; in den nächsten Jahrzehnten einen ganzen Schwung mehr dieser Himmelskörper. Im Gegensatz zu Kometen schauen Asteroiden im Teleskop aber auch nur aus wie helle Punkt. Anders gesagt: Sie sehen aus wie Sterne und wenn man sie beobachten und entdecken will, schafft das natürlich Probleme. Nur wenn man ganz genau weiß, wo am Himmel überall die Sterne sind, kann es einem auffallen, dass da ein weiterer Lichtpunkt ist, der nicht dazu passt und der kein Stern, sondern ein Asteroid ist.
Es gab noch jede Menge andere Gründe, einen neuen Katalog zu erstellen und Argelander nahm sich vor, einen Katalog zu machen, der nicht nur umfangreicher war als die bisherigen, sondern auch genauer und vor allem ohne Fehler. Dazu musste er sich aber erst einmal ein entsprechendes Verfahren überlegen. Wenn man so des Nachts in der Sternwarte sitzt und durchs Teleskop schaut, sollte es ja dunkel sein. Nur wenn die Augen völlig an die Dunkelheit angepasst sind, kann man auch noch die schwachen Sterne am Himmel erkennen. Wenn man aber gleichzeitig die Position der Sterne im Teleskop mit denen von Sternen auf einer Sternkarte vergleichen muss, wird es schwierig. Dann braucht man Licht und wenn man ständig von Hell nach dunkel wechselt, sieht man nichts mehr. Es ist auch problematisch, wenn man immer wieder zum Himmel schaut, dann den Blick wieder vom Teleskop löst, wieder durch schaut, und so weiter. Auch da kommt es leicht zu Verwechslungen; man übersieht Sterne, die man eigentlich notieren sollte oder trägt andere doppelt in die Liste ein. Die bisherigen Methoden - so Argelander - waren nicht ausreichend für einen wirklich GUTEN Katalog.
Nach viel probieren sah seine Methode am Ende dann so aus: Beobachtet wird an der Sternwarte Bonn, mit einem vergleichsweise kleinem Teleskop. Das von Joseph von Fraunhofer hergestellte Instrument hat nur eine Öffnung von 7,8 Zentimeter - aber ein 6 Grad großes Gesichtsfeld. Damit würde man 12 Vollmonde nebeneinander am Himmel im Teleskop sehen können - oder eben einen entsprechend großen Ausschnitt des Sternenhimmels. Beobachtet werden sollten alle Sterne mit einer Deklination von -2 Grad bis +90 Grad. Die Deklination ist eine der beiden Koordinaten die man am Himmel braucht, um die Position eines Sterns anzugeben. Sie ist am Himmel das, was auf der Erde die geografische Breite ist. Ein Stern mit einer Deklination von +90 Grad würde genau im Himmelsnordpol stehen, einer mit -90 Grad entsprechend am Himmelssüdpol und bei 0 Grad ist der Himmelsäquator; also der an den Himmel projizierte Äquator der Erde. Anders gesagt: Argelander wollte die gesamte nördliche Hälfte des Sternenhimmels kartografieren und einen kleinen Teil des südlichen. Dabei sollten alle Sterne bis zur 9 Größenklasse katalogisiert werden. Also nicht nur die, die man ohne Teleskop sehen kann - das sind grob die Sterne von erster bis zur sechsten Größenklasse - sondern auch die, die noch ein bisschen schwächer leuchten. Der konkrete Beobachtungsablauf funktionierte dann so: Eine Person saß - oder besser gesagt: lag halbwegs bequem - unter dem Teleskop. Sie hatte ihr Auge immer am Objektiv und blickte auf die Sterne. Im Teleskop war eine Glasplatte mit Markierungen eingebaut. Einmal waagrechte Striche, um direkt die Deklination ablesen zu können, auf 6 Bogensekunden genau, also mit einer Genauigkeit von 0,0016 Grad. Es braucht aber noch eine zweite Koordinate, die Rektaszension. Die wird in der Astronomie in Stunden gemessen. Sie entspricht der geografischen Länge auf der Erde. Vereinfacht gesagt kann man sich das so vorstellen: Der Sternenhimmel dreht sich - scheinbar, weil sich ja die Erde um ihre Achse dreht - in 24 Stunden einmal komplett herum. Markiert man die Position eines Sterns zu einem bestimmten Zeitpunkt, dann wird er 24 Stunden später wieder an diesem Punkt sein (wie gesagt, das ist eine vereinfachte Darstellung; ich hab das in Folge 307 genauer erklärt). Man hat nun einen bestimmten Punkt am Himmel ausgewählt - den Frühlingspunkt, also der Punkt am Himmel, in dem die Sonne genau zu Frühlingsanfang zu finden ist - und misst die Rektaszension von dort aus (so wie man auf der Erde die geografische Länge von Greenwich in London aus misst). Der Frühlingspunkt dreht sich mit dem Himmel mit, darum bleibt die Rektaszension eines Sterns gleich. In der Praxis beobachtet man den Sternenhimmel in einem Teleskop, das fix montiert ist. Man sieht darin also, wie die Sterne sich mit der Drehung des Himmels bewegen. Sobald sie eine bestimmte Grenze überschreiten - Argelander hatte dazu eine vertikale Linie auf der Glasplatte in seinem Teleskop markiert - schreibt man den exakten Zeitpunkt auf. Aus dieser Zeit kann man später berechnen, welche Rektaszension der Stern hat.
Die eine Person, die unter dem Teleskop liegt, tut also nichts anders, als die durch das Blickfeld ziehenden Sterne zu beobachten. Sobald ein Stern die Vertikale Linie passiert, ruft sie laut die von ihr geschätzte Helligkeit in den Raum. Dort sitzt eine zweite Person, die ständig eine astronomische Uhr im Blick hat. Sie schreibt die Uhrzeit und die Helligkeit in eine Liste während die erste Person die Deklination notiert (ohne dabei den Blick vom Himmel zu lösen). Das kann durchaus stressig werden; bei Argelanders Beobachtungen mussten manchmal bis zu 30 Sterne pro Minute notiert werden. Sicherheitshalber machte man deshalb immer zwei Durchläufe und nur dort, wo beide übereinstimmten, nahm man die Daten in den Katalog auf. Die beobachtenden Personen waren auch meistens nur zwischen einer und eineinhalb Stunden bei der Arbeit. Während ein frisches Team die Arbeit weiterführte, wurden die gerade gemachten Beobachtungen sofort verglichen und nach Unstimmigkeiten gesucht, solange man noch alles was man gesehen hatte, frisch im Gedächtnis war.
Argelander selbst übernahm vor allem die Organisation des ganzen; die Beobachtungen wurden hauptsächlich von seinen Assistenten Eduard Schönfeld und Adalbert Krüger durchgeführt. Das Projekt startete am 25. Februar 1852 und die letzten Beobachtungen wurden am 27. März 1859 gemacht. In dieser Zeit hatte man 324.198 Sterne vermessen. Bis der Katalog fertig war, dauerte es aber noch. Der erste Teil konnte gleich 1859 veröffentlicht werden; die Teile 2 und 3 folgten 1861 und 1862. Damit war der beste, umfangreichste und genaueste Sternenkatalog der damaligen Zeit fertig. Er wurde schnell unter dem Namen "Bonner Durchmusterung" bekannt. Heute gibt es natürlich wesentlich bessere Kataloge; das Weltraumteleskop GAIA hat 2018 eine Datenbank mit Informationen über 1,7 Milliarden Sterne veröffentlicht. Aber für das späte 19. Jahrhundert war die Bonner Durchmusterung absolut hervorragend. Und ihre Spuren findet man heute noch: Zum Beispiel in der Bezeichnung mancher Sterne. Viele, die keinen prominenten Namen haben, werden manchmal immer noch mit ihrer Katalognummer aus der Bonner Durchmusterung klassifiziert. Zum Beispiel "BD+19°2777": Das ist der 2777te Stern im Katalog in der Zone am Himmel, die zwischen 19 und 20 Grad Deklination liegt. In dem Fall hat der Stern übrigens einen prominenten Namen, es handelt sich um Arcturus, im Sternbild Bärenhüter.
Die Bonner Durchmusterung wurde bald nach ihrer Fertigstellung erweitert. Eduard Schönfeld, der nach Argelanders Tod im Jahr 1875 selbst Direktor der Sternwarte in Bonn wurde, katalogisierte bis 1881 immerhin 133.659 Sterne am Südhimmel; noch ein bisschen später wurde - diesmal unabhängig von Bonn - die "Cape Photographic Durchmusterung" für den Südhimmel von Südafrika aus durchgeführt. Diesmal schon fotografisch und man schaffte es, knapp eine halbe Million Sterne in den Katalog aufzunehmen. Gleichzeitig machten sich Astronomen der Argentinischen Nationalsternwarte daran, den kompletten südlichen Himmel auf die gleiche Weise wie Argelander zu katalogisieren und das Resultat war die "Cordoba Durchmusterung", die 1930 mehr als 600.000 Sterne umfasste.
Heute macht man solche Katalogprojekte mit Weltraumteleskopen; die erforderliche Genauigkeit ist so groß geworden, dass es von der Erde aus nicht mehr vernünftig machbar ist. Aber die alten Daten haben immer noch ihren Wert; oft braucht man alte Informationen um die neuen besser einordnen zu können. Bonn mag nicht mehr die Hauptstadt von Deutschland sein. In der Astronomie ist der Name der Stadt aber immer noch bestens bekannt.

Apr 30, 2021 • 14min
Sternengeschichten Folge 440: Die Gravitationskonstante
Hinter dem Komma wird es düster
Sternengeschichten Folge 440: Die Gravitationskonstante
Ohne Gravitation geht nichts im Universum. Vor allem in der Astronomie, wo es ja meistens um sehr massereiche Objekte wie Sterne oder Planeten geht, kommt man ohne Gravitation nicht aus. Wenn man das Universum in seiner Gesamtheit verstehen will, braucht man die Gravitation. Man braucht sie auch, wenn man alles andere verstehen will - immerhin ist die Gravitation eine der vier fundamentalen Kräfte der Natur. Und wenn man wissen will, wie eine Kraft funktioniert, dann muss man natürlich auch wissen, wie stark sie ist.
Wir alle haben in der Schule von Newtons Gravitationsgesetz gehört. Im 17. Jahrhundert hat Isaac Newton festgestellt, dass die Gravitationskraft zwischen zwei Objekten proportional zu den Massen der beiden Objekte ist und indirekt proportional zum Quadrat ihres Abstandes. Aber wir wollen ja wissen, wie stark die Kraft genau ist. Das mit dem "proportional" heißt in dem Fall ja nur: Wenn die Masse der Objekte größer wird, wird die Gravitationskraft im gleichen Ausmaß größer. Und wenn der Abstand größer wird, dann sinkt die Kraft und zwar nicht im gleichen Ausmaß, sondern schneller (weil sie ja zum Quadrat des Abstands proportional ist). Das zu wissen ist gut, wenn man prinzipiell verstehen will, wie die Gravitationskraft funktioniert. Aber wenn man konkret berechnen will, wie stark die Kraft ist - zum Beispiel weil man wissen will, wie sich die Himmelskörper bewegen und wohin sie sich bewegen - dann reicht das "proportional" nicht. Deswegen findet man in Newtons Gravitationsgesetz auch noch eine Zahl, eine "Proportionalitätskonstante". Die exakte Formel lautet: Gravitationskraft ist gleich Masse eins mal Masse zwei, geteilt durch den Abstand zum Quadrat und das ganze nochmal multipliziert mit G.
Womit wir jetzt beim Thema dieser Folge sind: G. Das ist die Gravitationskonstante. Es ist eine Naturkonstante und sie sagt uns, wie stark die Gravitationskraft ist. Ohne den genauen Zahlenwert von G zu kennen, können wir keine Gravitationskräfte zwischen Objekten berechnen. Das gilt übrigens nicht nur für die Formel von Isaac Newton. Seit 1915 haben wir ja eine neue, bessere Beschreibung der Gravitation von Albert Einstein, die allgemeine Relativitätstheorie. Und auch in diesen Formeln finden wir G. Was auch sonst; diese Zahl muss immer auftauchen, wenn es um Gravitation geht.
Aber schauen wir nochmal zurück ins 17. Jahrhundert, zu Isaac Newton. Als er damals seine Formel zur Gravitation aufgestellt hat, war ihm natürlich klar, dass er dafür die Zahl braucht, mit der man die Stärke der Gravitation angibt. Er konnte sie damals aber nicht bestimmen; es gab keine Messgeräte dafür und er konnte sie nur schätzen. Das reicht in der Wissenschaft aber nicht, wenn es um Naturkonstanten geht, dann wollen wir die so exakt wie nur irgendwie möglich kennen. Das ist aber - gerade bei der Gravitationskonstante enorm schwer.
Der offiziell zur Verwendung empfohlene Wert - und ja, es gibt natürlich eine internationale Organisation die dafür zuständig ist, die jeweils besten bekannten Werte physikalischer Konstanten zu sammeln und zu bewerten, das "Committee on Data for Science and Technology (CODATA)" - dieser offizielle Wert für die Gravitationskonstante beträgt 6,67430 mal 10 hoch minus 11 Kubikmeter pro Kilogramm pro Sekunde zum Quadrat. Sicher ist man sich aber nur beim 6,674-Teil dieser Zahl, schon die nächsten Stellen sind nicht mehr genau, da könnte es auch mit 2 oder 4 weitergehen. Und das ist schon ein wenig unangenehm. Wenn man sich die anderen Naturkonstanten anschaut - den Wert der Lichtgeschwindigkeit, die Masse eines Elektrons, das Plancksche Wirkungsquantum, und so weiter - dann kennen wir sie entweder exakt oder zumindest sehr, sehr, sehr genau. Nur bei der Gravitation kriegen wir immer noch nicht mehr als zwei, drei sichere Stellen hinter dem Komma hin.
Das liegt natürlich einerseits daran, dass die Gravitation eine enorm schwache Kraft ist. Das klingt ein wenig widersprüchlich - ist es aber gar nicht. Ich kann problemlos ein bis zwei Meter hoch in die Luft springen (je nach körperlicher Leistungsfähigkeit), obwohl die GESAMTE ERDE mit der Gravitationskraft ihrer Masse an mir zieht und mich zurück halten will. Ich kann eine Postkarte mit einem simplen, kleinen Magnet an meinem Kühlschrank befestigen und sie wird nicht zu Boden fallen. Die elektromagnetische Kraft des winzigen Magnet reicht aus, um der Gravitationskraft eines ganzen Planeten dauerhaft entgegen zu wirken. Von allen vier fundamentalen Kräften der Natur - Elektromagnetismus, stark und schwache Kraft im Inneren der Atomkerne und Gravitation - ist die Gravitationskraft bei weitem und mit Abstand die schwächste Kraft. Sie spielt im Universum nur deswegen eine so dominierende Rolle, weil dort eben auch sehr viele sehr massereiche Objekte wie Sterne, Galaxien, und so weiter zu finden sind. Die Schwäche der Kraft ist also das einerseits, wenn es darum geht, warum die Gravitationskonstante so schwer zu messen ist. Das "andererseits" ist ein wenig komplexer. Aber dazu kommen wir später noch.
Schauen wir uns zuerst einmal an, wie man die Gravitationskonstante überhaupt messen kann. Man kann es natürlich indirekt anstellen: Ich kann mir anschauen, wie sich ein Himmelskörper - zum Beispiel die Erde - um einen anderen - etwa die Sonne - bewegt. Wenn ich dann noch die Masse von Erde und Sonne bestimme und ihren Abstand messe, habe ich eigentlich schon alles, was man braucht. Aus der Bewegung kann ich die Kraft ableiten, die zwischen beiden wirken muss und mit den anderen bekannten Größen kann man dann die Gravitationskonstante berechnen. Das Problem: Es ist absolut nicht einfach, die Masse von Erde und Sonne oder ihren Abstand so exakt zu messen, dass man damit auch die Gravitationskonstante in der gewünschten Exaktheit zu berechnen. Dazu braucht man kleinere Massen und kleinere Abstände, die sich besser vermessen lassen. Aber da ist dann natürlich auch die wirkende Gravitationskraft wesentlich schwächer.
Der erste, der sich an einer direkten Messung der Gravitationskonstante versucht hat, war der britische Wissenschaftler Henry Cavendisch. Er hat es 1798 mit einem selbst erfundenen Instrument probiert, einer Gravitationswaage. Die Idee dahinter ist eigentlich simpel: Man nimmt zwei schwere Kugel, bei Cavendish waren sie knapp 1,5 Kilogramm schwer. Diese Kugeln sind verbunden, ein bisschen so wie eine Hantel und an einem Draht aufgehängt, so dass sich die ganze Konstruktion am Draht hängend drehen kann. Dann nimmt man zwei andere und schwerere Kugeln, die von außen und ein bisschen seitlich an die aufgehängten Kugeln herangeschoben werden können. Zwischen den großen und den kleinen Kugeln wirkt nun - wie zwischen allen anderen Objekten in diesem Universum eine Gravitationskraft. Die großen Kugeln ziehen die kleinen Kugeln an und verdrehen die Hantel ein kleines bisschen. Diese Verdrehung kann man messen und aus der Stärke der Verdrehung folgt - sofern man die Massen der Kugeln und ihren Abstand kennt - die Gravitationskonstante.
Man kann sich vorstellen, wie knifflig es ist, so ein Experiment tatsächlich auszuführen. In der Theorie mag das ja alles gut funktionieren. In der Praxis aber nicht. Den bevor man anfangen kann, muss die Kugelhantel ja VÖLLIG ruhig an ihrem Draht hängen. Ein winziger Luftzug würde schon reichen, sie in Schwingung zu versetzen. Wenn ein paar hundert Meter weit weg ein Auto vorbei fährt und den Boden minimal erschüttert, würde der Draht zu schwingen anfangen. Und so weiter. Gut, mit Autos hatte Cavendish damals kein Problem. Aber auch ein vorbeilaufender Mensch, irgendwas das zu Boden fällt oder einfach nur jemand, der neben dem Experiment steht: All das würde die Messung enorm schwierig machen bzw. unmöglich. Cavendish hat den ganzen Aufbau daher in eine Kiste gepackt. Die Kiste hat er in einen Schuppen gestellt. Alles wurde verschlossen und dann hat er erstmal gewartet, bis sich die Kugeln ausreichend still verhalten haben. Beobachtet hat er alles nur von außen und aus großer Entfernung. In der Kiste und in der Wand des Schuppens waren winzige Löcher und durch die hat Cavendish mit einem Teleskop sein Experiment kontrolliert. Der aus seiner Messung berechnete Wert der Gravitationskonstante betrug 6,74 mal 10 hoch minus 11 Kubikmeter pro Kilogramm pro Sekunde zum Quadrat. Das ist knapp ein Prozent Abweichung vom heute empfohlenen Wert. 1 Prozent Verbesserung in mehr als 200 Jahren! Wieso haben wir nicht mehr geschafft?
Das liegt nicht daran, dass wir es nicht probiert hätten. Natürlich gab es in der Zeit seit damals immer wieder neue Messungen. Am Messprinzip hat sich seit Cavendishs Zeit wenig geändert. Es geht immer noch darum, den Effekt zu messen, den zwei Massen aufeinander haben. Natürlich hat man die Methode schon ein wenig verbessert. Aber die Resultate blieben deprimierend ungenau. Verschiedene Experimente haben im Laufe der Zeit unterschiedliche Werte geliefert. Das ist eigentlich nicht ungewöhnlich in der Wissenschaft, aber man erwartet eigentlich, dass man sich immer genauer an den korrekten Wert herantastet. Bei der Gravitationskonstante kriegt man aber Werte, die nicht einmal innerhalb der Fehlergrenzen der Messung übereinstimmen. Man hat es mittlerweile dann auch mal mit komplett anderen Methoden probiert: Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, geht es dabei darum, die Bewegung von Atomen in der Nähe einer mehr als 500 Kilogramm schweren Testmasse möglichst genau zu messen. Auch daraus kann man dann die Gravitationskonstante bestimmen und auch mit dieser komplett anderen Methode, die nichts mit den üblichen Gravitationswaagen zu tun hat, hat man Werte bekommen, die nicht mit den anderen übereinstimmen.
Womit wir jetzt beim vorhin erwähnten "andererseits" wären. Einerseits ist es deswegen so schwer, die Gravitationskonstante zu bestimmen, weil die Gravitation so eine enorm schwache Kraft ist. Andererseits klappt es aber vielleicht auch deswegen nicht, weil wir irgendwas grundlegendes noch nicht wirklich verstanden haben! Wir wissen ja, dass die Gravitation quasi das schwarze Schaf in der Physik ist. Die anderen Kräfte lassen sich alle "quantifizieren", also in einer quantemechanische Beschreibung formulieren und in gewissen Ausmaß auch vereinheitlichen, also zusammenführen und als unterschiedliche Aspekte einer noch fundamentaleren Kraft beschreiben. Die Gravitation aber passt überhaupt nicht mit den restlichen Kräften zusammen. Einsteins Beschreibung der Gravitation als Krümmung der Raumzeit liefert zwar extrem genaue Vorhersagen die in den letzten 100 Jahren immer und immer wieder im Experiment und in Beobachtungen bestätigt worden sind. Ebenso wie die Aussagen der Quantenmechanik. Aber eigentlich sollte es möglich sein, beide Beschreibungen der Natur irgendwie zu kombinieren. Haben wir aber nicht hingekriegt, trotzdem wir es seit Jahrzehnten intensiv versuchen. Irgendwas haben wir bei der Gravitation also nicht nicht verstanden und damit natürlich auch bei der Gravitationskonstante. Vielleicht liegt es wirklich nur daran, dass wir sehr viel genauere Messungen brauchen. Vielleicht ist es aber auch grundlegender? Vielleicht ist die Gravitationskonstante gar nicht konstant? Es gibt ja immer wieder seriöse wissenschaftliche Hypothesen, die davon ausgehen, dass sich auch Natur"konstanten" im Laufe der Zeit ändern können. Entsprechende Beobachtungen von diversen Phänomenen im Universum wo das auffallen würde haben aber noch keine eindeutigen Hinweise geliefert. Wir können ja in der Astronomie auch in der Zeit zurück schauen; wenn wir zum Beispiel eine Supernova beobachten, deren Licht 10 Milliarden Jahre bis zu uns gebraucht hat, dann hat sie auch 10 Milliarden Jahre in der Vergangenheit stattgefunden. Wenn die Naturkonstanten damals anders waren, könnten wir das merken, wenn wir das Licht der Supernova analysieren. Haben wir bis jetzt aber nicht gemerkt… Aber vielleicht müssen wir auch hier noch genauer schauen.
Bis dahin wird uns nichts weiter übrig bleiben, als noch genauere Messungen anzustellen. 2021 hat man zum Beispiel die Gravitationskraft messen können, die zwischen zwei winzigen Kugeln wirkt, die nur wenig mehr als 90 Millimeter groß waren. Die Messung war noch viel ungenauer als die anderen; aber das war in dem Fall zu erwarten. Es ging hier vor allem darum zu zeigen, dass es überhaupt möglich ist, so eine enorm schwache Gravitationskraft überhaupt messen zu können. In Zukunft geht das vielleicht genauer und wenn wir in der Lage sind, Gravitationskräfte auch auf so kleinen Skalen exakter zu messen, finden wir vielleicht auch einen Hinweis darauf, was das Problem an der Sache ist. Es ist auf jeden Fall kein akzeptabler Zustand, dass wir die Gravitationskonstante seit mehr als 200 Jahren nicht vernünftig messen können.

Apr 23, 2021 • 18min
Sternengeschichten Folge 439: Nancy Roman
Die Mutter von Hubble
Sternengeschichten Folge 439: Nancy Roman
Am 24. April 1990 flog das Weltraumteleskop Hubble an Bord des Space Shuttles Discorvery ins All. Darüber habe ich schon in Folge 389 der Sternengeschichten ausführlich gesprochen. Es hat lange gedauert, bis aus der Idee eines Observatoriums im Weltraum die Realität des großen Hubble-Teleskops geworden ist. Den ersten konkreten Vorschlag für ein optisches Teleskop im All gab es immerhin schon 1946. Heute soll es aber nicht um das Hubble-Teleskop gehen, sondern um eine Astronomin, die maßgeblich dazu beigetragen hat, es zu realisieren. Und darüber hinaus noch sehr viel mehr für die Astronomie im Weltraum gemacht hat.
Nancy Grace Roman wurde am 16. Mai 1925 geboren, in Nashville, Tennesse. Da hat sie aber nur kurz gelebt; sie zog in ihrer Kindheit oft um. Ihr Vater war ein Geophysiker, der immer wieder an anderen Universitäten arbeitete; ihre Mutter war eine Lehrerin. Beide brachten Nancy schon früh mit Naturwissenschaft in Kontakt. Sie war vor allem vom Himmel fasziniert; schon als Vierjährige soll ihr Lieblingsmotiv beim Malen der Mond gewesen sein. Vor allem Nancys Mutter hat das Interesse ihrer Tochter für den Nachthimmel geweckt; in den dunklen und klaren Nächten beobachteten sie gemeinsam die Sternbilder und die damals sichtbaren Polarlichter - etwas, was an das sich Nancy Roman auch Jahrzehnte später immer noch gerne erinnerte. Mit 11 Jahren organisierte sie gemeinsam mit ihre Schulfreunden einen astronomischen Verein und mit 13 Jahren war sie sich sicher, dass sie auf jeden Fall Astronomin werden wollte. Sie besaß allerdings kein Teleskop; einerseits aus finanziellen Gründen, andererseits aber auch, weil sie, wie sie später selbst sagte, immer sehr viel daran interessiert war, die Wissenschaft der Astronomie zu verstehen als nur die Himmelskörper zu betrachten.
Nancy Romans Jugend und Schulzeit war aber natürlich und leider auch von Vorurteilen geprägt. Man sah es damals als absolut unpassend für Mädchen an, eine Karriere in den Naturwissenschaften anzustreben und Nancy wurde immer wieder dringend geraten, ihre Pläne nicht weiter zu verfolgen. Als sie die Beratungslehrerin in ihrer Highschool fragte, ob sie anstatt weiterer Lateinstunden lieber mehr Mathematikunterricht haben könnte, wurde sie entgeistert gefragt, welches Mädchen denn Mathematik gegenüber Latein bevorzugen würde.
Roman ließ sich aber nicht beirren und begann ein Studium am Swarthmore College in Pennsylvania. Auch dort traf sie auch Schwierigkeiten. Die Dekanin versuchte alle Mädchen aktiv davon abzubringen, sich mit Naturwissenschaft zu beschäftigt; andere Professoren sagten ihr, sie solle das Studium doch am besten abbrechen und einfach heiraten.
Nancy Roman aber machte weiter. Sie wechselte zur Universität Chicago, um dort ihren Doktortitel in Astronomie zu machen. Dort arbeitete Astronomie-Professor William Wilson Morgan, der sie gleich beim ersten Aufeinandertreffen aufforderte, doch bitte in seine Wohnung zu gehen um sich dort um seine kranke Frau zu kümmern. Auch an der Sternwarte der Uni Chicago hielt man nicht viel Frauen: "Die heiraten ja doch nur und verschwinden dann", war die allgemeine Meinung, die Roman immer wieder zu hören bekam. Sie ließ sich nicht unterkriegen und bat drei der Professoren um Projekte, an denen sie arbeiten könne. Sie entschied sich für die Aufgabe, bei der sie selbst auch am Teleskop beobachten konnte. Es ging dabei um die Untersuchung der Sterne im Großen Wagen; die einen sogenannten "offenen Sternhaufen" bilden. Roman sollte mit ihren Beobachtungen dazu beitragen, die Entfernung des Haufens zu bestimmen. Aus diesem Projekt entwickelte sich ihre Doktorarbeit und William Morgan wurde ihr offizieller Betreuer. Der aber an Betreuung kein wirkliches Interesse zu haben schien. Er sprach oft monatelang nicht mit ihr, wie Roman in ihrer Autobiografie berichtet; und in den Sitzungen der astronomischen Fakultät konnte er daher auch nichts über Nancy Romans Arbeit berichten - was dort natürlich den Eindruck erweckte, sie würde gar nicht arbeiten. Die Unterstützung, die eigentlich von ihrem Betreuer kommen sollte, holte sich Roman von Astronomen, die die Sternwarte besuchten.
William Morgan hat es Nancy Roman nicht leicht gemacht, ihr Doktoratsstudium zu beenden. Von nachlässiger bis nichtvorhandender Betreuung bis hin zu körperlicher Belästigung musste Roman alles erleben, was Frauen in der Welt der Naturwissenschaft damals so gut wie immer erleben musste. Aber trotz allem erhielt sie 1949 ihren Doktortitel in Astronomie. Einen Job zu finden war nicht einfach. Morgan wollte sie gerne an der Sternwarte von Chicago halten; immerhin wurden Frauen damals deutlich schlechter bezahlt als Männer und Roman konnte viel billiger angestellt werden. Er hielt ihr auch alle Informationen über anderweitige Jobangebote vor und Roman blieb vorerst. In den kommenden Jahren machte sie dort allerdings ihre wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen. Sie konzentrierte sich vor allem auf die Beobachtung der hellen Sterne in der Milchstraße. Und fand heraus, dass man sie anhand ihrer chemischen Zusammensetzung in zwei grundlegende Gruppen einteilen konnte. Einmal Sterne, die neben Wasserstoff und Helium kaum andere chemische Elemente enthalten und dann Sterne, bei denen der Anteil dieser anderen Elemente vergleichsweise hoch ist. Die zweite Gruppe, so fand Roman heraus, bewegte sich vor allem in annähernd kreisförmigen Bahnen um das Zentrum der Milchstraße und vor allem in der Ebene der Scheibe der Milchstraße. Die andere Gruppe an Sternen hatte deutlich geneigtere und langgestrecktere Umlaufbahnen. Dass es Sterne mit diesem unterschiedlichen Verhalten gibt, war auch vorher schon bekannt. Aber Roman konnte dieses Wissen nicht nur erweitern und bestätigen. Da sie sich auf die Sterne konzentrierte, die auch ohne Teleskop mit freiem Auge sichtbar sind, konnte sie das erste Mal zeigen, dass es diese Unterschiede auch bei den "gewöhnlichen" Sternen gibt und dass sie sich nicht nur unterschiedlich verhalten sondern - im Gegensatz zu dem was man damals noch dachte - auch unterschiedlich alt sein müssen. Roman konnte als zeigen, dass die Bewegung der Sterne in der Milchstraße unter anderem von ihrem Alter abhängt, was zur damaligen Zeit die ersten konkreten Hinweise auf die Entstehung der Milchstraße lieferte. Ihre Arbeit über dieses Thema, die sie 1950 veröffentlichte, wurde später vom Astrophysical Journal zu den 100 wichtigsten Arbeiten der letzten 100 Jahre gezählt.
Aber auch als Astronomin die wichtige Forschungsarbeit leistete, hatte Roman immer noch mit den Vorurteilen zu kämpfen. Sie wurde zum Beispiel nicht zu einer Konferenz eingeladen, auf der exakt die Themen ihrer Forschung über die Sterne der Galaxie diskutiert wurden. William Morgan, der auf dem gleichen Gebiet arbeitete, entschied sich, Romans Ergebnisse lieber selbst zu präsentieren… Aber genug von Männern, die Frauen keine wissenschaftlichen Leistungen zutrauen oder gönnen wollen. Es geht ja um die Arbeit von Nancy Roman und die fängt jetzt erst so richtig an. Sie beobachtete weiter die Sterne der Milchstraße, erforschte ihre Eigenschaften und stieß dabei auf ein Exemplar mit der Bezeichnung AG Draconis. Als Roman ihn im Zuge ihrer Arbeit beobachtete, fiel ihr auf, dass er anders leuchtete, als man damals dachte. Sie schrieb eine kurze Notiz für eine Fachzeitschrift, die 1953 veröffentlicht wurde. Keine große Sache aus astronomischer Sicht - aber eine sehr große Sache für Nancy Romans Karriere.
Zuerst aber einmal wechselte von Chicago an das United States Naval Research Laboratory und begann sich dort im Jahr 1954 mit dem gerade erst entstehenden Gebiet der Radioastronomie zu beschäftigen. Auch hier erstellte sie Karten der Milchstraße im Radiolicht, kam aber auch das erste Mal in Kontakt mit dem noch jüngeren Feld der Raumfahrt. Die 1950er Jahre waren immerhin die Zeit, als man das erste Mal ernsthaft versuchte, Satelliten ins All zu schießen und auch das Naval Research Laboratory war daran beteiligt. Ein aus Romans Sicht enorm wichtiges Ereignis fand im Jahr 1956 statt. An der Byurakan-Sternwarte in Armenien fand eine astronomische Konferenz statt und der dortige Direktor hatte zufällig ihre kurze Arbeit über AG Draconis gelesen, war faszinieret davon und Roman kurzerhand eingeladen. Armenien war damals noch Teil der Sowjetunion und die Welt mitten im kalten Krieg. Das eine Zivilistin wie Roman einfach so aus den USA zum "Feind" in die Sowjetunion reist, war ungewöhnlich und ist bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht vorgekommen. Nach ihrer Rückkehr begannen sich deswegen auch Medien und wissenschaftliche Einrichtungen für Roman zu interessieren; sie wurde zu diversen Vorträgen eingeladen, lernte Kolleginnen und Kollegen kennen und bekam endlich auch die Wertschätzung, die ihr wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeit längst zugestanden hätte.
Dann kam das Jahr 1958 und mit ihm die Gründung der NASA. Das Naval Research Laboratory steuerte einen Teil seiner Belegschaft für die wissenschaftliche Abteilung der Weltraumorganisation bei und Nancy Roman, jetzt durch ihre Armenienreise überall bekannt - wurde gefragt, ob sie jemanden kenne, der bei der NASA ein Programm für Weltraumastronomie gründen und leiten könne. Roman nahm das als Anlass, sich einfach selbst dafür zu bewerben und begann dort im Jahr 1959 ihren Job als Leiterein der Abteilung für Beobachtende Astronomie.
Sie selbst weist immer wieder auf das Glück hin, dass sie dank des seltsamen Sterns AG Draconis hatte. Heute wissen wir, dass es sich um einen veränderlichen Stern handelt; zwei Sterne eigentlich. Einen Riesenstern und einen weißen Zwerg, die sich umkreisen, aber so weit von der Erde entfernt sind, dass sie wie ein Stern aussehen. Schaut man aber ganz genau hin, dann scheinen sich die chemischen Eigenschaften dieses einen Sterns, der ja eigentlich zwei Sterne ist, zu verändern; je nachdem ob die beiden gerade hintereinander oder nebeneinander stehen. Die Veränderungen die Roman entdeckt hatte, zeigt AG Draconis aber nur alle 10 bis 15 Jahre für etwa 100 Tage. Roman hatte also Glück, gerade zum richtigen Zeitpunkt hingeschaut zu haben. Aber, und auch das sagt sie selbst explizit, so wichtig das Glück war: Es war auch wichtig, dass sie erkannte, dass da etwas ungewöhnliches und interessantes abläuft und dass sie die Gelegenheiten auch ergriffen hat, die ihr der glückliche Zufall brachte.
Jetzt jedenfalls war Roman bei der NASA angekommen. Das erste wichtige Projekt unter ihrer Leitung war OSO, das "Orbiting Solar Observatory". Zwischen 1962 und 1975 schickte die NASA neun Satelliten ins All, um die Sonne zu erforschen. Unter anderem auch in den Bereichen, die von der Erdoberfläche aus nicht beobachtbar sind, also zum Beispiel im Röntgen- und Ultraviolettlicht. Das lieferte wichtige Erkenntnisse über das Verhalten unseres Sterns, unter anderem auch über den Sonnenwind und seinen Einfluss auf die Erde. Mit den vier Weltraumteleskopen die im Rahmen der "Orbiting Astronomical Observatory"-Missionen zwischen 1966 und 1972 ins All gebracht wurden, konnte Roman die Bedeutung der Ultraviolettastronomie weiter ausbauen. Das erste Mal war es möglich, den Himmel in diesem Wellenlängebereich in guter Qualität zu beobachten. Von der Erdoberfläche aus ist das nicht möglich, da diese Strahlung zum größten Teil von der Atmosphäre blockiert wird. Wenn man aber verstehen will, wie Sterne funktionieren, muss man auch dieses Licht beobachten.
Mindestens genau so wichtig wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse war für die NASA aber auch das technische Wissen, dass sie während der Orbiting Astronomical Observatory Missionen erlangten. Es waren die ersten echten Weltraumteleskope und die Astronom:innen überall auf der Welt konnten aus erster Hand sehen, wie enorm effektiv es sein kann, ein Teleskop ins All zu bringen anstatt es von der Erde aus durch die störende Atmosphäre schauen zu lassen. Nancy Roman war seit 1971 intensiv damit beschäftigt, das schon lange existierende Projekt eines wirklich großen Weltraumteleskops real werden zu lassen. Sie stellte Gruppen zusammen, die verschiedene Missionen entwarfen; reiste durchs Land um finanzielle und politische Unterstützung zu gewinnen und konnte am Ende das fertig stellen, was die Grundlage für das heutige Hubble-Teleskop werden sollte.
Ende 1979 zog sie sich aber von der NASA zurück. Komplett in den Ruhestand gehen wollte sie aber noch nicht. Sie wollte nach all der Zeit im Wissenschaftsmanagement wieder zurück in die Forschung. Dazu musste sie ihr Wissen in Sachen Computerprogrammierung auffrischen, was sie tat und dafür noch einmal gemeinsam mit jungen Studierenden Vorlesungen an der Uni besuchte. In den kommenden Jahren arbeitet sie mit diesem neuen Wissen um Datenverarbeitung an der Erstellung aktueller astronomischer Kataloge. Und kehrte dann doch noch einmal zur NASA zurück: Von 1995 bis 1997 war sie Leiterin des Astronomischen Datenzentrums am Goddard Space Flight Center der NASA.
1997 ließ sie die Welt der NASA und der Universitäten aber endgültig hinter sich. Eine Zeit lang kümmerte sie sich noch als Beraterin um die Einrichtung des Space Telescope Science Institute, also der wissenschaftlichen Einrichtung die extra geschaffen wurde, um die Arbeit mit dem Hubble-Teleskop zu organiseren. Sie unterrichtete Schüler:innen und Student:innen und bildete Lehrer:innen aus. Ihren echten Ruhestand verbrachte sie damit, astronomische Lehrbücher vorzulesen, um auch blinden Menschen und Menschen mit Leseschwäche einen Zugang zur Astronomie zu ermöglichen.
Nancy Roman starb am 25. Dezember 2018, im Alter von 93 Jahren. Für ihre Arbeit an der Organisation des Hubble-Teleskops wird sie heute immer noch als "Mother of Hubble" bezeichnet. Ihr selbst war allerdings der 1978 ins All geflogene "International Ultraviolet Explorer" am wichtigsten. Diese Weltraumteleskop für den Ultraviolettbereich arbeitete bis 1996 und untersuchte die aktiven Kerne ferner Galaxien; Kometen im Sonnensystem, Sterne und die Zusammensetzung von Sternen; das Gas zwischen den Sternen und den Galaxien; kurz: Eigentlich alles, was aus Sicht der Astronomie interessant ist. Es war nur für fünf Jahre ausgelegt, hätte aber auch nach den 18 Jahren die es tatsächlich in Betrieb war, weiterbenutzt werden können. Man hat es nicht deaktiviert, weil es kaputt gegangen ist, sondern weil man kein Geld mehr für die Mission ausgeben wollte. Der "International Ultraviolet Explorer" war nicht nur extrem erfolgreich, sondern auch der direkte Vorläufer des Hubble-Teleskops. Roman war wirklich stolz darauf. Das Hubble-Teleskop, so ihre Ansicht, wäre so oder so gebaut worden. Wenn sie es nicht organisiert hätte, dann eben irgendwer anderes. Der "International Ultraviolet Explorer" aber war ihr Projekt und wenn sie nicht dafür gekämpft hätte, dann hätte es die Mission nicht gegeben.
Nancy Roman bekam schon zu Lebzeiten jede Menge Ehrungen. 1962 wurde sie vom Life Magazine zu den "100 wichtigsten jungen Menschen" gezählt. Sie bekam Ehrendoktortitel, Medaillen, wurde in wissenschaftliche Gemeinschaften aufgenommen. Man hat einen Asteroid nach ihr benannt. Im Jahr 2020 hat die NASA beschlossen, das Wide Field Infrared Survey Teleskope - ein Weltraumteleskop zur Erforschung extrasolarer Planeten und Kosmologie das gegen Ende der 2020er Jahre gestartet werden soll, in "Nancy Grace Roman Space Telescope" umzubenennen. Diese Ehre hat Roman nicht mehr erlebt. In ihrer Autobiografie schreibt sie aber, dass sie sowieso eine ganz andere Ehrung am spaßigsten fand: 2017 brachte LEGO ein Set mit dem Titel "Women of NASA" auf den Markt. Neben der Computerwissenschaftlerin Margaret Hamilton und den Astronautinnen Mae Jemison und Sally Ride konnte man dort auch Nanny Roman und ein kleines Hubble-Weltraumteleskop aus den Legosteinen bauen.
Nancy Romans Autobiographie

Apr 16, 2021 • 12min
Sternengeschichten Folge 438: Beta Pictoris
Staubiges Weltraumbild
Sternengeschichten Folge 438: Beta Pictoris
Beta Pictoris ist einer meiner Lieblingssterne. Und das nicht nur, weil ich selbst darüber viel geforscht habe. In der Geschichte der Astronomie hat dieser Stern immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Dort können wir fast die ganze Vielfalt untersuchen, die ein Sternensystem ausmacht. Aber fangen wir am besten mit den Grundlagen an.
Der Stern befindet sich 63,4 Lichtjahre entfernt. Er ist mit freiem Auge sichtbar, aber ein eher durchschnittlicher Stern - nicht sonderlich hell aber auch nicht so dunkel, dass man ihn ohne optische Hilfsmittel nicht sehen kann. Wer ihn beobachten möchte, kann das von Mitteleuropa aus allerdings nicht tun. Er befindet sich im "Maler", auf lateinisch "Pictor", einem Sternbild des Südhimmels. Beta Pictoris ist der zweithellste Stern dieses unscheinbaren Sternbilds und hat den eineinhalbfachen Radius der Sonne, die 1,7fache Masse und fast die neunfache Leuchtkraft unseres Sterns. Seine Oberflächentemperatur ist mit 7800 Grad Celsius um circa 2500 Grad heißer als die der Sonne. Es handelt sich um einen heißen, blau-weißlich leuchtenden Stern und er ist noch sehr jung. Sein Alter wird auf circa 23 Millionen Jahre geschätzt; im Gegensatz zu den 4,5 Milliarden Jahren die unsere Sonne alt ist, ist Beta Pictoris also quasi gerade erst entstanden.
Seinen ersten großen Auftritt auf der Bühne der Wissenschaft hatte der Stern 1984. Wir müssen aber ein Jahr davor anfangen; im Januar 1983. Da flog das Weltraumteleskop IRAS ins All. Seine Aufgabe war es, den Himmel das erste Mal komplett im Infrarotlicht zu beobachten. Das geht vom Erdboden aus nur schlecht, da dieser langwellige Anteil des Lichts von der Erdatmosphäre blockiert wird. Das Weltraumteleskop hatte Erfolg, machte jede Menge schöne Entdeckungen und fand etwas, was man noch nie zuvor gesehen hatte. Einen "Infrarotexzess", was ein wenig unspektakulär klingt, tatsächlich aber höchst beeindruckend ist.
Man weiß und wusste auch damals schon ziemlich gut, wie viel Licht bei bestimmten Wellenlänge ein Stern abstrahlen sollte. Das hängt im Wesentlichen von seiner Temperatur ab und kennt man sie bzw. kann man sie aus anderen Größen wie zum Beispiel der Helligkeit abschätzen, dann kann man berechnen, wie viel rotes Licht vom Stern kommen sollte, wie viel blaues Licht, und so weiter. Und natürlich auch wie viel Infrarotlicht man sehen sollte. Bei einigen Sternen entdeckte IRAS aber deutlich mehr Infrarotlicht, als vorhanden sein durfte. Der Grund dafür war schnell gefunden: Diese Sterne sind von einer Scheibe aus Staub umgeben. Der wird vom Licht des Sterns aufgeheizt und diese Wärme gibt der Staub in Form von Infrarotstrahlung wieder ab. Da wir aus der Entfernung die Scheibe aber nicht direkt sehen können, sehen wir Sternenlicht und Staubwärme überlagert und es sieht so aus, als würde der Stern Sachen machen, die er nicht machen sollte.
Den ersten Infrarotexzess und damit den ersten Hinweis auf eine Staubscheibe um einen Stern fand man bei Wega. Außerdem bei drei weiteren Sternen: Epsilon Eridani, Fomalhaut und Beta Pictoris. Dann, im November 1983, war die Mission von IRAS auch schon wieder vorbei; dem Teleskop ging das Kühlmittel aus. Aber nun versuchte man, von der Erde aus mehr Daten zu kriegen. Vielleicht, so die Hoffnung, könnte man mit der richtigen Technik die Staubscheiben rund um die Sterne ja auch im normalen Licht und ohne Infrarotteleskop sichtbar machen. Die amerikanischen Astronomen Bradford Smith und Richard Terrile probierten das natürlich zuerst bei der Wega. Ohne Erfolg. Ebenso bei Epsilon Eridani und Fomalhaut. Beta Pictoris konnte sie nicht untersuchen, da sie dafür ein Teleskop auf der Südhalbkugel benutzen müssten. Das schafften sie erst Ende 1984, als sie eigentlich wegen ganz anderer Beobachtungen in Chile waren. Aber wenn man schon mal da ist, dann kann man ja auch den letzten Kandidaten nochmal kurz anschauen, dachten die beiden sich. Und hatten Erfolg! Auf ihrer Aufnahme war klar das Licht zu sehen, dass der Staub um Beta Pictoris reflektierte.
Das war an sich schon eine ziemlich beeindruckende Entdeckung. Denn 1984 hatte man noch keine Planeten anderer Sterne entdeckt; das ist ja erst 1995 gelungen. Man wusste damals also immer noch nicht, ob sich bei anderen Sternen überhaupt Planeten bilden können. Die Staubscheibe um Beta Pictoris war ein ziemlich guter Hinweis, dass das tatsächlich möglich ist. Denn der Staub muss ja irgendwo her kommen! Die Modelle zur Planetenentstehung sagen uns, dass jeder Stern nach seiner Geburt von einer Scheibe aus Gas und Staub umgeben ist, der sogenannten "protoplanetaren Scheibe". Aus ihr entstehen dann im Laufe der Zeit die Planeten. Das, was Beta Pictoris umgibt, ist aber KEINE solche Scheibe. Der Stern ist zwar jung, so eine protoplanetare Scheibe verschwindet aber schnell. Die Planetenbildung, sofern sie stattgefunden hat, muss schon weitestgehend abgeschlossen sein. Was aber dann noch übrig bleiben kann, ist eine sogenannte "Trümmerscheibe". Denn es bilden sich ja um einen Stern nicht NUR Planeten. Zuerst einmal entstehen aus dem Staub und dem Gas ein Haufen Asteroiden. Und daraus erst die Planeten. Dabei bleiben Asteroiden übrig, und die erzeugen ständig Staub, zum Beispiel durch Kollisionen.
Die Trümmerscheibe von Beta Pictoris war also ein Zeichen dafür, dass anderswo im Universum genau die gleichen Prozesse stattgefunden haben, die auch bei uns stattgefunden haben, als die Planeten des Sonnensystems entstanden sind. In den kommenden Jahren hat man sich Stern und Scheibe jetzt natürlich immer genauer angesehen. Und weitere Auffälligkeiten gefunden: Die Staubscheibe war ein wenig "klumpig"; sie war auch ein bisschen "verbogen" - alles Anzeichen, dass die Verteilung der Asteroiden dort nicht völlig regelmäßig ist. Und was beeinflusst die Verteilung von Asteroiden um einen Stern? Genau: Planeten! Auch in unserem Sonnensystem ist die gravitative Wirkung von Planeten wie Jupiter oder Neptun, die dafür sorgen, dass sich die Asteroiden in Asteroidengürteln angeordnet haben.
Man nun probiert zu berechnen, welche Eigenschaften ein Planet haben müsste, um die beobachteten Unregelmäßigkeiten in der Staubscheibe von Beta Pictoris zu erklären. Was übrigens auch das Thema war, über das ich selbst geforscht habe. Die Ergebnisse waren relativ übereinstimmend: Es braucht auf jeden Fall einen Planeten mit recht großer Masse, relativ nahe am Stern. Deutlich mehr Masse als Jupiter muss er haben, irgendwo um das 10fache herum. Darüber hinaus kann es gut sein, dass noch weitere Planeten dort existieren die sich weiter entfernt befinden.
Es war eigentlich nicht damit zurechnen, dass diese Vorhersage zeitnah bestätigt wird. Denn so jungen Sternen wie Beta Pictoris zeigen vergleichsweise große Helligkeitsschwankungen. Das macht es schwer bis unmöglich, die üblichen Methoden zur indirekten Suche nach Planeten zu verwenden, die alle darauf basieren, das Licht bzw. die Helligkeit von Sternen möglichst exakt zu messen. Noch schwieriger ist es aber, einen Planeten DIREKT zu sehen. Also direkt Sternenlicht im Teleskop einzufangen, das vom Planet reflektiert worden ist. Dazu muss man aber irgendwie das sehr viel hellere Sternenlicht ausblenden um überhaupt eine Chance haben, das schwache Leuchten des Planeten sehen zu können. Am besten funktioniert die Methode daher auch bei Planeten, die sich sehr, sehr, sehr weit von ihrem Stern entfernt befinden. Ab 2006 hat man immer wieder die Entdeckung des ersten direkt beobachteten extrasolaren Planeten verkündet und man kann heute noch darüber streiten, wem und wo das das erste Mal gelungen ist. Fest steht aber: Im November 2008 konnte auch bei Beta Pictoris ein Planet direkt gesehen werden. Das war überraschend, weil der Planet dem Stern sehr nahe ist. Aber die Beobachtung konnte bestätigt werden und in den kommenden Jahren wurde der Planet immer wieder fotografiert.
2018 konnte man dann sogar einen Film veröffentlichen, der die Bewegung des Planeten um seinen Stern herum zeigt. Natürlich als Zeitraffer, aber dennoch: Das erste Mal konnten wir von außen zuschauen, wie ein Planet einen anderen Stern umkreist! 2019 wurde dann auch noch ein zweiter Planet bei Beta Pictoris gefunden. So wie der erste ist auch er ungefähr 10 mal schwerer als Jupiter. Er ist aber viel näher dran am Stern: Der zuerst entdeckte Planet hat einen Abstand, der dem 9fachen Abstand zwischen Erde und Sonne entspricht; also ungefähr der Distanz, die der Saturn von der Sonne hat. Der 2019 entdeckte Planet befindet sich dagegen dort, wo sich in usnerem Sonnensystem der Asteroidengürtel zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter befindet. 2020 gelang es dann auch, BEIDE Planeten direkt zu beobachten - was gleich das nächste Rätsel lieferte. Beide Planeten sind ungefähr gleich schwer und groß. Der eine leuchtet aber sechs mal heller als der andere. Eigentlich sollte aber gelten, dass ein Planet umso heller leuchtet, je mehr Masse er hat. Denn es geht dabei nicht nur um das Licht, das der Planet reflektiert. Sondern auch um die Wärme, die der Himmelskörper aus sich selbst heraus abstrahlt. Die Beobachtungen bei Beta Pictoris wurden mit einem Infrarotteleskop gemacht und deswegen sieht man die Planeten auch im Licht ihrer eigenen Wärme leuchten. Je mehr Masse ein Planet hat, desto mehr Wärme sollte er speichern können und desto heller leuchten.
Dass das bei Beta Pictoris nicht der Fall ist, kann einerseits einfach heißen, dass wir die Massen der Planeten noch nicht genau genug bestimmt haben. Immerhin brauchen sie jeweils ein paar Jahre für eine Runde um den Stern und nur wenn wir ihre Umlaufbahn komplett beobachtet haben, können wir auch halbwegs genau die Masse abschätzen. Andererseits könnte es aber auch heißen, dass wir irgendwas bei der Entstehung der Planeten noch nicht so genau verstanden haben, wie wir dachten.
Beta Pictoris wird die Astronomie mit Sicherheit noch lange Zeit beschäftigen. Wir haben ziemlich sicher noch nicht alle Planeten entdeckt, die dort rumschwirren. Wir haben die Wechselwirkung zwischen den Planeten und der Trümmerscheibe noch nicht völlig verstanden. Es gibt noch jede Menge zu entdecken.

Apr 9, 2021 • 12min
Sternengeschichten Folge 437: Icarus und das Licht der fernsten Sterne
Ich seh, ich seh, was man eigentlich nicht sehen kann
Sternengeschichten Folge 437: Icarus und das Licht der fernsten Sterne
"Icarus" ist der Spitzname eines Sterns, der offiziell die Bezeichnung "MACS J1149 Lensed Star 1" trägt. Das klingt ein wenig unhandlich, ist aber tatsächlich relevant für die heutige Geschichte. Bleiben wir aber vorerst trotzdem noch bei "Icarus". Dieser Stern befindet sich nicht in unserer Nähe. Er befindet sich nicht einmal in der Milchstraße. Er gehört zu einer ganz anderen Galaxie, weit, weit draußen im Universum. Wir haben das Licht von Icarus das erste Mal im Jahr 2013 mit dem Spiegel eines Teleskops aufgefangen. Bis wir verstanden hatten, was da eigentlich abgeht, hat es aber noch 5 weitere Jahre gedauert. Das war allerdings nicht tragisch; es gab keinen Grund zur Eile. Immerhin war das Licht des Sterns zuvor schon mehr als 9 Milliarden Jahre lang durch das Universum unterwegs gewesen. Das bedeutet, dass es sich um ein EXTREM weit entferntes Objekt handelt. Übrigens bedeutet es nicht, dass der Stern 9 Milliarden Lichtjahre entfernt ist. Als das Licht, das wir 2013 gesehen haben, sich vor 9 Milliarden Jahren auf den Weg gemacht hatte, war das Universum entsprechend jünger, nämlich erst knapp 5 Milliarden Jahre alt. Und weil es sich seit dem Urknall beständig ausdehnt, war es früher auch noch kleiner; es war damals nicht einmal halb so groß wie es heute ist. Während das Licht von Icarus also durch den Kosmos strahlte, hat der sich ausgedehnt. Die Sonne und mit ihr die Erde gab es damals noch gar nicht, aber die Distanz zwischen dem Ort, an dem sie einmal entstehen sollte und Icarus wurde im Laufe der Zeit immer größer und größer. Es hat 9 Milliarden Jahren gedauert, bis es uns eingeholt hat und der Weg, den es dabei zurück gelegt hat ist demnach auch viel größer als 9 Milliarden Lichtjahre.
Das ist alles ein wenig knifflig, hat aber auch eigentlich nichts mit dem Thema zu tun. Die eigentlich relevante Frage lautet ja: Wie um Himmels Willen können wir einen EINZELNEN STERN sehen, der so absurd weit entfernt ist? Wir schaffen es gerade mal, ein paar Sterne in unserer Nachbargalaxie, der Andromeda, aufzulösen. Und die ist nur 2,5 Millionen Lichtjahre weit weg. Bei den entfernteren Galaxien haben wir keine Chance, irgendwelche Einzelobjekte zu sehen - wie ist uns das nun bei Icarus gelungen? Durch Zufall und dank Albert Einstein. Beziehungsweise durch seine Erkenntnisse über das Universum. Und immer noch durch Zufall. Jetzt kommen wir auch zurück zur offiziellen Bezeichnung von Icarus: MACS J1149 Lensed Star 1. Der erste Teil - MACS J1149 - ist die Bezeichnung eines Galaxienhaufens, beziehungsweise die Kurzversion, mit vollem Namen heißt er MACS J1149.5+2223. Der zweite Teil "Lensed Star 1" sagt uns, wie man den Stern gefunden hat. Um das zu verstehen müssen wir aber erst einen kurzen Ausflug in die Welt der Gravitationslinsen machen.
Das habe ich ja schon in Folge 274 ausführlich erklärt. Das Prinzip ist eigentlich recht simpel: Albert Einstein hat in seiner berühmten Allgemeinen Relativitätstheorie die Gravitation als Krümmung in der Raumzeit beschrieben. Jede Masse krümmt den Raum und Lichtstrahlen folgen dieser Krümmung. Anders gesagt: Eine Masse - ein Stern, ein Planet, eine Galaxie - kann den Weg des Lichts verändern, das in der Nähe vorbei kommt. Das ist nichts anderes als auch bei einer normalen Linse aus Glas oder einem Spiegel passiert: Auch hier wird der Weg von Lichtstrahlen verändert. Das nennt sich "Optik" und wer eine Brille trägt profitiert davon genau so, wie die Astronomie bei der Benutzung eines Teleskops, die Leute die ins Kino gehen und dort einen Film auf die Leinwand projiziert bekommen, und so weiter. Ist man in der Lage, die Ausbreitungsrichtung von Licht zu manipulieren, kann man damit alle möglichen tolle Dinge anstellen. Man kann Licht verstärken, Mehrfachbilder erzeugen, und so weiter. Und alles was die klassischen Linsen können, können auch Objekte im Weltall dank ihrer Masse.
Wenn zum Beispiel das Licht eines fernen Sterns in Richtung Erde strahlt, kann es unterwegs auf eine Galaxie treffen. Die lenkt den Lichtstrahl mit ihrer gewaltigen Masse um. Das kann dazu führen, dass MEHR Licht des Sterns in unsere Richtung gelangt als ohne diese Gravitationslinse. Sternenlicht, das ansonsten irgendwo weit entfernt an uns vorbei gestrahlt wäre, wird durch die Galaxie genau so umgelenkt, dass es doch die Erde trifft. Eine Gravitationslinse kann das Licht eines hinter ihr liegenden Objekts also verstärken. Bevor wir jetzt zu Icarus kommen, schauen wir aber noch kurz auf den Zufall. Hinter dem steckt in diesem Fall nämlich auch eine sehr coole Geschichte.
Der Galaxienhaufen MACS J1149.5+2223 wurde schon länger von der Astronomie beobachtet. Dabei ist den Forscher:innen etwas aufgefallen, dass man "Einstein-Kreuz" nennt. So etwas entsteht, wenn das Licht eines Objekts - in dem Fall einer Galaxie - durch eine Gravitationslinse mehr als einmal abgelenkt wird. Zum Beispiel einmal links rum, einmal rechts rum, einmal oben rum und einmal unten rum - vereinfacht gesagt natürlich. Auf jeden Fall aber kann eine Gravitationslinse ein Mehrfachbild eines Objekts erzeugen und das war hier der Fall. Was man damals gesehen hatte, war aber nicht nur ein Mehrfachbild einer Galaxie, sondern einer, in der gerade eine Supernovaexplosion stattgefunden hatte. Diese Ereignisse, bei denen große Sterne am Ende ihres Lebens explodieren, sind so hell, dass man sie auch weit entfernt und ohne Gravitationslinse sehen kann. In dem Fall hat man aber trotzdem genauer hingeschaut. Denn das hat sich ja alles in einem Galaxienhaufen abgespielt. Da gab es jede Menge potentielle Gravitationslinsen und das Licht der Supernova konnte auf sehr viele Arten abgelenkt werden. Dabei nahm es nicht nur unterschiedliche, sondern auch unterschiedlich lange Wege. Was nichts anderes heißt als: Wir sehen die Mehrfachbilder nicht alle gleichzeitig, sondern sie tauchen je nach Lichtweg zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf. Die Details sind kompliziert und voller Mathematik, aber es läuft darauf hinaus, dass man damals eine Vorhersage machen konnte, dass die Supernova zu einem bestimmten Zeitpunkt erneut sichtbar werden sollte. Die Gravitationslinsenanordnung im Galaxienhaufen hat quasi für eine Wiederholung gesorgt. Und das wollte man sich natürlich anschauen.
Was an sich schon eine sehr coole Geschichte ist; aber eben nur das Zufallselement in der speziellen Geschichte von Icarus darstellt. Denn das Licht dieses Sterns fand eben zufällig, als man gerade auf der Suche nach der wiederholten Supernova war (die übrigens tatsächlich am 11. Dezember 2015 zu sehen war). Das war etwas überraschend, denn in solch einer Distanz rechnet niemand damit, das Licht eines Einzelsterns im Teleskop einfangen zu können. Aber es war schnell klar, dass man das Ereignis einer Gravitationslinse zu verdanken hatte. Wir sind damit aber noch lange nicht fertig. Wie die Geschichte der Supernova-Wiederholung zeigt, sind wir recht gut darin, auszurechnen, wie eine Gravitationslinse wirkt. Und in diesem Fall hätte der Galaxienhaufen im Schnitt eigentlich nur für eine circa 50fache Verstärkung des Sternenlichts sorgen dürfen. Immer noch zu wenig, um einen so fernen Stern sehen können.
Um die Geschichte zu Ende zu erzählen, brauchen wir noch zwei Schritte. Zuerst einmal braucht es Glück. Nicht nur den Zufall der Entdeckung an sich, sondern auch noch das Glück, dass sich Icarus in Bezug auf die Gravitationslinse in einer sehr speziellen Position befunden hat. Das kann man wieder mit einer Brille vergleichen: Wenn einem die ein wenig an der Nase hinab rutscht, sieht man auch nicht mehr so gut damit wie wenn sie in der korrekten Position vor den Augen sitzt. Und Icarus befand sich nahe an der Position in der Gravitationslinse ihre optimalste Wirkung entfalten kann. Das reichte für eine 2000fache Verstärkung seines Lichts und damit schon aus, um ihn für uns sichtbar zu machen. Im Mai 2016 wurde der Stern aber dann NOCH mal um circa das Vierfache heller; nur für kurze Zeit, aber immerhin. Grund dafür war eine zusätzliche Gravitationslinse: Ein Objekt ganz in der Nähe von Icarus, also eines, das sich in der gleichen Galaxie befindet wie der Stern, hat sich ebenfalls noch in den Weg des Lichts geschoben. Und so wie man bei einem optisches Teleskop unterschiedliche Linsen kombinieren kann, um eine noch bessere Verstärkung und Vergrößerung zu erreichen, haben auch hier die unterschiedlichen Gravitationslinsen dafür gesorgt, das ein Stern für uns sichtbar wurde, den wir eigentlich gar nicht sehen hätten sollen.
Die Beobachtung von Icarus ist aus mehrfacher Hinsicht eine sehr coole Sache. Man kann aus den Daten ja nicht nur Informationen über den Stern selbst bekommen, sondern auch über die Linsen. Wir wissen nicht, was die zweite, kurze Verstärkung im Mai 2016 verursacht hat. Aber es muss ein kleines und dichtes Objekt gewesen sein. Ein Stern zum Beispiel oder ein schwarzes Loch. Das ist spannend, weil wir damit einen WEITEREN Weg haben, Informationen über enorm weit entfernte Einzelobjekte zu erlangen. Und nicht nur enorm weit entfernte: Wir reden hier ja über Objekte, die alle im sehr frühen Universum existieren. Wir können durch solche Beobachtungen also auch rausfinden, was da im Kosmos rumgeschwirrt ist, als das Universum noch jung war. Das kann uns viel darüber verraten, wie das Universum entstanden ist, wie es sich entwickelt hat, und so weiter.
Es ist aber auch interessant, sich Icarus selbst anzusehen. Viele Informationen kann man nicht kriegen, immerhin ist es ja immer noch ein sehr, sehr weit entferntes Objekt. Aber man weiß zumindest, dass es sich um einen blauen Riesenstern handeln muss. Solche Sterne haben eine Lebensdauer von nur ein paar hundert Millionen Jahren. Das heißt, dass Icarus schon längst verschwunden war, als sein Licht bei uns angekommen ist. Wir beobachten also das quasi geisterhafte Leuchten eines Sterns, der gar nicht mehr existiert, den wir auch eigentlich nicht sehen können sollten - aber dank eines sich durchs halbe Universum erstreckenden Teleskops aus Galaxienhaufen trotzdem sehen können. Astronomie ist immer wieder beeindruckend.

Apr 2, 2021 • 14min
Sternengeschichten Folge 436: Schwarze Zwerge
Gibt's nicht gibt's nicht!
Sternengeschichten Folge 436: Schwarze Zwerge
Im Universum gibt es Dinge, die gibt es gar nicht. Gut, das klingt jetzt ein wenig missverständlich. Die Dinge die es nicht gibt sind natürlich zahlreicher als die, die es gibt. Beziehungsweise nicht, weil es gibt sie ja nicht. Heute soll es aber nicht um philosophische Verwirrungen gehen. Sondern um etwas, dass es im Universum tatsächlich nicht gibt. Aber mit Sicherheit irgendwann geben WIRD. Nämlich "Schwarze Zwerge", die deswegen trotz ihres Mangels an aktueller Existenz ein gutes Thema für die "Sternengeschichten" sind.
Um zu verstehen was ein schwarzer Zwerg ist, müssen wir mit Sternen anfangen. Ich werde das jetzt nicht mehr im Detail erzählen, das habe ich in vielen vergangenen Folgen der Sternengeschichten ja schon oft genug getan. Ein Stern von der Größe unserer Sonne lebt nicht ewig. Zumindest nicht als Stern. Also als astronomisches Objekt, das durch Kernfusion in seinem Inneren Energie freisetzt. Dazu braucht es ja ausreichend viel Wasserstoff der fusioniert werden muss. Wenn der zu Ende geht, kann ein Stern für - aus astronomischer Sicht - kurze Zeit noch ein paar andere chemische Elemente fusioniern - Helium zu Beispiel oder Sauerstoff - aber dann ist Schluss. Fällt die Energieproduktion im Inneren des Sterns weg, dann fällt auch was anderes: Nämlich der Stern unter seinem eigenen Gewicht in sich zusammen.
Damit sind wir aber noch lange nicht bei den schwarzen Sternen angekommen. Zuerst einmal kriegen wir einen weißen Zwerg. Die Materie des Sterns kollabiert immer weiter. Die Atome werden immer weiter zusammengedrängt. Jetzt müssen wir auf die Elektronen schauen, die sich in der Hülle der Atome befinden können. Elektronen sind sogenannte "Fermionen", so nennt man Teilchen, die ein kleines bisschen asozial sind. Soll heißen: Man kann nicht beliebig viele in einem bestimmten Raumbereich konzentrieren. Jedes Elektron braucht seinen eigenen Raum und für ein zweites ist da kein Platz. Im Gegensatz zum Beispiel zu den Lichtteilchen, den Photonen. Die sind sogenannte "Bosonen" und sie haben kein Problem damit, ihren Platz mit anderen Bosonen zu teilen. Lichtteilchen kann man alle auf einen Haufen packen; Elektronen nicht.
Man kann sich das auch so vorstellen: Je weniger Raum einem Elektron zur Verfügung steht, desto schneller muss es sich bewegen. Das liegt an der berühmten Heisenbergschen Unschärferelation der Quantenmechanik. Ort und Geschwindigkeit (genauer gesagt: Ort und Impuls, aber das kommt am Ende für unseren Fall aufs gleiche raus) eines Teilchens stehen miteinander in Verbindung; multipliziert man beides miteinander, dann kann das Ergebnis auf keinen Fall kleiner sein als eine fundamentale Naturkonstante; das Plancksche Wirkungsquantum. Anders gesagt: Ort und Geschwindigkeit können nicht beide gleichzeitig immer kleiner und kleiner werden. Hat das Elektron also immer weniger Raum zur Verfügung, weil der Stern unter seinem eigenen Gewicht immer weiter in sich zusammenfällt, dann muss seine Geschwindigkeit irgendwann größer werden.
Und ein weiteres Mal anders gesagt: Die durch den Kollaps des Sterns und die Gesetze der Quantenmechanik verursachte Erhöhung der Geschwindigkeit der Elektronen hat einen nach außen gerichteten Druck zur Folge. Die Elektronen widersetzen sich irgendwann der Gravitationskraft, die den Stern immer weiter zusammendrücken will und der Kollaps endet. Das geht natürlich nur, wenn die Masse des Sterns nicht zu groß ist. Überschreitet sie eine bestimmte Masse, dann geht der Kollaps immer weiter und wir kriegen extrem dichte und kleine Objekte wie Neutronensterne oder schwarze Löcher. Aber über solch große Sterne reden wir heute nicht; wir reden über Sterne wie unsere Sonne. Bei deren Masse endet der Zusammenfall, wenn sie eine Größe erreicht hat, die ungefähr der Größe der Erde entspricht. Wir haben dann also ein Objekt, dass so groß wie ein Planet ist, aber immer noch so viel Masse wie ein Stern hat. Die ist jetzt nur eben enorm stark komprimiert. Würde man ein Stück vom weißen Zwerg nehmen, dass so groß ist wie eine kleine Erdbeere - ja, ich weiß, normalerweise ist es immer ein Zuckerwürfel der als Vergleich benutzt wird, aber darauf hab ich keine Lust mehr - nimmt man als ein erbeergroßes Stück, dann würde das so viel wiegen wie ein ganzes Auto.
Das ist ein "weißer Zwerg" und noch immer sind wir nicht am Ende der Entwicklung angelangt. In so einem weißen Zwerg passiert vorerst nicht mehr viel. Kernfusion findet keine mehr statt. Der Kern des weißen Zwergs besteht aus den schweren Elementen, die früher bei der Kernfusion erzeugt worden sind. Weiter außen liegen Schichten aus Helium und Wasserstoff. Ein weißer Zwerg ist aber immer noch heiß. Sein Inneres hat Temperaturen von ein paar Millionen Grad und das heizt die äußeren Schichten auf. Die können die Wärme abstrahlen und deswegen leuchtet ein weißer Zwerg, obwohl er keine neue Energie mehr produziert.
Aber das geht natürlich nicht ewig so weiter. Ein weißer Zwerg ist - sehr vereinfacht gesagt - ja nur ein sehr heißes Objekt, das einfach so im kalten Universum rumliegt. Und was tut so ein Ding dann im Laufe der Zeit? Es kühlt aus, was sonst. Der weiße Zwerg wird kühler und kühler und kühler - bis er irgendwann genau die gleiche Temperatur hat wie das ihn umgebende Universum. Und DANN ist aus dem weißen Zwerg ein schwarzer Zwerg geworden.
Wir wissen, dass es weiße Zwerg gibt. Wir haben schon jede Menge davon draußen im Universum entdeckt. Wir haben auch schon sehr kühle weiße Zwerge gefunden, deren Oberflächen nur noch knapp 3500 Grad Celsius hatten. Das bedeutet, dass sie schon sehr alt sein müssen; man hat sie auf circa 11 bis 12 Milliarden Jahre geschätzt. Bis zum schwarzen Zwerg ist es aber trotzdem noch ein weiter Weg. Auch wenn es sich um einen "Zwerg" handelt, ist so ein Ding ja immer noch so groß wie ein Planet. Und hat die Masse eines Sterns. Da passt jede Menge Wärme rein und es DAUERT bis die verschwunden ist. Und das Universum ist kalt. Die Hintergrundtemperatur des Kosmos liegt derzeit bei knapp 3 Kelvin. Also circa -270 Grad Celsius. Man schätzt, das ein typischer weißer Zwerg mindestens eine Billiarde Jahre braucht, um auf 5 Kelvin abzukühlen. Unser Universum ist aber gerade mal 13,8 Milliarden Jahre alt. Wir müssen noch fast hunderttausend Mal so lange warten wie das Universum bis jetzt existiert, um die Chance zu haben, irgendwo einen schwarzen Zwerg zu finden.
Und wenn es blöd läuft, kann es noch viel länger dauern. Denn so ein schwarzer Zwerg kann sich auch wieder erwärmen. Beziehungsweise ist das vielleicht der falsche Ausdruck. So richtig warm wird er nicht mehr, egal was passiert. Aber es gibt Prozesse, die seine Abkühlung verzögern können. Zum Beispiel der Protonenzerfall: Es gibt physikalische Hypothesen, nach denen das Proton, also einer der Bausteine aus denen Atomkerne bestehen, nicht stabil ist. Das bedeutet, dass es irgendwann spontan zerfallen und sich in andere Teilchen umwandeln kann. Wir wissen nicht, ob das wirklich so ist - entsprechende Experimente haben noch keine konkreten Spuren davon gefunden. Aber WENN es so ist, dann muss es sehr, sehr lange dauern, bis so ein Proton zerfällt. Wenn es nicht so wäre, dann würden wir ja dauernd zerfallende Protonen sehen beziehungsweise dann hätte sich gar nicht erst stabile Atome im Universum gebildet. Man schätzt, dass es um die 10 hoch 34 Jahre dauert, bis bei einer vorgegebenen Menge an Protonen die Hälfte zerfallen ist. Das ist ein so absurd langer Zeitraum, das man ihn sich nicht vorstellen kann.
Ein Stern und auch ein weißer Zwerg enthält aber nun mal sehr, sehr viele Protonen. Und rein statistisch gesehen sollten dort immer wieder mal ein paar zerfallen. Das hat normalerweise keinen großen Einfluss. Aber im Laufe der Zeit - und beim Abkühlen hat so ein weißer Zwerg sehr viel Zeit - kann man das nicht mehr ignorieren. Denn die zerfallenden Protonen setzen Energie frei. Nicht viel, aber es reicht, um die Temperatur eines weißen Zwergs für ungefähr 10 hoch 37 Jahre über der Hintergrundtemperatur des Universums zu halten (die ja im Laufe der Zeit ebenfalls sinkt). Es gibt auch noch andere Mechanismen - zum Beispiel die Wechselwirkung des weißen Zwergs mit bestimmten hypothetischen Formen dunkler Materie - die das Abkühlen verzögern können. Wir wissen nicht, ob Protonen zerfallen oder ob es andere Wege gibt, die einen weißen Zwerg warm halten. Sicher ist nur: Es dauert verdammt lange, bis ein weißer Zwerg zu einem schwarzen Zwerg geworden ist.
Das wäre jetzt eigentlich wirklich das Ende. Ein schwarzer Zwerg liegt einfach nur noch rum und macht nichts. Das einzige was er tut, ist dank seiner Masse Gravitation auf die Umgebung auszuüben. Das wäre auch der einzige Weg, um so ein Ding zu finden. Aber man kann davon ausgehen, dass in so einer fernen Zukunft keine irdischen Astronom:innen mehr da sind, um sich auf die Suche zu machen. Aber falls doch noch IRGENDWER in diesem zukünftigen Kosmos mit bewusstem Blick zum Himmel schaut, gäbe es vielleicht die Chance, ein wirklich außergewöhnliches Ereignis zu beobachten: Die Supernova eines schwarzen Zwergs!
Wir wissen, dass auch weiße Zwerge wieder zu leuchten anfangen können. Zum Beispiel, wenn sie irgendwo von außen neue Materie bekommen, etwa von einem sehr nahe gelegenen Nachbarstern. Dann wird der Zwerg immer schwerer, bis seine Masse irgendwann eine Grenzmasse überschreitet, so dass doch wieder Kernfusion einsetzen kann. Das ist dann ein sehr extremes Ereignis und der ganze Stern explodiert bei einer Supernova. Einem schwarzen Zwerg steht aber noch ein weiterer Weg zur Verfügung. Selbst wenn weit und breit kein anderer Stern in der Nähe ist, der Masse spenden könnte, können in seinem Inneren sogenannte pyconuklearen Fusionsreaktionen stattfinden. Normalerweise gibt es im Sterninneren die Kernfusion ja deswegen, weil dort die Temperatur und der Druck so hoch sind. Dadurch bewegen sich die Atome ausreichend schnell und sind ausreichend nahe beieinander, um miteinander verschmelzen zu können. In einem schwarzen Zwerg ist es kalt - aber der Druck ist eben auch enorm hoch und das reicht - vereinfacht gesagt - für die eine oder andere Fusion auch bei niedrigen Temperaturen. Im Laufe der Zeit kann so das Material im Inneren des Sterns immer weiter fusionieren bis irgendwann alles zu Eisen geworden ist. Dann hört jede normale Fusion auf, denn es braucht mehr Energie als man raus bekommen würde, um Eisenatome miteinander zu fusionieren. Ohne auf die Details eingehen zu wollen - es hat mit Quantenmechanik zu tun und mit der durch diese Fusionsreaktionen verursachte Veränderung im Verhältnis der Anzahl an Elektronen zur Anzahl an Atomkernteilchen im Stern - führt das irgendwann dazu, dass der schwarze Zwerg nicht mehr stabil ist. Er fällt in sich zusammen und es gibt eine Supernovaexplosion.
Allerdings nur, wenn das mit dem hypothetischen Protonenzerfall nicht zu schnell geht. Ein schwarzer Zwerg braucht eine gewisse Mindestmasse, um explodieren zu können und wenn die Protonen zu schnell zerfallen sollten, dann verringert sich auch seine Masse zu schnell. Und man muss lange warten. Mit dem explodieren der ersten schwarzen Zwerge ist in circa 10 hoch 1100 Jahren zu rechnen. Ich wüsste nicht, wie ich so einen Zeitraum veranschaulichen sollte, also lasse ich es einfach. Bis alle schwarzen Zwerg die das können, explodiert sind, wird es unvorstellbare 10 hoch 32.000 Jahre dauern. Eine 1, gefolgt von 32.000 Nullen! Matt Caplan, der Astronom der das ausgerechnet hat, sagt dazu: "Das wird das letzte interessante astronomische Phänomen sein, das im Universum stattfindet". Klingt ein wenig traurig. Aber andererseits ist es immer gut, wenn man etwas hat, auf das man sich freuen kann.

Mar 26, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 435: Der Kozai-Effekt
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Sternengeschichten Folge 435: Der Kozai-Effekt
Heute geht es in den Sternengeschichten um etwas, das man "Kozai-Effekt" nennt. Oder "Kozai-Mechanismus". Oder "Kozai-Lidow-Effekt". Oder "von Zeipel-Lidow-Kozai-Effekt". Und alle anderen möglichen Kombinationen, je nachdem welchen von den Forschern die daran gearbeitet haben, man den Vorrang geben will. Bleiben wir bei dem japanischen Astronom Yoshihide Kozai und sagen "Kozai-Effekt"; das ist auch die übliche Bezeichnung. Die Namensgebung ist allerdings auch das einfachste an der Sache, es wird in dieser Folge ein wenig kompliziert. Aber nicht ZU kompliziert und zur Sicherheit fangen wir mal mit etwas ganz einfachem an. Nämlich mit einem Stern und ein paar Himmelskörper, die ihn umkreisen. Planeten, Asteroiden, und so weiter.
So etwas stellen wir uns ja gerne wie ein Uhrwerk vor. Die kleinen Himmelskörper sausen um ihren Stern herum, immer im Kreis und immer auf den gleichen Bahnen. Wenn wir das ganze dann irgendwo grafisch darstellen, machen wir das auch genau: Wir zeichnen einen Haufen Kreise um den Stern herum und verstärken dadurch noch den Eindruck, dass die Bahnen der Planeten und Asteroiden genau SO sind und auch so bleiben. Aber das ist falsch. Planetensysteme sind ein höchst dynamisches Phänomen. Da gibt es nichts, was sich nicht ändert. Das liegt, wie ich in den Sternengeschichten schon oft erzählt habe, an der Gravitationskraft. Jedes Objekt das eine Masse besitzt übt eine Gravitationskraft aus und zwar auf jedes andere Objekt mit einer Masse. Die Reichweite der Gravitationskraft ist theoretisch unbegrenzt, was genaugenommen heißt, dass ALLES im Universum von allem anderen beeinflusst wird. So kompliziert lassen wir es jetzt aber nicht werden, wir bleiben erstmal bei unserem Stern und ein paar Planeten und Asteroiden.
In erster Näherung stimmt das mit den unveränderlichen Bahnen schon. Die Erde zum Beispiel wankt ja jetzt nicht chaotisch durch das Sonnensystem. Sie zieht verlässlich ihre Runden um die Sonne, und braucht ebenso verlässlich 365,25 Tage um eine davon zu vollenden. Es gibt neben der Erde und der Sonne aber eben auch noch andere Himmelskörper im Sonnensystem. Die Gravitationskraft, die zum Beispiel der ferne Neptun auf die Erde ausübt, kann man aber erst mal vernachlässigen. Die ist wegen der enormen Distanz so gering, dass sie keinen relevanten Einfluss hat. Beim sehr viel näheren Mond sieht das aber schon anders aus. Beim weiter entfernten und sehr viel massereicheren Jupiter ebenso. Diese gravitativen Störungen der anderen Himmelskörper führen dazu, dass sich - auf ausreichend langen Zeiträumen betrachtet - die Bahn der Erde durchaus ändert. Sie wird ein bisschen größer und dann wieder ein bisschen kleiner. Sie ist mal kreisförmiger und mal ein wenig elliptischer. Sie wackelt ein bisschen hin und her. Die ganze Bahn dreht sich langsam um die Sonne herum. Würde man die Bahn der Erde tatsächlich als Strichspur im All sehen können und gäbe es einen "Fast Forward"-Knopf, mit dem man die Bewegung der Planeten beschleunigen könnte, dann würde man sehen, wie die Bahn wild pulsiert, sich dreht und windet. Allerdings nicht völlig chaotisch; es ist ein Pulsieren innerhalb gewisser Grenzen. Wäre es nicht so, dann hätte die Erde ja keine 4,5 Milliarden Jahre im Sonnensystem überlebt sondern wäre schon längst mit irgendeinem anderen Himmelskörper zusammengestoßen.
Die Bahnen von Himmelskörper - von ALLEN Himmelskörpern - ändert sich also im Laufe der Zeit. Darüber gäbe es noch sehr viel mehr zu erzählen; das ist immerhin der komplette Forschungegenstand der Himmelsmechanik. Um den Kozai-Effekt zu verstehen, werden wir uns jetzt aber auf einen speziellen Fall beschränken. Wir schauen uns nur ein sogenanntes "Dreikörperproblem" an, also die Bewegung von drei Objekten. Und noch mehr: Es geht um hierarchische Dreikörpersysteme. Das heißt, einer der drei Körper ist weit entfernt von den beiden anderen. Wir können zum Beispiel einen Satelliten betrachten, der die Erde in ein paar hundert Kilometer Abstand umkreist. Und als dritten Körper nehmen wir den 400.000 Kilometer entfernten Mond. Oder einen Asteroid, der sich nahe an einem Stern befindet und einen Planeten, der weiter draußen seine Runden zieht. Oder einen Planeten, der von einem Mond umkreist wird und als dritten Körper den weit von beiden entfernten Stern. Wie auch immer - damit wir nicht komplett durcheinander kommen, werde ich ab jetzt die beiden Objekte die sich nahe sind, als das "innere System" bezeichnen. Der dritte, weit entfernte Himmelskörper ist der "Störer". Und dann gehen wir noch davon aus, dass von den beiden Körpern des inneren Systems einer deutlich mehr Masse hat, als der andere. Was ja im Beispiel von Erde und Satellit oder Planet und Mond durchaus angenommen werden kann.
Jetzt können wir uns diesen Körper mit kleiner Masse genauer anschauen. Und damit meine ich keine astronomische Beobachtung mit dem Teleskop, sondern eine mathematische Analyse. Die Details lasse ich aus; in einem Podcast etwas vorrechnen ist immer ein wenig unattraktiv. Aber es gibt jede Menge Methoden, wie man die Bewegung dieses kleinen Körpers in Abhängigkeit der beiden anderen beschreiben kann. Wenn man das tut, dann kann man in diesem System auch eine Erhaltungsgröße finden. So etwas kennen wir ja auch aus anderen Systemen. Die Energieerhaltung zum Beispiel oder die Drehimpulserhaltung. Es kann aber auch diverse andere Erhaltungsgrößen geben, die nicht immer so anschaulich sein müssen. Das, um das es hier geht, nennt man ein "Integral der Bewegung". Wenn sich Objekte auf eine bestimmte Art und Weise bewegen, dann gibt es eine Zahl, die sich errechnen lässt und die sich während der Bewegung nicht ändert. Ich weiß, das klingt alles enorm abstrakt. Weil es genaugenommen auch enorm abstrakt ist. Aber ich probiere es mal anders zu veranschaulichen. Wenn ich in gerade Linie von zuhause fort gehe, dann ändert sich die Distanz zu meinem Ausgangspunkt. Das ist nicht sonderlich außergewöhnlich und je weiter ich laufe, desto größer wird der Abstand. Er ist also definitiv nicht konstant. Wenn ich nun messe, wie weit ich noch laufen muss, bis ich auf meiner Umrundung der Erde wieder am Ausgangspunkt bin, dann wird auch dieser Abstand sich ständig ändern. Auch er ist nicht konstant. Aber die Summe der beiden Werte ist immer gleich, egal wie weit ich gelaufen bin. Die eine Zahl wird in dem Ausmaß größer, in dem die andere kleiner wird. Das hat nichts mit dem Kozai-Effekt zu tun und auch nicht einmal wirklich etwas mit einem echten Integral der Bewegung. Es liegt einfach nur daran, dass die Erde eine Kugel ist und ihre Größe immer gleich bleibt. Aber es soll ja auch nur demonstrieren, dass man unter bestimmten Umständen eine mathematische Größe finden kann, die sich im Laufe einer Bewegung nicht verändert.
Genau so eine Größe gibt es auch im Fall des vorhin beschriebenen hierarchischen Dreikörperproblems. Nimmt man die Exzentrizität der Bahn des kleineren Körpers des inneren Systems und multipliziert sie mit sich selbst, zieht das Ergebnis von 1 ab, berechnet die Wurzel aus dem Resultat und multipliziert das ganze dann noch mit dem Cosinus der Bahnneigung, dann kriegt man ein Integral der Bewegung. Oder nochmal anders: Die Wurzel aus 1 minus e² mal dem Cosinus von i ist immer konstant. Es gibt gute Gründe, warum das so ist und man kann das durchaus ohne allzu große Probleme berechnen. Wir schauen aber lieber auf das, was das eigentlich heißt. Es geht um die Exzentrizität e und die Bahnneigung i der Bahn des kleinen Körpers. Also des Satelliten, der die Erde umkreist oder des Mondes, der sich um einen Planeten bewegt. Die Exzentrizität gibt an, wie stark die Bahn von der Kreisform abweicht. Und die Bahnneigung, wie stark die Bahn gegenüber einer Referenzebene - in unserem Sonnensystem ist das die Erdbahn - geneigt ist. In der Formel des Integrals der Bewegung kommen nur diese beiden Werte vor. Und weil das Integral der Bewegung konstant sein muss, folgt daraus, dass sich beide Werte zusammen nicht unabhängig voneinander ändern können. Wird die Bahnneigung größer, dann muss die Exzentrizität kleiner werden und umgekehrt.
Physikalisch liegt das daran, dass die Himmelskörper in so einer Konfiguration zwar Drehimpuls untereinander austauschen können, aber keine Energie. Das sind zwei klassische Erhaltungsgrößen, der Gesamtdrehimpuls aller drei Körper muss ebenso konstant bleiben wie die gesamte Energie im System. Wenn sie sich mit ihrer Gravitationskraft gegenseitig beeinflussen, dann können sie prinzipiell Energie und Drehimpuls austauschen. Die Energie äußerst sich dabei in der Größe der Umlaufbahn. Anders gesagt: Wird die Umlaufbahn eines Himmelskörpers größer, muss irgendwo anders eine Umlaufbahn kleiner werden, damit die Gesamtenergie erhalten bleibt. Für den Drehimpuls gilt das gleiche. Befinden sie sich drei Körper aber in der beschriebenen Konfiguration, dann findet kein Austausch von Energie statt. Die Umlaufbahnen bleiben alle gleich groß. Das einzige was sich ändern kann, ist der Drehimpuls und hier ist der Austausch an das Integral der Bewegung geknüpft. Es ermöglicht, vereinfacht gesagt, den Austausch von Exzentrizität in Bahnneigung. Ein bisschen so wie beim Geldwechseln: Exzentrizität und Bahnneigung sind zwei unterschiedliche Währungen und das Integral der Bewegung ist der Wechselkurs. Wenn ich also zum Beispiel einen Körper habe, mit kleiner Exzentrizität und großer Bahnneigung, also auf einer eher kreisförmigen Bahn, die stark geneigt ist, dann kann sie sich dank des Kozai-Effekts zu einer Bahn mit hoher Exzentrizität und kleiner Bahnneigung entwickeln. Das eine wird gegen das andere getauscht. Und umgekehrt geht es genau so.
Und jetzt wird das ganze schon ein bisschen weniger abstrakt. Stellen wir uns einen Kometen vor der sich in einer Kozai-Konfiguration befindet. Er hat eine einigermaßen kreisförmige Bahn, die dafür aber stark gegenüber der Erdbahn geneigt ist. Er wird nun von Jupiter gestört und die Bahn verändert sich. Wegen des Kozai-Effekts bleibt die Größe der Bahn der gleich. Am mittleren Abstand zwischen dem Komet und der Sonne ändert sich also nichts. Die Bahn wird aber deutlich elliptischer. Sie wird sehr viel langgestrecker als vorher und wenn die Größe dabei gleich bleiben muss, dann geht das nur, wenn der sonnennächste Punkt der Kometenbahn näher an die Sonne rückt als er vorher war. Ein Komet der dem Kozai-Effekt unterliegt wird also sehr viel näher als der Sonne vorbei fliegen als vorher und vielleicht sogar in sie hinein stürzen.
Damit dieses Wechselspiel von Exzentrizität und Bahnneigung stattfinden kann, braucht es eine bestimmte kritische Bahnneigung. Der Wert liegt bei circa 39 Grad: Unser Komet würde also erst dann anfangen, Bahnneigung gegen Exzentrizität einzutauschen, wenn seine Bahnneigung diesen Winkel überschreitet. Erst dann beginnen die für den Kozai-Effekt typischen Oszillationen von Exzentrizität und Bahnneigung. Die Exzentrizität steigt und steigt während die Bahnneigung sinkt. Wird die Bahn zu elliptisch, dann dreht sich das Spiel um. Sie wird wieder kreisförmiger, die Exzentrizität sinkt während die Bahnneigung steigt, bis der kritische Wert wieder überschritten ist und alles von vorne anfängt.
Dieser Mechanismus ist zwar etwas kompliziert, und es nicht unbedingt leicht zu sehen, warum es ihn geben muss. Aber er existiert und er spielt eine große Rolle bei der Bewegung von Himmelskörpern. Ein paar Monde des Jupiters und des Saturns etwa sind in genau so einer Konfiguration und zeigen Kozai-Oszillationen. Das kann unter Umständen auch schief gehen: Wird die Bahn eines Mondes zu exzentrisch, dann führt sie ihn immer näher an den Planeten heran. Dadurch werden die Gezeitenkräfte immer größer, bis der Mond davon auseinandergerissen und zerstört wird. Exzentrischen Bahnen sind prinzipiell gefährlich: Je langgestreckter die Bahn, desto größer die Chance, dass man einem anderen Himmelskörper in die Quere kommt und mit ihm kollidiert. Auch bei den Planeten anderer Sterne spielt der Kozai-Mechanismus eine Rolle. Dort haben wir immer wieder riesige Gasplaneten gefunden, die sich sehr nahe an ihrem Stern befinden. Diese "heißen Jupiter", wie sie genannt werden, können dort aber nicht entstanden sein. Sie müssen von weiter außen im System nach innen gewandert sein und der Kozai-Mechanismus kann hier beteiligt gewesen sein. Er kann dafür gesorgt haben, dass die Bahn eines Planeten immer exzentrischer wurde und er so dem Stern immer näher kam. Durch die Gezeitenkräfte zwischen Stern und Planet wurde der Kozai-Mechanismus dann aber irgendwann ausgehebelt und die Bahn wieder kreisförmig. So ist der Planet dort gelandet, wo er sich jetzt befindet.
Der Kozai-Mechanismus muss berücksichtigt werden wenn schwarze Löcher kollidieren, wenn sich Asteroiden durch ein Planetensystem bewegen oder wenn man Satelliten unter Kontrolle halten will. Er spielt immer dann eine Rolle, wenn sich Dinge bewegen und das ist überall im Universum. Er ist zugegebenermaßen nicht leicht zu verstehen wenn man die zugrundeliegende Mathematik nicht kennt. Aber es reicht fürs erste ja schon mal, wenn man weiß, dass es ihn gibt und für was er verantwortlich ist. Deswegen kommt jetzt noch mal alles in einem Satz: Der Kozai-Effekt beschreibt die periodische Veränderung der Bahn eines Himmelskörpers, bei der sich die Exzentrizität und Bahnneigung gegengleich verändern. Zum Klugscheißen auf der nächsten Party sollte das auf jeden Fall reichen.

Mar 19, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 434: Der (menschengemachte) Klimawandel
Der Klimawandel ist nicht nur ein wichtiges Thema, sondern auch eine alarmierende Realität für unseren Planeten. Treibhausgase spielen eine zentrale Rolle in der Erderwärmung. Jeder Mensch hat die Verantwortung, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die Wissenschaft des Klimawandels wird oft als fern von der Astronomie betrachtet, doch gibt es viele Überschneidungen, die betrachtet werden müssen. Es ist entscheidend, Lösungen zu finden, um unseren einzigen bewohnbaren Planeten zu schützen.

Mar 12, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 433: KIC 8462852 und die angebliche Alien-Zivilisation
Staubige Geheimnisse
Sternengeschichten Folge 433: KIC 8462852 und die angebliche Alien-Zivilisation
KIC 8462852 ist nicht unbedingt ein griffiger Name für einen Stern. Es ist ja auch eigentlich kein echter Name, sondern einfach nur seine Bezeichnung im "Kepler Input Catalog", der Datenbank an Sternen, die das Kepler-Weltraumteleskop untersucht hat. Es kommt bei den Sternen ja aber auch nicht auf den Namen oder die Bezeichnung an. Sondern auf das, was wir bei ihrer Beobachtung lernen können. Und bei KIC 8462852 ist das jede Menge!
Kennen tun wir diesen speziellen Stern so sehr lange. Er taucht schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts in diversen Sternkatalogen auf. Er befindet sich im Sternbild Schwan und ist ungefähr 1470 Lichtjahre von der Erde entfernt. Er ist ein wenig schwerer und größer als unsere Sonne, ein klein wenig heißer und leuchtet circa drei mal so hell. Wie alt der Stern ist, wissen wir noch nicht so genau, aber er ist vermutlich noch sehr jung, ein paar hundert Millionen Jahre nur. Mit freiem Auge ist KIC 8462852 nicht zu sehen; da braucht es schon ein halbwegs starkes Teleskop. Kurz gesagt: Das Ding unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von den Milliarden anderen Sternen in unserer Milchstraße. Es ist halt ein Stern.
Das hat sich im Jahr 2015 geändert. Also KIC 8462852 ist schon immer noch ein Stern. Aber eben einer, der sich deutlich von allen Sternen unterscheidet, die wir bisher beobachtet hatten. Das Weltraumteleskop Kepler hat zwischen 2009 und 2018 sehr viele Sterne beobachtet. Fast 200.000 und natürlich ist es da nicht möglich, alle Daten sofort und letztgültig auszuwerten. Das eigentliche Ziel von Kepler war die Suche nach extrasolaren Planeten. Um herauszufinden, ob ein Stern von einem Planeten umkreist wird, hat Kepler nach Helligkeitsschwankungen gesucht. Ändert ein Stern seine Helligkeit periodisch, dann kann das ein Zeichen dafür sein, dass ein Planet um ihn kreist und von uns aus gesehen in regelmäßigen Abständen immer ein bisschen Sternenlicht blockiert. Unterstützung bei dieser Suche kam von der Öffentlichkeit. Beim Projekt "Planet Hunters" konnten alle, die wollten, die Helligkeitsmessungen von Kepler anschauen und dort nach charakteristischen Schwankungen suchen. Oder nach anderen Dingen, die irgendwie auffällig sind.
Das war bei KIC 8462852 der Fall. Seine Helligkeit änderte sich, aber nicht periodisch und nicht nur ein bisschen. Sondern ziemlich wild und teilweise wurde der Stern um 22 Prozent dunkler. Ein Planet kann so etwas nicht verursachen; der ist im Vergleich zum Stern so klein, dass er dessen Licht nur um Bruchteile eines Prozents verdunkeln kann. Was er dann auch auf jeden Fall regelmäßig tut. Die amerikanische Astronomin Tabetha Boyajian, zuständig für das Planet-Hunters-Projekt, sah sich die Sache genauer an. Und veröffentlichte gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen im September 2015 einen Artikel über den Stern. Er hatte den Titel "KIC 8462852 - Where's the Flux?". Mit "Flux" ist das Sternenlicht gemeint und die große Frage war: Wo ist es hin und warum ist dieser Stern so komisch dunkler geworden? Und jetzt kann ich auch endlich aufhören, "dieser Stern" oder "KIC 8462852" zu sagen. Nach dieser Veröffentlichung wurde "dieser Stern" schnell als "Tabby's Stern" bekannt, nach dem Spitznamen von Tabetha Boyajian. Manche nannten ihn auch "WTF-Stern", was sich einerseits auf das "Where's the Flux" im Titel der Forschungsarbeit bezieht. Andererseits aber auch auf die gebräuchliche englische Abkürzung die - sagen wir es mal familienfreundlich - großes Erstaunen ausdrückt.
Also. WTF. Was ist los mit Tabbys Stern? Die Daten zeigen, dass es dort am 5. März 2011 den ersten außergewöhnlichen Helligkeitseinbruch gab. Innerhalb eines Tages wurde seine Helligkeit um 16 Prozent geringer, einen Tag später war dort alles wieder normal. Am 28. Februar 2013 kam die nächste große Verdunkelung. Zuerst sank die Helligkeit nur um 1,5 Prozent für drei Tage. Dann ging es aber gleich um 22 Prozent runter und diese Verdunkelung war erst zwei Tage später wieder vorbei. Knapp drei Wochen später wurde es nochmal dunkler, diesmal nicht ganz so stark. Und nochmal knapp 5 Wochen später sank die Helligkeit ein weiters Mal für zehn Tage.
Das ist außergewöhnlich. So was macht ein Stern normalerweise nicht. Einen Planeten kann man definitiv als Ursache für diese Helligkeitsschwankungen ausschließen. Aber es gibt ja noch jede Menge andere Gründe, aus denen ein Stern seine Helligkeit verändern kann. Zum Beispiel, wenn er Teil eines Doppelsternsystems ist. Dann ändert der Stern selbst zwar seine Helligkeit nicht. Aber wenn die beiden Sterne sehr dicht aneinander stehen, dann erscheinen sie uns aus der Ferne wie EIN Stern und je nachdem, ob die beiden von uns aus gesehen nebeneinander oder hintereinander stehen, ändert sich die von uns beobachtete Helligkeit. Tatsächlich hat Tabbys Stern einen Begleiter; einen kleinen roten Zwergstern. Der ist aber sehr weit weg und kann mit den Helligkeitsschwankungen nichts zu tun haben. Sterne können auch von sich aus ihre Helligkeit verändern. Davon habe ich in den Folgen 64 und 65 ja schon ausführlicher erzählt. Sie tun das, wenn in ihrem Inneren spezielle Prozesse ablaufen, die zu Temperatur- und Größenschwankungen führen. Tabbys Stern ist aber eigentlich nicht die Art von Stern, die so etwas macht und die Schwankungen passen auch nicht zu dem, was man erwarten würde.
Boyajian und ihre Kolleg:innen haben noch weitere Hypothesen untersucht, die wir uns später noch anschauen werden. Über ein Thema haben sie in ihrem Fachartikel allerdings nicht gesprochen. Das Thema, das sämtliche Medienberichte über Tabbys Stern dominiert, taucht dort nicht auf. Dafür aber in einem Interview, in dem sich ein Kollege von Boyajian geäußert und das eine Wort verwendet hat, das verlässlich immer für gewaltige Aufregung sorgt: Aliens! Der Astronom Jason Wright wurde darin mit dem Satz "[D]as sieht so aus wie etwas, das eine außerirdische Zivilisation gebaut haben könnte". Unmittelbar davor sagte er zwar auch "Außerirdische sollten immer die letzte Hypothese sein, die man zur Erklärung von etwas heranzieht.". Aber wenn die Aliens einmal im Spiel sind, interessieren sich die meisten Medien nicht mehr sonderlich für irgendeine kritische Einordnung. Fortan war Tabbys Stern der Stern mit den außerirdischen "Megastrukturen". Und damit ist etwas gemeint, das man auch unter den Namen "Dyson-Sphäre" oder "Dyson-Schwarm" kennt. Ich habe darüber in Folge 159 gesprochen: Im Prinzip geht es darum, dass eine technisch sehr weit fortgeschrittene Zivilisation sich Gedanken darüber macht, wie man möglichst viel Energie eines Sterns nutzen kann. Auf der Erde kriegen wir zum Beispiel ja nur die Sonnenenergie, die auch auf unseren Planeten trifft. Der ganze Rest der Sonnenstrahlung verschwindet ungenutzt von uns in alle anderen Richtungen im All. Wenn man nun aber eine Kugelschale um die Sonne bauen würde, könnte man die gesamte Energie auffangen und nutzen. So ein Ding wäre eine Dyson-Sphäre, und es ist quasi unmöglich, es zu bauen. Immer noch sehr unmöglich, aber ein kleines bisschen weniger ist ein "Dyson-Schwarm", bei dem man den Stern nicht mit einer geschlossenen Schale sondern mit jeder Menge gigantischer Sonnenkollektoren umgibt. Und ja, so etwas würde tatsächlich dafür sorgen, dass wir Helligkeitsschwankungen sehen. Je nachdem wie viele von diesen Kollektoren gerade aus unserer Sicht vor dem Stern vorbei ziehen, würde sich dessen Licht verdunkeln. Es müsste aber ein Dyson-Schwarm unter Konstruktion sein. Denn die Schwankungen waren ja unregelmäßig und kamen in großen Abständen. Vielleicht haben wir auch gesehen, wie die Aliens irgendwelche großen Asteroiden und Planeten gesprengt haben, um das Material für ihre Konstruktionen zu gewinnen und die Verdunkelung kam durch den ganzen dabei erzeugten Staub zustande? Oder es war ein Alienkrieg im Gange und irgendwer hat eine gigantische Strahlenkanone benutzt um einen Planeten zu zerstören?
Man kann nach Lust und Laune spekulieren; mit echter Wissenschaft hat das allerdings wenig zu tun. Das ist wichtig, das sollte man sich auf jeden Fall merken: Nur weil man nicht weiß, was die Ursache für ein Phänomen ist, folgt daraus NICHT, das jede beliebige Ursache in Frage kommt und jede beliebige Ursache gleich wahrscheinlich ist! Aliens sind zumindest theoretisch eine Möglichkeit, die Helligkeitsschwankungen von Tabbys Stern zu erklären. Andererseits kann man ausreichend fortschrittliche Aliens ja auch als Erklärung für so gut wie alles heranziehen. Und vor allem: Es gibt nicht mal ansatzweise einen Beleg dafür, dass irgendwo solche fortschrittlichen Aliens existieren und an ihren Sternen rumbasteln. Auch Tabbys Stern ist kein solcher Beleg. Dafür sind die Daten alles andere als eindeutig genug. Denn es gibt noch ausreichend andere Erklärungsansätze die nicht nur deutlich wahrscheinlicher sind sondern - im Gegensatz zu megaschlauen Aliens - von denen wir auch wissen, dass sie tatsächlich möglich sind, weil wir entsprechende Prozesse anderswo im Universum schon beobachtet haben.
Gehen wir lieber nochmal zurück zur echten Wissenschaft. Natürlich hat man den Stern weiter beobachtet. Und es gab weitere Verdunkelungsphasen, die ebenso seltsam waren wie die zuvor. Und man hat natürlich auch weiter darüber nachgedacht, was die Ursache dafür sein kann. Ein einzelnes Objekt kann es kaum sein. Es müsste gewaltig groß sein und komplett unvorhersagbar am Stern vorüber ziehen. Sowas machen Himmelskörper nicht. Aber Staub ist ein guter Kandidat. Staubwolken können enorm groß sein, sie können das Licht eines Sterns ebenfalls verdunkeln und vor allem kann sich die Größe und Dichte so einer Staubwolke vergleichsweise schnell ändern. Nur: Wo käme der Staub bei Tabbys Stern her? Er könnte zum Beispiel Ringe aus Staub haben; bei jungen Sternen wäre sowas durchaus möglich. Es könnte sich auch um einen Schwarm von Kometen handeln, die den Stern umkreisen und ihm dabei sehr nahe kommen. Durch die Erwärmung der Kometen würden sie auftauen und es käme immer wieder zu neuen "Staubausbrüchen". Solche dichten und großen Ansammlungen von Kometen sind allerdings eher ungewöhnlich. Es gäbe noch weitere Hypothesen, aber neue Beobachtungen haben die Sachlage ein wenig eingeschränkt.
Man hat zuerst einmal festgestellt, dass es sich wirklich um Staub handelt. Neue Beobachtungen haben gezeigt, dass der blaue Anteil des Lichts stärker abgeschwächt wird als der rote Anteil. Das ist genau das, was Staub mit Sternenlicht macht. Wäre es ein massives Objekt, also zum Beispiel irgendeine Alien-Struktur, würde man erwarten, dass alle Teile des Lichts gleichmäßig abgeschwächt werden. Man hat außerdem beobachtet, dass der Stern als ganzes dunkler wird. Nicht schnell, das ist ein Vorgang, der sich im Laufe von Jahrhunderten abspielt. Und dann hat man auch noch andere Sterne gefunden, die ein ähnliches Verhalten wie Tabbys Stern zeigen. Das alles sind deutliche Hinweise darauf, dass es sich um einen natürlichen Vorgang handelt, der vielleicht selten ist, aber nichts mit Aliens zu tun hat.
2019 haben Forscherinnen und Forscher eine Möglichkeit gefunden, wie sich all das erklären lässt. Das ganze läuft so: Der Stern wird von einem Planeten umkreist. Und der Planet von einem Mond. Vielleicht ist da noch ein weiterer Planet in größerer Entfernung, den braucht es aber nicht zwingend, denn da ist ja auch noch der vorhin erwähnte kleine Begleitstern. Wichtig ist nur, dass da zwei Himmelskörper sind, die über ihre Gravitationskraft miteinander wechselwirken können. Unter bestimmten Bedingungen kann das dazu führen, dass der Planet mit seinem Mond auf eine Bahn gerät, die ihn immer näher an den Stern heranführt. Dann kann der Planet vom Stern verschluckt werden; der Mond, der dadurch plötzlich aus dem gravitativen Griff seines Planeten entlassen wird, aber übrig bleiben. Er befindet sich nun in einer engen Umlaufbahn um den Stern und wird aufgeheizt. Nicht nur das: Er wird regelrecht Schicht für Schicht verdampft. Das führt einerseits dazu, dass sich im Laufe der Zeit eine immer dickere Schicht an Staub um den Stern bildet. Der Stern würde dadurch, wie beobachtet, langsam immer dunkler. Der Mond beziehungsweise seine Reste, sind aber immer noch da und umkreisen den Stern. Er zieht jetzt eine gewaltige Staubspur hinter sich her, immer wieder kommt es durch die Aufheizung zu neuen Staubausbrüchen. Der Staub kann im Laufe der Zeit auch verklumpen und größere Brocken bilden. Aus unserer Sicht sehen wir mal den ganzen Mond vor dem Stern vorüberziehen, inmitten seiner enormen Staubwolke. Mal aber auch nur die Ausläufer des Staubschweifs; mal dickere Klumpen im Staub und mal nicht. Wenn die Bahn des Mondes dann aus unserer Sicht auch noch ein wenig geneigt ist, führt das dazu, das wir nicht alle Verdunkelungsereignisse beobachten können. Wir würden ein unregelmäßiges Muster sehen, genau so wie wir es ja auch tun.
Es braucht eine spezielle Konfiguration von Stern, Mond und Planet damit sowas passieren kann. Das wird nicht häufig vorkommen, aber es gibt viele Sterne da draußen und bei ein paar von ihnen WIRD es vorkommen. Weswegen wir solche Objekte wie Tabbys Stern und ein paar andere ähnliche Sterne beobachten können.
Das klingt alles sehr plausibel. Auf jeden Fall plausibler als irgendwelche Alien-Baustellen. Und, wenn man sich einmal von der Vorstellung gelöst hat, dass nur Außerirdische spannend sein können, es ist auch ein wirklich faszinierender Vorgang. Wir beobachten die langsame Zerstörung eines Himmelskörpers; etwas, was vermutlich überall im Universum immer wieder Mal vorkommt. Etwas, was wir in unserem eigenen Sonnensystem - zum Glück - nicht beobachten können. Aber Tabbys Stern gibt uns einen Blick auf diesen Prozess. Oder auch nicht. Denn genau können wir es natürlich immer noch nicht wissen. Es wird noch viel mehr Beobachtungsdaten brauchen, bevor wir uns sicher sein können, was dort abgeht. Und wahrscheinlich entdecken wir unterwegs noch ein paar neue, seltsame Phänomene. Das Universum wird nicht aufhören, uns zu überraschen.


