

Sternengeschichten
Florian Freistetter
Das Universum ist voll mit Sternen, Galaxien, Planeten und jeder Menge anderer cooler Dinge. Jedes davon hat seine Geschichten und die Sternengeschichten erzählen sie. Jeden Freitag gibt es eine neue Folge - das Universum bietet genug Material für immer neue Geschichten.
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Jul 23, 2021 • 19min
Sternengeschichten Folge 452: Die Keeling-Kurve
Der langsame Atem der Erde
Sternengeschichten Folge 452: Die Keeling-Kurve
Die Keeling-Kurve ist genau das, wonach sie klingt. Eine Kurve. Eine Linie in einem Diagramm, wie man sie in wissenschaftlichen Arbeit zuhauf finden kann. Die Keeling-Kurve aber ist außergewöhnlich. Es hat lange gedauert, sie zeichnen zu können. Lange wurde überhaupt bezweifelt, dass es möglich ist sie zu zeichnen oder dass das überhaupt notwendig ist. Und jetzt, wo wir sie sehen können, zeigt sie uns nicht nur, wie komplex der Rhythmus unseres Planeten ist, sondern auch wie empfindlich das Gleichgewicht ist, dass das Leben auf der Erde ermöglicht.
Die Geschichte der Keeling-Kurve kann man im Jahr 1896 beginnen lassen. Da hat der schwedische Chemiker und Nobelpreisträger Svante Arrhenius zwar nicht als erster, aber als erster wissenschaftlich eindeutig und quantitativ beschrieben, dass Kohlendioxid in der Erdatmosphäre prinzipiell in der Lage ist, die globale Temperatur zu verändern. Arrhenius war auch der erste, der explizit darauf hingewiesen hat, dass die menschlichen Aktivitäten den CO2-Gehalt in der Atmosphäre erhöhen. Ende des 19. Jahrhunderts hat das natürlich noch in einem sehr geringen Ausmaß stattgefunden. Aber auch damals haben wir schon Kohle und Erdöl verbrannt und dadurch CO2 in die Atmosphäre entlassen, das zuvor für Millionen Jahre unter der Erde gespeichert war. Ausgehend vom damaligen Niveau des weltweiten CO2-Ausstoß hat Arrhenius berechnet, dass man eine Erhöhung der Temperatur durch den dadurch ausgelösten Treibhauseffekt erst in ein paar Jahrhunderten messen würde können.
Das Messen war damals überhaupt ein Problem. Man war schlicht und einfach nicht in der Lage, zu messen, wie viel CO2 sich in der Atmosphäre befindet. Oder gar herauszufinden, ob die Menge ansteigt. Natürlich hat man es versucht. Aber die Ergebnisse waren komplett unterschiedlich. Mal hat man den einen Wert gemessen; mal einen anderen. Man ging aber sowieso davon aus, dass die CO2-Konzentration von Ort zu Ort unterschiedlich ist. Und dass alles, was wir an CO2 in die Atmosphäre entlassen, vom Wasser der Ozeane aufgenommen wird. Und wenn es keinen globalen, halbwegs einheitlichen Wert der CO2-Konzentration gibt, dann kann man den auch nicht messen. Es mochte zwar durchaus interessant sein zu wissen, wie viel CO2 an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in der Atmosphäre existiert. Aber globale Messungen hielt man nicht für möglich.
Ein erster Hinweis darauf, dass man die ganze Sache mit dem CO2 doch ein wenig genauer anschauen sollte, kam in den 1950er Jahren. Die Scripps Instituition of Oceanography ist ein Zentrum zur Erforschung der Meere. Es befindet sich in Kalifornien und wurde damals von Roger Revelle geleitet. Er wollte wissen, wie das mit der Aufnahme von CO2 durch die Ozeane genau ist. Wird wirklich das gesamte CO2 aufgenommen, das wir durch Verbrennung und andere Aktivitäten freisetzen? Und wenn es vom Meerwasser aufgenommen wird, wie durchmischt es sich dann? Die wichtigste Frage aber war: Wie findet man so was raus? Kohlendioxid besteht aus einem Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatomen. Das Molekül hat kein Etikett, auf dem steht, dass es aus dem Auspuff eines Autos stammt, aus dem Schlund eines Vulkans oder sonst irgendeiner anderen Quelle. Wie soll man herausfinden, wo die Moleküle herkommen?
Die Antwort lieferte Hans Eduard Suess. Der österreichische Physiker floh vor dem zweiten Weltkrieg ins Ausland und landeten schließlich an der Universität von Kalifornien, gleich in der Nähe der Scripps Institution. Damals interessierte er sich für die C-14-Methode. Denn wenn man das ganze auf atomarer Ebene betrachtet, haben die Teilchen oft doch ein Etikett. Kohlenstoffatome gibt es in unterschiedlichen Variationen. Jedes Atom hat in seinem Kern immer 6 Protonen, ansonsten wäre es kein Kohlenstoff. Die Anzahl der sich ebenfalls im Atomkern befindlichen Neutronen kann aber unterschiedlich sein. Der "normale" Kohlenstoff hat sechs davon, insgesamt sind im Kern also 12 Teilchen, weswegen er auch "C-12" genannt wird. Fast 99 Prozent des gesamten Kohlenstoffs sind C-12. Es gibt aber auch noch andere Varianten; es können auch 7 Neutronen im Kern sein. Dann kriegt man C-13, der knapp ein Prozent der Kohlenstoffmenge ausmacht. Eine winzige Menge aller Kohlenstoffatome ist C-14, hat also 8 Neutronen im Kern. Das ist fast schon ein bisschen viel; so viele Neutronen mag der Kern des Atoms nicht. Er zerfällt daher nach einer gewissen Zeit - was nichts anderes heißt, das C-14 radioaktiv ist. Die sogenannte Halbwertszeit liegt bei 5730 Jahren; hat man also eine bestimmte Menge an C-14 und wartet man 5730 Jahre, ist die Hälfte davon verschwunden. Wartet man noch einmal 5730 Jahren, ist die Hälfte dieser Hälfte weg. Und so weiter.
Ich erkläre das deswegen so ausführlich, weil es für die Geschichte wichtig ist. Und damit ist nicht nur diese Sternengeschichte gemeint, sondern auch die Geschichte an sich. Denn 5730 Jahre sind keine lange Zeit, zumindest nicht wenn man das ganze physikalisch betrachtet. Die Erde etwa ist 4,5 Milliarden Jahre alt. Was auch immer an C-14 an ihrer Entstehung beteiligt war, ist seitdem schon längst radioaktiv zerfallen. Wir finden aber trotzdem überall noch C-14-Atome. Es muss also eine Quelle geben, die ständig neue C-14-Atome produziert. Diese Quelle existiert am Rand der Atmosphäre, wo Teilchen der kosmischen Strahlung mit Atomen der Lufthülle kollidieren. Die dadurch ablaufenden Kernreaktionen erzeugen unter anderem C-14. Der radioaktive Kohlenstoff wird also immer wieder nachgeliefert. Und findet sich daher überall dort, wo sich auch der normale Kohlenstoff findet. Auch und vor allem in Lebewesen, die ohne Kohlenstoff nicht existieren können. Solange ein Lebewesen - ein Baum, ein Tier, ein Mensch - lebendig ist, nimmt es durch die Nahrung immer neuen Kohlenstoff und damit auch eine winzige Menge C-14 auf. Wenn man dann aber erstmal gestorben ist, isst man normalerweise auch nichts mehr. Die zum Zeitpunkt des Todes vorhandene Menge an C-14 beginnt nun also zu verschwinden. Alle 5730 Jahre ist eine weitere Hälfte zerfallen. Hat man nun also alte Knochen gefunden, ein Stück Holz eines alten Bauwerks oder irgendein anderes Material, das früher mal lebendig war und Kohlenstoff enthält, muss man nur die noch vorhandene Menge an C-14 messen und kann daraus berechnen, wie alt der Knochen, das Holz, und so weiter ist.
In der Praxis ist es noch ein bisschen komplizierter und noch komplizierter wird die Sache durch den "Suess-Effekt" der, wenig überraschend, von Hans Suess entdeckt wurde. Der Kohlenstoff, den wir in Form von Erdöl, Kohle oder anderen fossilen Stoffen verbrennen, lag zuvor sehr, sehr lange Zeit unter der Erde. Die fossilen Brennstoffe sind aus Lebewesen entstanden, aus Pflanzen und Tieren, die vor langer Zeit auf der Erde gelebt haben. Die Details lasse ich aus, aber unter bestimmten Umständen können sich daraus nach dem Absterben die organischen Verbindungen bilden, die wir dann "Öl" oder "Kohle" nennen. Das aber braucht viel Zeit, so viel, dass die C-14-Atome in den fossilen Brennstoffen schon quasi komplett zerfallen sind.
Was Suess bei seiner Forschung 1957 nachweisen konnte, war die Tatsache, dass der Anteil von C-14 in der Atmosphäre sinkt. Da die Produktion am Rand der Atmosphäre aber konstant weiterläuft kann das nur heißen, dass es irgendwie verdünnt wird. Das also in letzter Zeit relevante Mengen an Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangt sind, die kein C-14 enthalten. Und die einzige Quelle für diese Art von Kohlenstoff sind die fossilen Brennstoffe. Anders gesagt: Suess konnte, gemeinsam mit Roger Revelle, zeigen, dass sich das von Menschen freigesetzte CO2 in der Atmosphäre anreichert. Das bedeutet aber auch, dass NICHT alles von den Ozeanen aufgenommen wird. Es muss also ein Teil davon in der Atmosphäre verbleiben. Bei seiner weiteren Forschung konnte Revelle zeigen, dass sogar die Mehrheit des CO2 NICHT im Meer landet; die Menge die in der Luft bleibt war so groß, dass man eigentlichen auch global messen können sollte, wie die Menge dort immer mehr wird.
Womit wir jetzt bei Charles David Keeling angekommen sind. Der Amerikaner wurde am 20. April 1928 geboren und hatte sich in seiner Doktorarbeit mit der Messsung von CO2-Mengen beschäftigt. Nicht in der Atmosphäre, sondern in Gewässern und Steinen. Aber mit den sehr präzisen Messgeräten die er dafür konstruierte, hat er dann auch mal nachgesehen, wie viel davon in der Luft rumschwirrt. Die ersten Messungen hat er direkt in Pasadena, an seinem Wohn- und Arbeitsort durchgeführt. Sie schwankten stark und deswegen ging er ein bisschen nach außerhalb, in die Natur. Auch da sah er schwankende Wert, je nach der Tageszeit an der er die Proben genommen hatte. Nachts war mehr CO2 in der Luft als tagsüber. Aber nach einiger Zeit stellte er fest, dass der Wert vom Nachmittag immer gleich war und bei etwa 310 ppm lag. Das "ppm" steht für "parts per million" und heißt so viel, dass von einer Million Moleküle in der Luft nur 310 CO2-Moleküle waren. Die Konzentration lag also bei 0,31 Promille oder 0,031 Prozent. Nicht viel, aber immerhin ein konkreter Messwert. Keeling wollte aber wissen wo die täglichen Schwankungen herkommen und hat dafür ein weiteres Mal die verschiedenen Kohlenstoff-Varianten benutzt. C-12 ist ein wenig leichter als C-13, das ja ein Neutron mehr im Atomkern enthält. Pflanzen, die ja Kohlenstoff und CO2 aufnehmen, mögen das leichtere C-12 lieber. Das Verhältnis von C-13 zu C-12 ändert sich also je nachdem wie stark die Pflanzen gerade Fotosynthese betreiben. Die täglich wechselnden Werte passten genau zur Aktivität der Pflanzen. Die nachmittäglichen Werte blieben aber gleich und bestätigten Keeling darin, dass man auch einen "Hintergrund"-Wert für die CO2-Konzentration in der Atmosphäre messen können müsste, der global gilt.
1956 wurde Revelle auf die Arbeit von Keeling aufmerksam und die beiden taten sich zusammen, um ein entsprechendes Messprogramm zu organisieren. Keeling bekam Fördergelder und besorgte damit extrem genaue Messgeräte. Die stellte er an Orten auf, an denen möglichst keine störenden Einflüsse existierten. Keine Menschen, keine Industrie, keine Pflanzen. Das erste Gerät, mit dem auch die ersten Messungen durchgeführt wurden, kam 1958 auf den Mauna Loa auf Hawaii. Die anderen verteilte er später unter anderem in der Antarktis und in Kalifornien; eines behielt er in seinem Labor um damit überall auf der Welt und mit Flugzeugen hoch in der Atmosphäre eingesammelte Proben zu untersuchen.
Der erste Datenpunkt, der im März 1958 am Mauna Loa gemessen wurde, zeigte eine CO2-Konzentration in der Atmosphäre von 313 ppm. Dann begann die Konzentration zu steigen, sank im Mai aber wieder um im Oktober ein Minimum zu erreichen von dem aus im März wieder Ausgangswert erreicht wurde. Das gleiche passierte im Jahr 1959. Keeling war anfangs ein wenig verwirrt und dachte schon, es wäre doch nicht möglich, eine vernünftige Messung der Hintergrundkonzentration durchzuführen. Vielleicht hatte er doch Störquellen übersehen? Aber er maß weiter und hatte bald die Lösung gefunden. Wieder waren es die Pflanzen. Auf der Nordhalbkugel der Erde gibt es mehr Landmassen als auf der südlichen Hälfte. Deswegen wachsen im Norden auch mehr Pflanzen. Wenn die im Nordhalbkugelfrühling zu blühen beginnen, holen sie jede Menge CO2 aus der Atmosphäre. Gleichzeitig ist auf der Südhalbkugel Herbst und dort lassen die Pflanzen die Blätter fallen. Sie verrotten und setzen CO2 frei. Weil aber im Süden weniger Pflanzen leben als im Norden, gleicht sich das nicht aus. In der zweiten Jahreshälfte ist es dann umgekehrt. Erst nach einem Jahr ist alles wieder auf gleich. Keeling war begeistert von diesem Ergebnis: "Zum ersten Mal können wir dabei zusehen, wie die Natur CO2 aus der Atmosphäre holt um im Sommer Pflanzen wachsen zu lassen und wie es im Winter wieder zurück gegeben wird." Will man etwas poetischer sein, dann kann man sagen: Die regelmäßig schwankenden Werte von Keelings Messungen zeigen, wie das Leben auf der Erde langsam im Laufe eines Jahres ein- und wieder ausatmet.
Keeling sah aber noch etwas anderes: Die Messungen schwankten zwar im Laufe eines Jahres auf und ab. Am Ende eines Zyklus erreichte die CO2-Konzentration aber nie exakt den Ausgangspunkt des Vorjahres. Sondern lag immer ein kleines bisschen darüber. Die mittlere CO2-Konzentration der Atmosphäre stieg an. Genau so wie Svante Arrhenius es 1896 vorhergesagt hatte. Genau so, wie viele Forscherinnen und Forscher es schon seit langem vermutet hatten. Jetzt konnte man es das erste Mal mit konkreten Messungen nachweisen: Die menschliche Aktivität, unser immer weiter steigender Verbrauch fossiler Brennstoffe führt dazu, dass immer mehr CO2 in die Atmosphäre gelangt.
Keeling ist es gelungen, die Messungen Jahr für Jahr weiterzuführen. Es gab immer wieder mal Versuche, das Programm aus finanziellen Gründen einzustellen. Aber Keeling beharrte, lobbyierte und hörte einfach nicht auf zu messen. Heute finden CO2-Messungen nicht nur an Keelings ursprünglichen Stationen statt, sondern überall auf der Welt an vielen Orten und von vielen Institutionen. Deswegen haben wir nun auch eine seit 1958 durchgehende Messreihe der CO2-Konzentration. Das ist die "Keeling-Kurve". Sie ist das Resultat eines eindrucksvollen wissenschaftlichen Projekts. Und sie zeigt uns ebenso eindrucksvoll, was wir gerade mit der Erde anstellen. Die Kurve schwankt immer noch Jahr für Jahr; die Erde atmet immer noch langsam vor sich hin. Aber gleichzeitig steigt die Kurve auch steil nach oben. Jahr für Jahr wird die mittlere CO2-Konzentration größer. Als Keeling mit den Messungen 1958 anfing, lag sie bei 313 ppm. Im Frühjahr 2013 überschritt die Kurve das erste Mal die Marke von 400 ppm. In den 1960er Jahren stieg die Konzentration noch um etwa 0,8 ppm pro Jahr. 20 Jahre später lag das Wachstum bei 1,6 ppm, war also doppelt so schnell. In den 2010er Jahren lag die Wachstumsrate dann schon bei 2,4 ppm. Fast jedes Jahr wird ein neuer Rekordwert erreicht. Im März 2021 hat man einen Wert von 418 ppm gemessen. Das ist viel. Aus den in uralten Eisschichten gefangenen Luftblasen und mit anderen Methoden kann man mittlerweile auch die CO2-Konzentration für Zeitpunkte rekonstruieren, die vor Keelings Messkampagne liegen. Weit davor. Das letzte Mal, als die CO2-Werte vergleichbar hoch waren, war vor mehr als 3 Millionen Jahren, lange bevor es Menschen gab. Wir erhöhen die CO2-Konzentration in einem Tempo, das sehr viel schneller ist, als alle natürlichen Prozesse es tun können. Die Welt hat keine Zeit, sich an diese dramatisch verändernden Bedingungen anzupassen. Die Keeling-Kurve zeigt uns, dass es nicht so weiter gehen kann. Wir steuern mit unserem CO2-Ausstoß auf einen Zustand zu, denn kein Mensch bis jetzt je erlebt hat.

Jul 16, 2021 • 18min
Sternengeschichten Folge 451: Der Treibhauseffekt auf anderen Himmelskörpern
Was heiß macht und was nicht
Sternengeschichten Folge 451: Der Treibhauseffekt auf anderen Himmelskörpern
Der Treibhauseffekt ist ein wichtiges Phänomen. Wir begegnehm ihm heute hauptsächlich in der Diskussion zur Klimakrise in Form des menschengemachten Treibhauseffekt der unseren Planeten immer wieder aufheizt, was ich ja in Folge 434 der Sternengeschichten ausführlich erklärt habe. Es gibt ihn aber auch als ganz natürliches Phänomen. Die Details der Physik und Chemie die dem Treibhauseffekt zugrunde liegen, habe ich in Folge 241 genauer erklärt. Die Kurzversion lautet: Moleküle können unterschiedlich durchlässig für unterschiedliche Arten von Strahlung sein. Unsere Atmosphäre zum Beispiel lässt das sichtbare Licht der Sonne problemlos passieren, weswegen es den Erdboden erwärmen kann. Wenn die Wärme in Form von Infrarotstrahlung dann aber wieder vom Boden wieder zurück ins All strahlen will, trifft sie auf Kohlendioxidmoleküle in der Luft. Oder auf Methan oder Wasserdampf. Das sind Treibhausgase, die das sichtbare Licht mit seiner kurzen Wellenlänge zuvor noch ungehindert durchgelassen haben. Die langwellige Wärmestrahlung nun aber quasi blockieren und teilweise zurück zum Boden schicken. Dadurch heizt sich der Planet weiter auf.
Das ist, wie gesagt, prinzipiell ein natürliches Phänomen und eines, das durchaus wichtig für die Existenz des Lebens ist. Ohne die Atmosphäre der Erde und die darin enthaltenen Treibhausgase wie Wasserdampf, wäre unser Planet viel kälter. Die Durchschnittstemperatur würde circa -18 Grad Celsius betragen. Dass die Erde lebensfreundlich ist, liegt also am natürlichen Treibhauseffekt. Mit dem menschengemachten Treibhauseffekt, also durch die zusätzlichen Treibhausgase die wir in die Atmosphäre entlassen, sind wir aber nun gerade dabei, die Erde lebensfeindlich heiß zu machen. Darum soll es heute aber nicht gehen, so wichtig dieses Thema auch ist. Stattdessen schauen wir auf die anderen Himmelskörper des Sonnensystems. Gibt es dort auch einen Treibhauseffekt und wenn ja, was für Konsequenzen hat das?
Damit ein Treibhauseffekt stattfinden kann, braucht es prinzipiell mal einen Himmelskörper mit einer nennenswerten Atmosphäre. Davon haben wir im Sonnensystem überraschend wenige. Wenn wir die Erde ausnehmen, dann bleiben unter den restlichen Planeten nur die Venus und der Mars. Der Merkur ist ein Planet ohne Lufthülle; der Mond hat auch keine. Die Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun bestehen nur aus dichtem Gas und das Konzept des Treibhauseffekts kann man dort in der Form nicht so anwenden wie bei uns. Die ganzen Asteroiden und die meisten Monde der anderen Planeten sind zu klein, um eine vernünftige Atmosphäre halten zu können. Die einzige Ausnahme ist Titan, der größte Mond des Saturns.
Venus, Mars und Titan: Das sind, neben der Erde, die einzigen Himmelskörper im Sonnensystem bei denen man die Frage nach einem außerirdischen Treibhauseffekt sinnvoll untersuchen kann. Beginnen wir mit dem Mars, der eigentlich ein Grenzfall ist. In Folge 236 habe ich die Atmosphäre des Mars ja schon einmal ausführlich besprochen. Und die Folge mit der Feststellung begonnen, dass er eigentlich gar keine solche hat. Der "Luftdruck" dort beträgt weniger als ein Prozent von dem, was wir hier auf der Erde haben. Es ist also kaum etwas da, was den Mars in Form eine Atmosphäre umgibt. Das was da ist, besteht zwar fast ausschließlich aus dem Treibhausgas Kohlendioxid. Aber weil eben so wenig Atmosphäre vorhanden ist, kann der Mars keine Wärme speichern, da hilft auch das CO2 nicht. Unter anderem deswegen ist der Mars auch so enorm kalt. Es gibt keinen natürlichen Treibhauseffekt, der ihn aufwärmen könnte.
Wir wissen aber, dass es früher in der Geschichte unseres Nachbarplaneten wärmer gewesen sein muss. Wir finden überall auf dem Mars die Spuren von Wasser, das über seine Oberfläche geflossen sein muss. Irgendein Mechanismus muss also den Mars irgendwann einmal wärmer gemacht haben. Wir reden hier von der Zeit kurz nach seiner Entstehung; kurz nach der Entstehung aller Planeten vor 4,5 Milliarden Jahren. Planeten aus Metall und Gestein; mit einer festen Oberfläche die im inneren Bereich des Sonnensystems entstanden sind; Planeten also wie die Erde, die Venus und der Mars, haben bei ihrer Entstehung immer auch eine gewissen Menge an Wasser mitbekommen. Gespeichert im Gestein konnte es durch diverse geologische und chemische Prozesse an die Oberfläche gelangen. Und wenn die von einer passenden Atmosphäre eingehüllt wird, die für Temperaturen zwischen 0 und 100 Grad Celsius sorgt, kann es dort flüssig bleiben und Seen, Flüsse oder gar Ozeane bilden.
Was am frühen Mars für angenehme Temperaturen gesorgt hat, wissen wir noch nicht. Vielleicht war Wasserstoff verantwortlich: Aus geologischen Gründen die genau zu erklären hier jetzt zu weit führen würden, war es auf dem Mars für Wasserstoff einfacher, aus dem Gestein seiner Planetenkruste auszugasen als auf der Erde. Wasserstoff gilt jetzt an sich nicht als klassisches Treibhausgas. Aber in Kombination mit den richtigen anderen Molekülen - zum Beispiel Kohlendioxid, kann es dennoch eine entsprechende Wirkung haben. Vereinfacht gesagt: Wenn Wasserstoffmoleküle mit Kohlendioxidmolekülen kollidieren, können sie durch diese Zusammenstöße zusätzliche Energie aufnehmen. In diesem energiereicheren Zuständen können die Wasserstoffmoleküle dann als Treibhausgas wirken. Wenn der frühe Mars eine der Erde vergleichbar dichte Atmosphäre aus Wasserdampf und CO2 gehabt hat und dazu noch 5 bis 20 Prozent Wasserstoff aus der Planetenkruste ausgegast ist, könnte das für einen ausreichend starken Treibhauseffekt gesorgt haben, um die Temperaturen dort über den Gefrierpunkt zu heben. Vielleicht ist auch etwas anderes passiert; das wissen wir nicht und können es höchstens dann rausfinden, wenn wir den Mars besser als heute und vor allem nicht nur aus der Ferne sondern auch direkt vor Ort erforschen. So oder so: Die Warmzeit auf dem Mars war begrenzt. Der kleine Planet hatte zu wenig Masse um seine Atmosphäre dauerhaft zu halten. Vor allem hatte er zu wenig Masse, um sein Magnetfeld dauerhaft aufrecht zu erhalten. Ohne Magnetfeld ist eine Atmosphäre schutzlos dem Sonnenwind ausgesetzt. Die Teilchen, die die Sonne ständig aus ihrer eigenen Atmosphäre ins Weltall schleudert wirken wie ein Sandstrahler, der die Lufthülle eines Planeten wie des Mars im Laufe der Zeit abträgt.
All das, was dem Mars fehlt, hat die Venus zu viel. Unser anderer Nachbarplanet kann sich über einen Mangel an Atmosphäre wirklich nicht beschweren. Dort herrscht auf der Oberfläche ein Druck, den man bei uns erst 900 Meter tief unter dem Meeresspiegel finden kann. Diese gewaltige dichte Hülle aus Gasen besteht fast komplett aus Kohlendioxid und deswegen gibt es auf der Venus einen Mega-Treibhauseffekt, der die Oberflächentemperatur dort auf 460 Grad Celsius aufheizt. Aber auch diese heute komplett lebensfeindliche Welt war nach ihrer Entstehung wahrscheinlich ein lebensfreundlicher Planet. Die Venus ist fast so groß und schwer wie die Erde und wird bei ihrer Entstehung wahrscheinlich auch ähnlich viel Wasser mitbekommen haben wie wir. Computermodelle zeigen, dass die Bedingungen vor 4,5 Milliarden Jahren dort durchaus nicht unangenehm waren.
Die Venus liegt näher an der Sonne als die Erde, was prinzipiell problematisch ist. Ein paar Faktoren haben aber vielleicht dafür gesorgt, dass sich unser Nachbar trotz der geringeren Distanz zur Sonne nicht zu stark aufgeheizt haben könnte. Die Venus dreht sich heute sehr langsam um ihre Achse. Für eine komplette Drehung benötigt sie 117 Erdtage. Bei uns auf der Erde ist ein Punkt auf der Oberfläche maximal ein paar Stunden dem Sonnenlicht ausgesetzt. Sieht man mal von den Polarnächten in Arktis und Antarktis ab, kommt früher oder später immer die Nacht. Auf der Venus mit ihrer langsamen Drehung kann ein Bereich der Oberfläche aber wochenlang im hellen und warmen Sonnenlicht liegen. Das sollte eigentlich zu einer noch stärkeren Aufheizung führen. Was auch der Fall ist; wenn dann aber ausreichend viel Wasser vorhanden ist, kann das verdampfen und eine dicke Wolkendecken produzieren. Und die schirmt den Planeten dann vor dem Sonnenlicht ab und führt zu einer Abkühlung. Ein weiterer Faktor auf der Venus könnte die Geografie sein. Die Daten die wir heute über die Venus haben, legen nahe, dass es dort früher viel mehr Landfläche gab als auf der Erde, die ja zum größten Teil mit Wasser bedeckt ist. Mehr Land und weniger Ozean bedeutet weniger Wasser, das verdampfen kann und damit auch weniger stark als Treibhausgas in der Atmosphäre wirken kann.
Packt man all das in ein Computermodell zur Simulation der Bedingungen auf der jungen Venus, zeigt sich ein Planet, auf dem es ähnlich lebensfreundlich war wie auf der Erde. Nicht zu heiß, nicht zu kalt und mit flüssigem Wasser auf der Oberfläche. Aber so wie beim Mars hat auch die Venus diesen Zustand nicht lange durchgehalten. Für ein stabiles Klima braucht es ein halbwegs stabiles Gleichgewicht zwischen Quellen und Senken für Treibhausgase. Die Venus hat jede Menge Quellen, aber vernünftige Senken konnte man nicht identifizieren. Dort fehlt zum Beispiel die Plattentektonik die wir hier auf der Erde haben, und die immer wieder im Gestein gebundenes Kohlendioxid tief in die Erdkruste hinab transportiert und für lange Zeit dort hält. Mehr als 700 Millionen Jahre hat die Venus - zumindest im Computermodell - ihre lebensfreundlichen Bedingungen nicht halten können. Danach hat die starke Sonnenstrahlung zu viel Wasser als Wasserdampf in die Atmosphäre befördert; danach hat sich zu viel CO2 dort angesammelt; dann ging es so richtig los mit dem Treibhauseffekt. Eine extrem starke Feedback-Schleife ist entstanden: Der Treibhauseffekt hat die Temperatur erhöht, was noch mehr Treibhausgase in die Atmosphäre befördert hat, wodurch es noch heißer wurde, und so weiter. Am Ende ist die Venus das geworden, was sie heute ist: Eine lebensfeindliche Hitzehölle mit keinem Tropfen Wasser auf ihrer Oberfläche.
Bleibt noch der Titan. In Folge 157 habe ich ihn den "faszinierendsten Mond des Sonnensystems" genannt. Was er meiner Meinung auch ist. Der Saturnmond hat einen Durchmesser von 5150 Kilometer, womit er größer als der Merkur ist. Er ist weit von der Sonne entfernt, und man würde davon ausgehen, dass es dort ziemlich kalt ist. Ist es auch: Die Durchschnittstemperatur an seiner Oberfläche liegt bei -180 Grad Celsius. Trotzdem ist er keine Eiswüste, wie die anderen Monde im äußeren Sonnensystem. Der Titan hat eine Atmosphäre, und was für eine! Der "Luftdruck" dort ist um 50 Prozent höher als auf der Erde; nur dass es natürlich keine Luft ist, die den Mond umgibt. Sie besteht vor allem aus Stickstoff, mit geringen Anteilen von Methan und Argon. Insgesamt ist die Masse der Gase in Titans Atmosphäre aber größer als die der Erde! Und darunter passieren auch jede Menge spannende Sachen. Flüssiges Wasser gibt es nicht, dafür aber flüssiges Methan. Es bildet Flüsse und Seen, es regnet aus Wolken auf den Mond herab. So etwas findet man auf keinem anderen Himmelskörper des Sonnensystems. Was man darüber hinaus auch nur auf dem Titan findet, ist ein "Anti-Treibhauseffekt".
Bleiben wir aber zuerst beim normalen Treibhauseffekt. Eigentlich sollte es auf dem Titan circa -191 Grad Celsius kalt sein. Stickstoff, Methan und Wasserstoffmoleküle in seiner Atmosphäre sorgen aber für einen natürlichen Treibhauseffekt, der die Oberfläche um 21 Grad aufheizen würde. Wasserstoff und Stickstoff wären eigentlich gar keine Treibhausgase. Aber - so wie vorhin beim Mars - es kommt auf die Bedingungen an. In der extrem dichten Atmosphäre des Titan können die Moleküle öfter kollidieren, höherenergetische Zustände einnehmen und so als Treibhausgas wirken. -191 Grad plus ein Treibhauseffekt von 21 Grad: Macht -170 Grad Celsius. So warm ist der Titan aber nicht, was am Anti-Treibhauseffekt liegt. Der funktioniert - wenig überraschend - wie der Treibhauseffekt, nur umgekehrt. Der normale Treibhauseffekt lässt kurzwellige Sonnenstrahlung passieren, die langwellige aber nicht. Am Titan gibt es aber extrem hochliegende Nebelschichten. Sie bestehen vermutlich aus komplexeren Molekülen die aus Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff zusammengesetzt sind. In den äußeren Schichten der Titanatmosphäre können sie sich bilden, weil dort das energiereiche Sonnenlicht die Methanmoleküle in einzelne Kohlenstoff- und Wasserstoffatome aufspalten kann. Das geht nur dort draußen an der Grenze zum All; weiter nach unten kann dieser energiereiche Teil der Sonnenstrahlung durch die dichter werdende Atmosphäre nicht gelangen. Dort oben aber können sich die einzelnen Atome nun zu neuen Molekülen verbinden und die wirken als Anti-Treibhausgase. Sie reflektieren einen Teil des normalen Sonnenlichts, der nun nicht mehr zur Titanoberfläche gelangt und nichts zu ihrer Erwärmung beitragen kann. Gleichzeitig lassen sie langwellige Wärmestrahlung passieren und erleichtern so seine Abkühlung. Insgesamt für das zu einer Abkühlung von 9 Grad, was den natürlichen Treibhauseffekt von 21 Grad auf 12 Grad reduziert. Deswegen ist der Titan nur knapp 10 Grad wärmer als er es sein sollte und nicht knapp 20 Grad.
In diesem Ausmaß existiert der Anti-Treibhauseffekt nur auf dem Titan. Auf der Erde gibt es zwar Schwefelverbindungen, die durch Vulkane hoch hinaus in die Atmosphäre geschleudert werden können und dort ähnlich wie auf dem Saturnmond eine Abkühlung verursachen. Der Effekt ist aber sehr viel geringer als auf dem Titan. Der seltsame Saturnmond ist eine komplett fremde Welt - aber eine, von der wir trotzdem etwas über die Erde lernen können. Um die Klimakrise die auf unserem Planeten stattfindet, besser zu verstehen, müssen wir auch genau wissen, wie sich die Treibhausgase verhalten. Dazu gehört nicht nur das Kohlendioxid, sondern auch das Methan. Das hat einen komplizierteren Aufbau als CO2 und ist deswegen schwieriger im Labor zu untersuchen. In der dichten, starken Atmosphäre des Titan gibt es aber wirklich viel Methan und dort kann man es quasi in einem natürlich Labor studieren. Und wir haben dort ja auch schon eine Raumsonde hingeschickt - 2005 ist die Huygens-Sonde durch die Atmosphäre des Titan geflogen und auf seiner Oberfläche gelandet. Mit den Daten die dabei gesammelt wurden, konnte man besser verstehen, wie Methan auf unterschiedliche Teile der Sonnenstrahlung reagiert. Und damit auch bessere Modelle erstellen, um die Klimakrise auf der Erde zu erforschen.
Der Treibhauseffekt ist wichtig. Venus, Erde und Mars sind zur gleichen Zeit entstanden und waren sich nach ihrer Entstehung sehr ähnlich. Vermutlich gab es damals auf allen drei Himmelskörpern flüssiges Wasser und lebensfreundliche Bedingungen. Heute ist nur noch die Erde übrig; der Mars ist eine Eiswüste und die Venus eine Hitzehölle. Mit verantwortlich dafür ist der Treibhauseffekt. Er hat unsere Nachbarn lebensfeindlich gemacht; dem irdischen Leben dagegen dauerhaft das Überleben ermöglicht. Das zeigt nur um so deutlicher, dass wir alles daran setzen müssen, diesen Zustand durch den menschengemachten Treibhauseffekt nicht zu zerstören.

Jul 9, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 450: Kippelemente im Klimasystem
Kipplige Klimakrise
Sternengeschichten Folge 450: Kippelemente im Klimasystem
"Kippelemente" klingt wie etwas, das man in einem Möbelhaus kaufen kann. Es hat aber etwas mit dem Klima unseres Planeten zu tun. Und weil das Klima und seine menschengemachte Veränderung ein enorm relevantes Thema ist, handelt diese Folge der Sternengeschichten davon. Kippelemente sind wichtig, wenn wir verstehen wollen, was die Zukunft auf der Erde für uns bereit hält und welche Folgen unsere Handlungen haben können. Sie sind auch wichtig, wenn es darum geht, das komplexe System zu verstehen, dass unsere Erde ist. So ein Planet ist viel mehr als nur ein heller Punkt am Himmel; jeder Planet da draußen ist eigene, vollständige und komplizierte Welt. Die Erde allerdings ist - noch - der einzige Planet, den wir im Detail erforschen können. Wenn wir all die Welten da draußen im Sonnensystem und dem Rest des Universums verstehen wollen, müssen wir mit der Arbeit hier bei uns auf der Erde anfangen.
Genau darum war das Klima ja schon öfter mal Thema in den Sternengeschichten. Vereinfacht gesagt ist Klima das, was aus dem Wetter wird, wenn man jede Menge Statistik drauf wirft. Oder anders gesagt: Wetter ist das, was jetzt gerade in unserer Atmosphäre stattfindet. Der Regen, der irgendwo fällt; die Sonne die anderswo scheint oder der Wirbelsturm, der aufzieht. Betrachtet man all diese Wetterphänomene statistisch; berechnet man Durchschnittswerte und schaut sich lange Zeiträume von mindestens ein paar Jahrzehnten an: Dann hat man es mit dem Klima zu tun.
Das Wetter kann sich schnell ändern. Eine Nacht kann frostig sein; ein paar Stunden später scheint aber unter Umständen schon wieder die Sonne und die Temperaturen sind 10 bis 20 Grad höher. Regen und Sonne können sich innerhalb von Minuten abwechseln. Änderungen des Klimas laufen viel langsamer ab. Die durchschnittliche Temperatur, gemittelt über ein ganzes Land und eine komplette Jahreszeit wird sich von einem Jahr auf das nächste nicht dramatisch ändern. Eben weil man Durchschnittswerte verwendet, haben kurzfristige oder kleinräumige Wetteränderungen nur eine geringe Auswirkung. Aber auch das Klima ändert sich. Betrachten wir Jahrhunderttausende, dann sehen wir zum Beispiel, wie sich Eiszeiten und Warmzeiten auf dem Planeten abwechseln, wie ich etwa in Folge 55 der Sternengeschichten schon erklärt habe. Seit circa 150 Jahren findet eine Klimaveränderung statt, die - dafür dass es sich um eine Änderung im Klima handelt - dramatisch schnell abläuft. Diesen Klimawandel haben wir Menschen verursacht, in dem wir immer mehr Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen haben - darüber habe ich ausführlich in Folge 434 der Sternengeschichten gesprochen. Die Veränderung im Klima läuft in diesem Fall so ungewöhnlich schnell und hat so dramatische Auswirkungen, dass man sie nicht mit dem harmlos klingenden Wort "Wandel" bezeichnen, sondern korrekter von einer "Klimakrise" sprechen sollte.
Wenn es aber um Kippelemente geht, dann wird dieser schnelle Wandel des Klimas noch einmal verschärft. Vielleicht kann man sich die Veränderung des Klimas wie einen Fahrstuhl vorstellen; so einen alten Aufzug, der gemütlich in Schrittgeschwindigkeit oder noch langsamer zwischen Stockwerken hinauf und hinunter fährt. Das würde dem natürlich Klimawandel entsprechen. Wir Menschen haben in den letzten 150 Jahren die zulässige Gewichtsgrenze in der Aufzugskabine aber deutlich überschritten. Anstatt gemächlich nach unten zu fahren, saust der Fahrstuhl nun rasant dem Boden entgehen. Aber würden wir den Aufzug ein wenig entlasten, würde er die Geschwindigkeit wieder verringern. Den Einfluss eines Kippelements könnte man in diesem Bild mit dem Reißen des Seils vergleichen, das die Kabine hält. Dann fällt der Fahrstuhl unaufhaltsam in den Keller und wir können nichts mehr dagegen unternehmen.
Das klingt dramatisch. Das ist es auch. Die Geschichte der Kippelemente wird uns zeigen, wie enorm komplex das Klimasystem der Erde ist. Und dass ein ausreichend komplexes System seinen Zustand oft erschreckend schnell verändern kann. Ein wenig wissenschaftlicher beschrieben als vorhin im Beispiel mit dem Fahrstuhl, kann man sich ein Kippelement als kritische Schwelle vorstellen, bei der schon eine kleine Änderung ausreicht um den Zustand eines Systems deutlich und nachhaltig zu verändern. Wenn ich meine Kaffeetasse morgens mitten auf den Frühstückstisch stelle, dann steht sie dort relativ sicher. Wenn ich dann die Zeitung lese, mich über die Nachrichten ärgere und wild herumgestikuliere (alles nur fiktive Beispiele natürlich!), dann kann es sein, dass ich dabei gegen die Tasse stoße. Ich werde sie dabei ein wenig verschieben und sie wird ihre Position auf dem Tisch ändern. Sie steht dann nicht mehr dort, wo sie vorher stand, aber ansonsten ist nicht viel passiert. Habe ich sie aber aus Versehen ganz an den Rand gestellt, dann befindet sie sich an einer kritischen Schwelle. Dann reicht eine winzige Berührung, um sie vom Tisch auf den Boden zu befördern und so das System "Kaffeetasse" drastisch zu verändern.
Die Idee eines "Kippelements" oder "Tipping Points", wie das englische Fachwort dazu heißt, ist nicht schwer zu verstehen. Deutlich schwerer ist es, solche Kippelemente im komplexen System des irdischen Klimas zu identifizieren. Wo stehen - bildlich gesprochen - die Klimakaffeetassen auf der Erde, die wir lieber nicht anstupsen sollten? Die Forschung zu diesem Thema ist noch jung; das Konzept der Kippelemente für das Klima hat der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber im Jahr 2000 zur Diskussion gestellt. Gemeinsam mit anderen Forschern aus Deutschland und Großbritannien hat der dann 2008 einen Fachartikel geschrieben. Darin wurde zuerst einmal exakt definiert, was ein Kippelement im Klimasystem ausmacht. Angenommen man hat eine Eigenschaft im System, die von einem bestimmten Parameter abhängt. Zum Beispiel die Eigenschaft, dass ein bestimmter Teil der Erdoberfläche von Eis bedeckt ist. Und es reicht schon eine kleine Änderung aus so dass sich diese Eigenschaft qualitativ ändert. In unserem Beispiel wäre das der Fall, wenn schon eine kleine Änderung der Durchschnittstemperatur ausreicht, um die Eigenschaft "Ein Teil der Erdoberfläche ist von Eis bedeckt" dauerhaft und deutlich zu verändern. Also keine Änderung von "Ein Teil der Erde ist von Eis bedeckt" zu "Ein kleinerer Teil der Erde ist von Eis bedeckt". Sondern eher eine Zustandsänderung zu "Die Erde ist eisfrei".
Wir werden auf das Beispiel mit dem Eis zurückkommen; in ihrer Arbeit haben Schellnhuber und seine Kollegen die Definition von Kippelementen aber noch ein wenig weiter eingeschränkt. Ihnen ging es nicht um alle möglichen Kippelemente, die prinzipiell auftreten können. Sondern um die, die durch menschliche Eingriffe in das Klimasystem verursacht werden können und die relevant für die Entscheidungen sind, die wir treffen müssen, wenn wir mit der Klimakrise umgehen wollen. Es nützt zum Beispiel nichts, wenn wir wissen, dass unsere Aktivitäten ein Kippelement in mehr als 1000 Jahren auslösen werden. Das sollte uns zwar interessieren; aber wir werden keine politischen Entscheidungen treffen, die so weit in die Zukunft reichen. Dazu sind wir gesellschaftlich nicht in der Lage; so weit voraus zu denken sind wir Menschen nicht gewöhnt.
Anhand dieser (und ein paar anderer) Kriterien, haben die Forscher nun probiert, für unsere zukünftigen Entscheidungen relevante Kippelemente im Klimasystem der Erde zu identifizieren. Das ist schwierig - weil das Klima deutlich mehr ist, als nur die statistische Betrachtung des Wetters. Über lange Zeiträume hinweg wird das Klima auch von geologischen Phänomenen beeinflusst. Von der Veränderung bei Meeresströmungen. Davon, wie viele Pflanzen wachsen; wie viele Bakterien im Meer leben, und so weiter. Aber ein paar ziemlich sichere Kandidaten für Kippelemente konnten gefunden werden. Zum Beispiel das Meereis in der Arktis. Also nicht die Gletscher, die man auf Grönland findet, sondern die Eisdecke, die den arktischen Ozean bedeckt. Dieses Eis ist hell und kann Sonnenlicht gut reflektieren. Dieser Teil des Lichts trägt dann auch deutlich weniger zu einer Erwärmung der Erde bei. Wenn wir aber zum Beispiel durch den vermehrten Ausstoß von Treibhausgasen dafür sorgen, dass die Temperaturen immer weiter steigen, wird auch das arktische Eis schmelzen. Das führt zu einer negativen Feedback-Schleife. Das Meerwasser ist deutlich dunkler als das Eis. Es kann weniger Licht reflektieren; stattdessen nimmt es die Sonnenenergie auf und erwärmt sich. Wodurch NOCH mehr Eis schmilzt, noch mehr dunkles Wasser sichtbar wird, das noch mehr Wärme aufnehmen kann. Bis das ganze kippt, das Meereis verschwunden ist und auch nicht wiederkommt, weil es dafür zu warm ist. Das Klimasystem der Erde hat dann einen neuen Zustand erreicht, einen bei den es keinen kühlenden Effekt mehr durch die Reflexion am arktischen Eis gibt.
Das Eis, dass sich auf den Landflächen von Grönland und der westlichen Antarktis befindet ist ein weiterer Kippunkt. Das Eis auf Grönland beispielsweise ist bis zu drei Kilometer dick. Anders gesagt: Die Oberfläche des Eispanzers befindet sich entsprechend weit über dem Meeresspiegel und dort ist es - wie auf allen hohen Bergen - kalt. Erwärmt sich die Erde, schmilzt der Eispanzer. Seine Oberfläche rückt nach unten, wo es wärmer wird und das Eis NOCH schneller schmilzt. Wieder setzt eine Feedbackschleife ein; wieder kippt das System in einen neuen Zustand. Und dann fehlt nicht nur die Reflexionswirkung des Eises; das ganze Schmelzwasser hat auch den Meeresspiegel um bis zu sieben Meter ansteigen lassen. Die Daten zeigen uns, dass der Kipppunkt in diesem Fall schon bei einem globalen Anstieg der Temperatur um 2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erreicht sein könnte. Das ist genau das "2-Grad-Ziel", auf das wir die Klimakrise einbremsen wollen und an dem wir zu scheitern drohen, weil wir die entsprechenden Maßnahmen nicht treffen.
Ein weiteres Kippelement sind die Permafrostböden in der Arktis; also in Sibirien und Kanada. So nennt man Boden, der dauerhaft gefroren ist, im Sommer wie im Winter. Was gut ist, denn in diesem Boden befindet sich jede Menge CO2 und Methan. Es stammt aus organischem Material, als von Tieren und Pflanzen, die vor langer Zeit gestorben sind und seitdem von Bakterien zersetzt werden. Der gefrorene Boden hält diese Treibhausgase fest; wird es aber wärmer, dann taut er auf und entlässt CO2 und Methan in die Atmosphäre. Wo sie den Treibhauseffekt verstärken, für noch mehr Erwärmung sorgen, was den Permafrost noch schneller abtauen lässt. Feedback - Kipppunkt - neuer Zustand des Klimasystems. Ein Zustand, der sich nicht korrigieren lässt, denn es hat Jahrtausende gedauert, bis sich das ganze Material dort eingelagert hat. Im neuen Zustand des Klimasystems wird der Boden so schnell nicht wieder frieren; als Lagerplatz für Treibhausgase ist der Permafrostboden verloren.
Kippelemente haben aber nicht nur mit dem Auftauen von Eis und Boden zu tun. Auch diverse Strömungsphänomene können kippen. Das Meer ist nicht einfach nur ein Haufen Wasser. In den Ozeanen existieren Strömungen, die um den ganzen Planeten reichen. Wenn an der Oberfläche viel Wasser verdunstet oder sich viel Eis bildet, dann steigt der Salzgehalt des verbleibenden Wassers. Salziges Wasser sinkt nach unten; dort gibt es andere Strömungen; Wassermassen werden vermischt und weniger salziges Wasser kann wieder aufsteigen. Die Realität der ozeanischen Strömungen ist noch sehr viel komplizierter; ihre Existenz ist für uns aber enorm wichtig. Der "Golfstrom" zum Beispiel transportiert gigantische Mengen an warmen Wasser aus der Karibik über den Atlantik und an Nordeuropa vorbei. Dort kühlt das Wasser in der Arktis ab und sinkt nach unten, wo es in der Tiefe wieder zurück nach Süden fließt. Dieses "Förderband" bringt aber auch Wärme nach Europa, weswegen es zum Beispiel in Großbritannien halbwegs erträgliche Temperaturen hat und nicht so kalt ist, wie etwa im nördlichen Kanada, obwohl beide Regionen ungefähr gleich weit vom Nordpol entfernt sind. Das kalte und dichte Salzwasser, das vor Grönland in die Tiefe sinkt, treibt den Golfstrom an. Wenn nun vermehrt Süßwasser von schmelzenden Eisdecken und Gletschern ins Meer strömt, wird dieses Absinken erschwert und der Golfstrom wird schwächer. Das wird jetzt schon beobachtet und wenn er ganz ausfallen sollte, wird es deutliche Auswirkungen auf das Klima in Nordeuropa haben. Ähnliche Kippelemente können den jetzt regelmäßigen Monsun in Asien oder Afrika destabilisieren, was sehr viel mehr extreme Flut- oder Dürrekatastrophen zur Folge hätte.
Auch die großen Wälder der Erde sind potentielle Kippelemente. Der Amazons etwa ist auch deswegen ein Regenwald, weil über dem Wald jede Menge Wasser verdunstet, dass dann in der ganzen Region abregnet. Je mehr der Wald schwindet; je mehr davon abgeholzt wird, je mehr Waldbrände stattfinden, desto kritischer wird die Lage. Es wird immer weniger Regen geben und der verbleibende, auf regelmäßigen Regen eingestellte Wald, wird absterben. Eine Graslandschaft wird sich entwickeln und die hat einen völlig anderen Einfluss auf das Klima als ein Wald, in dem ja auch jede Menge Kohlenstoff in Form von Bäumen langfristig gespeichert ist.
Es gibt noch weitere Kippelemente; ihnen allen gemeinsam aber ist, dass durch sie die Erde vergleichsweise schnell in einen deutlich anderen Zustand versetzt wird als vorher und sich der ursprüngliche Zustand langfristig nicht mehr wiederherstellen lässt. Die Erforschung komplexer, chaotischer Systeme ist schwierig. Exakte Vorhersagen sind noch schwieriger. Sicher aber ist: Je mehr die Erde sich erwärmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Kippelement ausgelöst wird. Und wenn das einmal passiert ist, landen wir im schlimmsten Fall bei einer Kaskade. Der gekippte Zustand macht die Lage noch dramatischer, was neue Kippelemente auslöst, und so weiter. Noch ist es nicht so weit. Es muss nicht so weit kommen. Wir können etwas dagegen unternehmen. Und wir müssen das auch tun. Wir sollten uns nicht auf das Risiko einlassen, dass die Kippelemente darstellen. Ist es einmal so weit, bleibt uns nichts anderes übrig, als irgendwie zu versuchen, mit dem neuen Zustand des Klimasystems nach dem Umkippen klar zu kommen. Wir können aber nicht exakt vorhersagen, wie dieser Zustand aussehen wird. Da ist es doch besser, wir lassen es gar nicht so weit kommen. Denn wir wissen sehr gut, was wir tun können, um die Erwärmung der Erde zu begrenzen. Wir müssen es nur tun…

Jul 2, 2021 • 15min
Sternengeschichten Folge 449: Die Chromosphäre der Sonne
Sonnige Farbenspiele
Sternengeschichten Folge 449: Die Chromosphäre der Sonne
Am 12. Mai 1706 befand sich der britische Kapitän Henry Stanyan gerade in Bern. Er beobachtete etwas, was man nicht oft beobachten kann: Eine totale Sonnenfinsternis. Mehr als vier Minuten verdunkelte sich der Himmel komplett. Und als die Sonne danach gerade wieder sichtbar wurde, sah Stanyan einen "blutroten Streifen" aus Licht, der von der linken Seite der Sonne ausgehend 6 bis 7 Sekunden lang sichtbar war. Das Licht war heller als die Venus, wie Stanyan bemerkte; er konnte sehen wie die Dinge dadurch einen Schatten warfen. Er wusste nicht, worum es sich dabei handelt - aber er schrieb sofort einen Brief an John Flamsteed, den königlichen Astronom an der Sternwarte in Greenwich um zu fragen, was das seltsame Licht gewesen sein konnte. Eine Antwort auf seine Frage erhielt er nicht; Flamsteed schrieb zwar sehr ausführlich zurück um zu erklären, wie man genau bestimmen können, welche Ortszeit in Bern zum Zeitpunkt der Finsternis geherrscht hatte. Zum roten Licht hatte er aber nichts zu sagen.
Heute geht man im Allgemeinen davon aus, dass Henry Stanyan die erste konkrete Beobachtung des Teils der Sonne gemacht hat, die wir die "Chromosphäre" nennen. Wir haben es nicht mit dem Inneren unseres Sterns zu tun; es geht um die Atmosphäre der Sonne. Was man sich aber nicht so vorstellen darf, wie die Atmosphäre hier auf der Erde. Unser Planet ist ein Objekt aus Metall und Gestein, mit einer festen Oberfläche, die von einer Hülle aus diversen Gasen umgeben ist. Die Sonne ist ein Himmelskörper, der komplett aus Gas besteht. Fast ausschließlich Wasserstoff und Helium; im Kern 15 Millionen Grad heiß. Sie hat keine feste Oberfläche im eigentlichen Sinn. Aber man kann durchaus von einer "Sonnenoberfläche" sprechen und wenn man das tut, dann meint man damit die sogenannte "Photospäre". Das bedeutet "Lichthülle" und wenn man die Sonne betrachtet - was man ohne entsprechende Vorkehrungen natürlich nicht so einfach tun sollte, wenn man keine Augenschäden riskieren will - dann ist es genau das, was man dort sieht. Die Photosphäre ist die Gasschicht der Sonne, aus der das Licht stammt, das wir beobachten können.
In den Kern der Sonne, in ihre tief liegenden Schichten können wir nicht blicken. Die Lichtteilchen, die von dort zu uns kommen, werden in alle Richtungen gestreut, weil das Gas dort extrem dicht ist. Erst dort, wo genügend Platz ist, kann sich Licht mehr oder weniger ungehindert direkt nach außen bewegen und es ist dieses Licht, dass wir auf der Erde sehen. Bei der Sonne ist die Photosphäre ungefähr 400 Kilometer dick und an ihrem Ende ist noch lange nicht Schluss. Das da noch etwas ist, wusste man schon lange. Bei einer totalen Sonnenfinsternis schiebt sich ja der Mond von der Erde aus gesehen genau vor die Sonnenscheibe. Da beide Objekt für uns zufällig annähernd gleich groß erscheinen, kann der Mond die Sonne auch komplett bedecken. Sobald er das tut, werden rund um ihn herum aber leuchtende, wabernde, strahlenförmige Lichter sichtbar. Dieser wie eine Krone aussehende Struktur wird darum auch "Korona" genannt und stellt die äußerste Schicht der Sonnenatmosphäre dar. Ich hab über sie schon ausführlich in Folge 134 der Sternengeschichten gesprochen; wir können sie deswegen normalerweise nicht sehen, weil das Gas dort zwar enorm heiß ist, aber auch extrem dünn. Das Licht, das davon ausgeht ist viel zu schwach, als das wir es sehen könnten. Es wird vom Licht aus der Photosphäre komplett überstrahlt und nur wenn diese bei einer Finsternis durch den Mond verdeckt ist, können wir das Leuchten der Korona wahrnehmen.
Die unterste Schicht der Sonnenatmosphäre ist also die Photosphäre. Ganz außen ist die Korona. Und dazwischen? Da ist das, um das es heute gehen soll: Die Chromosphäre. Sie schließt sich an die Photosphäre an und ist bei der Sonne circa 2000 Kilometer dick. Die Dichte des Gases nimmt stark ab; an der Grenze zur Photosphäre findet man noch circa 100 Billiarden Atome pro Kubikzentimeter. Das klingt viel, ist aber das, was man hier auf der Erde als "Grobvakuum" bezeichnen würde. Also das, was man in "vakuumverpackten" Lebensmitteln finden würde beispielsweise, wo die Dichte nur circa 100 mal niedriger ist als bei normalem Luftdruck in der Erdatmosphäre. An der äußeren Grenze der Chromosphäre ist die Dichte aber mehr als eine Million mal geringer geworden. Auch die Temperatur nimmt ab, von ungefähr 5500 Grad Celsius an der Grenze zur Photosphäre, auf circa 3500 Grad an der äußeren Grenze.
Die Chromosphäre besteht aus Gas, was auch sonst. Und ebenfalls wenig überraschend aus Wasserstoff und Helium, die beiden Hauptbestandteile der Sonne. Interessant wird es aber, wenn man sich die Spektrallinien anschaut. Ich hab die bis jetzt ja immer vereinfacht so erklärt: Wenn Licht durch Gas hindurch strahlt, dann können die Atome aus denen das Gas besteht, ein paar dieser Lichtteilchen absorbieren. Schaut man sich das Licht dann ganz genau an, spaltet es also in seine Bestandteile auf, was so viel heißt wie: Man misst ganz genau, wie viel Licht bei den unterschiedlichen Wellenlängen vorhanden ist, dann sieht man, dass bei bestimmten Wellenlängen sehr viel weniger Licht vorhanden ist als bei anderen Wellenlängen. Oder anders gesagt: Man sieht das ganze bunte Licht des in die Regenbogenfarben aufgespaltenen Sonnenlichts, mit ein paar dunklen Linien dazwischen. Und das ist ja auch so. Es gibt aber zwei verschiedene Arten von Spektrallinien, nämlich Absorptionslinien und Emissionslinien. Die dunklen Linien im Sonnenlicht sind Absorptionslinien. Jedes Atom hat eine ganz charakteristische Anordnung von Elektronen in seiner Hülle. Je nachdem wie diese Teilchen angeordnet sind, können sie nur Licht mit ganz bestimmten Wellenlängen aufnehmen und deswegen kann man aus dem Muster dunkler Linien herausfinden, um welche Atome es sich handelt.
Umgekehrt geht es aber auch: Wenn man von außen Energie in die Elektronen steckt - zum Beispiel durch Kollisionen der Atome oder durch die Bestrahlung mit Licht - dann geben sie diese Energie irgendwann auch wieder ab. Auch das tun sie nur bei einer ganz charakteristischen Wellenlänge. Und anstatt einer dunklen Linie kriegt man nun eine helle, farbige Linie, eine Emissionslinie. Die Details sind kompliziert; was genau man kriegt hängt - sehr vereinfacht gesagt - davon ab, ob man eine Lichtmischung hat, die von heißem Material ab- und durch kühles Material gestrahlt wird oder umgekehrt. Wir sehen normalerweise nur Absorptionslinien im Sonnenlicht, weil wir normalerweise auch nur das Licht des heißen Sonneninneren sehen, das durch die kühlere Photosphäre strahlt. Ist das aber bei einer Finsternis blockiert, können wir auch die Emissionslinien sehen, die vom kühleren, dünnen Gas der Chromosphäre ausgesandt werden. So hat man übrigens das chemische Element Helium entdeckt, von dem ich in Folge 141 mehr erzählt habe. Bei einer Sonnenfinsternis im Jahr 1868 hat man die Emissionslinien der Chromosphäre beobachtet und darin Linien gefunden, die von keinem damals bekannten chemischen Element verursacht worden sein konnten. Also hat man dieses neue Element nach dem Ort seiner Entdeckung "Helium" genannt, vom griechischen Wort "helios" für Sonne. Erst später konnte man es dann auch auf der Erde nachweisen.
Aber von Kapitän Stanyan im Jahr 1706 bis 1868 ist es ein großer Sprung; schauen wir also kurz nochmal zur Geschichte. Nach Stanyan haben auch andere Forscher immer wieder dieses seltsame rote Leuchten beobachtet, das bei einer Finsternis am Rande der Sonne kurz sichtbar wurde. Edmund Halley war zum Beispiel einer davon und 1851 hat der britische Astronom George Airy sie das erste Mal detailliert beschrieben. Er sah eine "gezackte" Struktur in der er Berge zu erkennen glaubte, die auf der Sonnenoberfläche wären. Weswegen er der Schicht auch den Namen "Sierra" gab, also eine geografische Bezeichnung für ein Gebirge. Ein schöner Name, der sich allerdings nicht durchgesetzt hat. Das Wort "Chromosphäre" stammt vom Astronom Joseph Lockyer, der gemeinsam mit und unabhängig vom Franzosen Jules Janssen die vorhin erwähnte Entdeckung des Heliums im Jahr 1868 gemacht hat. Er nahm die rötliche Farbe der Gasschicht zum Anlass, sie "Chromosphäre", also "Farbhülle" zu taufen.
Diese rote Farbe sagt uns auch, aus was sie besteht. Wasserstoff kann verschiedene Emissionslinien erzeugen, eine der hellsten liegt bei einer Wellenlänge von 656,3 Nanometern. Sie wird auch "H-Alpha-Linie" genannt und befindet sich im roten Teil des Lichtspektrums. Und da die Chromosphäre rötlich leuchtet, muss dort jede Menge Wasserstoff sein. Die H-Alpha-Linie ist auch praktisch, wenn man die Chromosphäre beobachten will, wenn gerade mal keine Finsternis stattfindet. Dann kann man einen Filter verwenden, der nur Licht mit der H-Alpha-Wellenlänge durchlässt und kriegt einen guten Blick auf die Chromosphäre. Dort kann man dann auch gleich die "Berge" bewundern, die Airy zu sehen glaubte. Heute nennen wir sie allerdings "Spikulen". Entdeckt und halbwegs vernünftig beschrieben hat diese Strukturen der italienische Astronom Angelo Secchi im Jahr 1877. Er hat sie mit Flammen verglichen, die wie bei einem Feuer ständig aus der darunter liegenden Schicht der Sonne empor zündeln. Womit er nicht ganz unrecht hatte. Erstens sieht es genau so aus und zweitens stammen die Spikulen tatsächlich aus der Photosphäre. Sie entstehend dort, wo in der Photosphäre auch Sonnenflecken auftreten, also dort, wo die Magnetfelder gerade besonders stark sind. Diese Magnetfelder sind auf der Sonne ständig in Bewegung, sie werden von dem heißen, elektrisch geladenen Material quasi mitgerissen. Und entlang solcher Magnetfelder kann sich heißes Material auch ausbreiten. Die Spikulen tun das in eine Höhe von bis zu 10.000 Kilometer und können bis zu 1000 Kilometer dick sein. Das Material schießt mit mehr als 100 Kilometer pro Sekunde in die Chromosphäre; nach höchstens fünf Minuten fällt alles wieder zurück zur Sonne. Es ist also tatsächlich ein wenig so, wie Flammen oder noch besser: Wie Spritzer aus heißem Gas die aus der brodelnen Sonnenoberfläche nach oben schießen. Wie sie genau entstehen und sich ausbreiten ist einerseits kompliziert, andererseits noch nicht völlig klar. Es kommt auf die Wechselwirkung der Magnetfelder an, aber auch auf Stoßwellen im sich bewegenden Material der Sonne selbst. Sie sind die "Gischt des wogenden Photosphären-Ozeans", wie es der deutsche Astronom Otto Kiepenheuer sehr poetisch genannt hat.
Ebenfalls in der Chromosphäre beobachten kann man Filamente und Protuberanzen. Wobei Protuberanzen eigentlich nichts anderes sind, als Filamente die man von der Seite betrachtet. Und beides ist Material von der Sonne, das mit enorm hoher Geschwindigkeit extrem hoch hinaus geschleudert werden kann. Sie entstehen - sehr vereinfacht gesagt - durch magnetische Kurzschlüsse, bei denen sehr viel Energie frei wird. Es sind quasi enorme Explosionen, die das heiße Gas wegschleudern, dass sich dann entlang der Magnetfeldlinien in Bögen weit durch die Chromosphäre hinauf und wieder zurück bewegt. Genau so eine Protuberanz hat vermutlich auch Kapitän Stanyan damals im Jahr 1706 beobachtet.
Es gibt noch diverse andere dynamische Phänomene im Gas der Chromsophäre zu sehen und wir sind immer noch dabei, alles zu verstehen. Was wir auf jeden Fall noch nicht verstehen, ist der Zusammenhang zwischen Chromosphäre und der weiter außen liegenden Korona. Eigentlich sollte man ja davon ausgehen, dass es einfach so weiter geht, wie bisher. Das Gas wird immer weniger dicht und die Temperatur sinkt immer weiter. Was die Dichte angeht, stimmt das auch. Die Temperaturen steigen aber jenseits der Chromosphäre wieder an. Und das durchaus heftig: Bis auf ungefähr eine Million Grad! Das ist viel, auch wenn man berücksichtigt, dass so weit außen kaum noch Gas vorhanden ist, das heiß werden kann. Aber das, was da ist, IST heiß. Und irgendwo muss die Energie dafür herkommen. Es kann sein, dass diese Energie aus den weiter unten liegenden Magnetfeldern kommt; es kann auch sein dass sie durch Schallwellen übertragen wird, die im heftigen Gebrodel der Sonnenoberfläche entstehen. Aber wie es genau ist, wissen wir nicht.
Die Chromosphäre markiert also quasi auch die Grenze unseres Verständnis der Sonne. Was wir sehen können - die Photosphäre - und was darunter liegt - das Sonneninnere - verstehen wir halbwegs gut. Aber je weiter wir nach außen gehen, desto unklarer werden die Dinge. Zum Glück haben wir mittlerweile Teleskope mit passenden Filtern, wir haben Weltraumteleskope die sich fast innerhalb der Korona aufhalten können - wir müssen also nicht auf eine Sonnenfinsternis warten um einen nur sekundenlangen Blick auf das rötliche Leuchten der Chromosphäre zu haben. Die Sonne ist der Stern, der die Grundlage des Lebens auf der Erde ist und der mit seinem Verhalten das ganze Sonnensystem dominiert. Wir sollten alle Teile der Sonne verstehen und ganz besonders die Chromosphäre!

Jun 25, 2021 • 16min
Sternengeschichten Folge 448: Der Asteroid Apophis
Zuständigkeiten beim Weltuntergang
Sternengeschichten Folge 448: Der Asteroid Apophis
Ein Astronom (so gut wie nie eine Astronomin) steht in der Kuppel einer Sternwarte. Er blickt durch ein Teleskop und erschrickt plötzlich. Er springt auf, läuft zu einem Computer, tippt ein bisschen darauf rum. Panisch greift er zum Telefon während wir am Bildschirm zusehen können, wie ein Asteroid mit einer großen Explosion auf der Erde einschlägt. Tja. So ungefähr sehen die Szenen zu Beginn der einschlägigen Katastrophenfilmen aus, in deren weiteren Verlauf die Menschheit den Weltuntergang durch einen Asteroideneinschlag abwehren muss.
Solche Filme mögen zwar unterhaltsam sein. Mit der Realität haben sie aber natürlich nichts zu tun. Wenn wir wirklich mal einen Asteroid finden sollten, der sich auf einem Kollisionskurs mit der Erde befindet, würde das ganz anders ablaufen. Was man sehr schön am Beispiel des Asteroids Apophis sehen kann - bei dem es tatsächlich mal so aussah, als könnte er auf der Erde einschlagen.
Roy Tucker, David Tholen und Fabrizio Bernardi, zwei amerikanische Astronomen und einer aus Italien, haben am 19. Juni 2004 bei Beobachtungen am Kitt Peak National Observatorium in Arizona einen Asteroid entdeckt. Was an sich noch nicht weiter ausgewöhnlich wäre. Asteroiden werden andauernd entdeckt; es gibt ja auch enorm viele davon im Sonnensystem. So wie alle frisch entdeckten Asteroiden hat auch dieser eine sogenannte "provisorische Bezeichnung" bekommen. Also eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die vom Zeitpunkt der Beobachtung abhängen. In diesem Fall war das "2004 MN4". Und haben die drei dann sofort den amerikanischen Präsidenten, die UNO, das Pentagon oder den ADAC angerufen? Nein, natürlich nicht. Wieso auch? Man wusste ja zu diesem Zeitpunkt nur: Da ist ein Asteroid. Und konnte aus den ersten Beobachtungen nur eine vorläufige Umlaufbahn berechnen. Das ist immer so; das ist auch verständlich: Je weniger Beobachtungspunkte man hat, desto ungenauer ist die daraus berechnete Bahn. Man wusste zwar, dass es sich um einen erdnahen Asteroid handelt, also die Gruppe von Asteroiden die sich zwischen den Umlaufbahnen von Venus und Mars befinden und von denen ich in Folge 271 mehr erzählt habe. Aber ansonsten wusste man noch nicht viel.
Es dauert, bis man eine Bahn WIRKLICH gut bestimmt hat. So wie man das in den Filmen oft sieht, funktioniert es jedenfalls nicht. Das fängt schon damit an, dass man nicht mit den eigenen Augen durchs Teleskop schaut. Da hängt eine Kamera dran, die Aufnahmen macht. Diese Aufnahmen schaut man sich nachher auf einem Computer an und vergleicht sie mit früheren Bilder der gleichen Himmelsregion. Man sucht nach Lichtpunkten, die auf dem neuen Bild zu sehen sind, auf dem alten aber nicht. Das kann dann aber natürlich ein schon bekannter Asteroid sein, der sich gerade durch die entsprechende Gegend am Himmel bewegt. Oder ein Satellit. Oder ne Supernova. Oder sonst irgendwas. Man muss ein paar mehr Bilder machen und schauen, ob sich der Lichtpunkt ein bisschen bewegt. Idealerweise nicht im Abstand von ein paar Minuten - in so einer kurzen Zeit bewegt sich nicht viel - sondern in ein paar Stunden oder Tagen. Wenn es sich bewegt und wenn es vorher nicht bekannt war, dann stehen die Chancen gut, dass es sich um einen Asteroid handelt. Das kurze Stück der Umlaufbahn, die man dann in den Aufnahmen direkt beobachtet hat, kann man benutzen, um auf die komplette Umlaufbahn zu schließen. Aber halt nur innerhalb von - anfangs noch sehr großen - Fehlergrenzen.
Man kann also nicht einfach durch ein Teleskop schauen und aus einer einzigen Beobachtung sofort wissen, ob und wo der Asteroid einschlagen wird. Es wird also auch niemand aufspringen um den Präsidenten anzurufen. Was man aber sehr wohl macht und das auch sehr schnell, ist die Meldung an das "Minor Planet Center". Diese Einrichtung der Internationalen Astronomischen Union ist die offizielle Sammelstelle für alle Beobachtungen von Asteroiden, Kometen und anderen kleinen Himmelskörpern. Hat man etwas unbekanntes entdeckt, dann beeilt man sich aus zwei Gründen, das MPC zu informieren: Erstens, um die eigene Priorität anzumelden. Wer die Entdeckung als erstes dem MPC meldet, gilt auch als die Person, die den Asteroid offiziell entdeckt hat. Und zweitens, um an mehr Daten zu kommen. Denn irgendwann ist die Beobachtungsnacht zu Ende. Spätestens wenn die Sonne aufgeht. Oder schon früher, wenn Wolken kommen. Anderswo auf der Erde ist es aber noch Nacht und dort kann weiter beobachtet werden. Und wenn in der folgenden Nacht schlechtes Wetter ist, müssen die Beobachtungen anderswo durchgeführt werden, wo der Himmel klar ist. Es kann auch sein, dass der Asteroid vom eigenen Standpunkt aus gar nicht mehr am Himmel zu sehen ist; anderswo aber schon. Kurz gesagt: Ist eine Entdeckung erst mal beim MPC registriert, können alle anderen die das wollen, die entsprechenden Daten sehen. Die Seite des Minor Planet Center ist öffentlich im Internet einsehbar. Und viele Beobachterinnen und Beobachter schauen dort regelmäßig nach, bei welchen Objekten noch Messungen nötig sind.
Solche Beobachtungen fanden in den Monaten nach der Entdeckung von 2004 MN4 statt und die Bahn des Asteroids konnte immer genauer berechnet werden. Am 21. Dezember 2004 flog er in der Nähe der Erde vorbei, wodurch er besonders gut beobachtet werden konnte. Mit den dabei gewonnenen Daten konnte man die Bewegung des Objekts weiter in die Zukunft berechnen. Und stellte fest: Am 13. April 2029 würde er ganz besonders nahe an der Erde vorbeifliegen. Ein klein wenig erschreckend nahe… So nahe, dass man eine Kollision nicht ausschließen konnte. Es gibt zwei wichtige Datenbanken, die sich mit der Gefahr durch erdnahe Asteroiden beschäftigen: Eine ist "Sentry", das "Earth Impact Monitoring" der NASA, die andere heißt "NEODyS" und wird von den Universitäten Pisa und Valladolid (in Italien und Spanien) betrieben. Beide verarbeiten die Daten des Minor Planet Center quasi automatisch und prüfen, ob irgendein Asteroid eine Gefahr für uns darstellen könnte. Und beide entdeckten die potenzielle Kollision für den 13. April 2029.
Am 23. Dezember 2004 berechneten diese Dienste eine Kollisionwahrscheinlichkeit von 1 zu 300, also circa 0,3 Prozent. Später am gleichen Tag hatte man schon mehr Daten zur Verfügung und konnte die Bahn genauer berechnen. Die neue Kollisionwahrscheinlichkeit lag nun bei 1 zu 62, also 1,6 Prozent Chancen auf eine Kollision. Am 25. Dezember 2004 gab es noch mehr Daten und eine Kollisionswahrscheinlichkeit von 2,2 Prozent. Das ist ein ziemlich außergewöhnlicher Vorgang, denn normalerweise läuft die Sache anders. Anfangs hat man wenig Daten und kennt die Bahn nur grob. Deswegen kann man sehr oft nicht ausschließen, dass eine Kollision stattfindet; die Chancen das sie tatsächlich passiert sind aber sehr gering. Es ist viel wahrscheinlicher, dass die wahre Umlaufbahn an der Erde vorbei führt und man das ziemlich schnell erkennt, wenn mehr Beobachtungen vorhanden sind. Je mehr Daten, desto weiter sinkt die Kollisionwahrscheinlichkeit: Das ist das, was üblicherweise passiert. In diesem Fall war es aber umgekehrt: Je besser man die Bahn bestimmte, desto HÖHER war die Wahrscheinlichkeit einer Kollision.
In dieser Situation haben sich die beteiligten Forscherinnen und Forscher übrigens tatsächlich Gedanken darüber gemacht, ob und wen sie anrufen sollten. Aber auch hier lief alles deutlich anders ab als im Kino. Da waren keine Kontrollräume mit großen Bildschirmen, blinkenden Symbolen, und so weiter. Es war der 25. Dezember, es war Weihnachten. Die Forscherinnen und Forscher waren keine Angestellten der Regierung, sondern ganz normale Leute die an Unis gearbeitet haben. Beziehungsweise an diesem Feiertag eben zuhause waren. Und eigentlich mit ihren Familien feiern wollten, dann aber doch an ihren Computern gesessen sind, Daten ausgewertet haben und sich Emails geschrieben haben. Es gab damals keinen offiziellen Ablaufplan, wer zu informieren sei. Hätten die amerikanischen Leute im Team den US-Präsidenten - damals George W. Bush - anrufen sollen? Wie genau? Nur weil man Astronom ist, hat man ja nicht unbedingt die Nummer des Präsidenten? Hätten die italienischen und spanischen Astronom:innen ihre Staatsoberhäupter informieren sollen? Und was hätten die dann getan?
Übrigens: Geheimhalten hätte sich so etwas auch nicht. Das wird in den Kinofilmen ja gern mal gemacht, "damit keine Panik ausbricht". Aber wie ich schon gesagt habe: Die Beobachtungsdaten, die jeweils aktuell berechneten Umlaufbahnen und die Kollisionswahrscheinlichkeiten stehen alle vollständig und öffentlich im Internet. Das wird live und automatisch aktualisiert; das kann man nicht geheimhalten. Und selbst wenn, dann würde es den Astronom:innen erstens auffallen, dass da plötzlich alle Daten über einen bestimmten Asteroid gelöscht worden sind. Und zweitens wäre das Ding ja immer noch am Himmel zu sehen! Und man kann den Leuten nicht verbieten, zum Himmel zu schauen; man hätte den Asteroid trotzdem weiter beobachtet.
Und eben WEIL alles über den potenziell gefährlichen Asteroid öffentlich im Internet einsehbar war, haben immer mehr Astronominnen und Astronomen auf der ganzen Welt Beobachtungen angestellt und an das Minor Planet Center geschickt. Am 27. Dezember 2004 konnte man die Bahnberechnung ein weiteres verbesseren. Die Kollisionswahrscheinlichkeit stieg weiter, auf 2,7 Prozent. Am Nachmittag des 27. Dezember wurde dann ein "precovery" gemacht. Das ist wie ein "discovery", nur in der Vergangenheit. Es funktioniert so: Hat man ein Objekt entdeckt und kennt eine vorläufige Umlaufbahn, dann kann man die Bewegung nicht nur in die Zukunft berechnen, sondern natürlich auch für die Vergangenheit. Und wenn man weiß, wo ein Asteroid in der Vergangenheit war, kann man in Datenbanken nach Aufnahmen dieser Himmelsregion suchen, die aus ganz anderen Zwecken gemacht worden sind. Und wo der Asteroid vielleicht unbemerkt abgebildet worden ist. Man kann ja nicht immer ALLE Lichtpunkte auf so einem Bild im Detail untersuchen, vor allem dann, wenn man gar nicht auf Asteroidensuche ist. In diesem Fall hat man aber genau so ein Bild aus der Vergangenheit entdeckt, auf dem der Asteroid zu sehen war. So etwas ist super: Denn bei der Bahnberechnung kommt es darauf an, Daten für möglichst weit auseinander liegende Zeitpunkte zu haben. Jetzt konnte man also die ganzen Beobachtungen der Gegenwart mit dem Bild aus der Vergangenheit kombinieren. Mit einem Schlag wurde die Umlaufbahn sehr viel exakter und zwar so exakt, dass man ausschließen konnte, dass der Asteroid am 13. April 2029 mit der Erde kollidiert.
Man kannte die Bahn jetzt auch genau genug, um nicht mehr die provisorische Bezeichnung "2004 MN4" verwenden zu müssen. Immer dann, wenn die Bewegung eines Asteroiden einigermaßen sicher beschrieben werden kann, darf man ihm einen "richtigen" Namen geben. Die Entdecker entschieden sich in diesem Fall für "Apophis", nach dem altägyptischen Gott der Finsternis und des Chaos. Und wahrscheinlich auch nach dem bösen Alien in der Fernsehserie "Stargate SG-1", von der David Tholen und Ray Tucker große Fans waren.
Ganz sicher war man sich aber immer noch nicht, was Apophis und die Erde angeht. So ein erdnaher Asteroid fliegt ja nicht nur einmal an der Erde vorbei, sondern immer wieder. Für den 13. April 2029 war man jetzt zwar sicher. Aber auch 2036, 2051 und 2068 waren sehr nahe Begegnungen vorhergesagt bei denen man eine Kollision vorerst nicht ausschließen konnte. In diesem Fall haben weitere Beobachtungen auch nur bedingt geholfen. Denn es ist verdammt schwer, vorherzusagen, was NACH einer nahen Begegnung passiert. Der vorherberechnete Abstand zwischen der Erde und Apophis für den 13. April 2029 liegt bei nur 31.750 Kilometer über der Erdoberfläche. Bei diesem geringen Abstand wird die von der Erde auf den Asteroid ausgeübte Gravitationskraft besonders stark, er kriegt quasi einen ordentlichen Schubs und wird danach auf einer anderen Bahn weiterfliegen als zuvor. Wie dieser Schubs genau ausfallen wird, lässt sich allerdings nur schwer vorhersagen. Weswegen die Prognosen für die weiteren Begegnungen unklar waren.
Deswegen hat man Apophis weiter beobachtet. Er kam immer wieder in der Nähe der Erde vorbei - nie so nahe, dass es gefährlich werden würde. Aber doch so nahe, dass man ihn nicht nur mit normalen Teleskopen beobachten kann, sondern auch mit Radarteleskopen. Das heißt, man konnte Radarstrahlen von der Erde zu Apophis schicken, sie dort abprallen lassen und die Reflexion auf der Erde messen. Dadurch lässt sich der Abstand zwischen Erde und Apophis extrem genau bestimmen, was auch die Bahnbestimmung genauer macht. Im Laufe der Jahre konnte man langsam immer weiter Entwarnung geben. 2036 würde er an uns vorbeifliegen; 2051 ebenso. Als letztes noch offen war eine potenzielle Kollision am 12. April 2068, mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,00026 Prozent. Nicht mehr viel und eigentlich nichts, über das man sich groß sorgen muss. Aber nach Messungen während eines Vorbeiflugs von Apophis an der Erde am 6. März 2021 konnte man die Bahnbestimmung ein weiteres Mal verbessern. Und damit war dann klar, dass er auch 2068 nicht die Erde treffen wird.
Apophis wird im 21. Jahrhundert nicht mit der Erde kollidieren. Was das 22. Jahrhundert angeht, kann man noch keine Aussagen machen. So weit lässt sich die Umlaufbahn eines erdnahen Asteroiden nicht mit der nötigen Exaktheit berechnen. Aber selbst wenn Apophis in ferner Zukunft doch mal auf Kollisionskurs sein sollte, wird er keinen Weltuntergang verursachen. Er hat einen Durchmesser von circa 325 Metern, was zwar reicht, um die Region, in der er abstürzen würde, gewaltig zu verwüsten. Aber nicht, um ein globales Massensterben zu verursachen, so wie damals bei den Dinosaurieren, wo ein 10 Kilometer großer Asteroid mit uns kollidiert ist. Und im 22. Jahrhundert hat man ja dann hoffentlich die Techniken zur Asteroidenabwehr, die ich in den Folge 76, 77 und 78 vorgestellt habe, schon im Griff und kann der Sache entspannt entgegensehen. Und bis dahin hat man sich dann vermutlich auch geeinigt, wer wen zu welchem Zeitpunkt anrufen soll…

Jun 18, 2021 • 17min
Sternengeschichten Folge 447: Sol und Dhanus - Zeitmessung auf dem Mars
Außeriridsche Kalenderkunde
Sternengeschichten Folge 447: Sol und Dhanus - Zeitmessung auf dem Mars
Derzeit - und vermutlich auch noch in absehbarer Zukunft - ist unser Nachbarplanet ausschließlich von Robotern bewohnt. Wir Menschen stellen uns zwar schon seit Jahrhunderten vor, wie es ist dorthin zu reisen und dort zu leben. Ein Flug zum Mars mit Menschen an Bord und erst recht dort dauerhaft zu leben ist aber nicht nur ein enorm komplexes Vorhaben, sondern auch extrem gefährlich. Wir haben noch nicht einmal richtig angefangen, all die Probleme zu lösen, die für so etwas gelöst werden müssen und einen ganzen Haufen Probleme vermutlich noch nicht mal entdeckt. Vielleicht kriegen wir es hin, einen kurzen Besuch dort zu absolvieren. Es wird aber auf jeden Fall noch ein wenig dauern, bis Menschen auf dem Mars auch dauerhaft leben. Trotzdem muss man sich auch jetzt schon ein wenig Gedanken darüber machen, wie man bestimmte Dinge dort organisiert. Zum Beispiel die Zeitmessung.
Der Mars ist ein Planet. Ein wenig kleiner als die Erde, aber auch dort gibt es das, was es hier auf der Erde gibt: Nämlich Tag und Nacht. Der Mars rotiert um seine Achse und so wie dadurch auf der Erde die Sonne auf- und untergeht, passiert das auch auf dem Mars. Die Erde braucht bekanntlich 24 Stunden für eine Umdrehung (bzw. ein kleines bisschen weniger, aber dazu gleich mehr). Das ist der "Sonnentag", den man von einem "Sterntag" unterscheiden muss, wie ich in Folge 307 ausführlich erklärt habe. Man muss die Rotation eines Himmelskörpers ja immer in Bezug auf irgendeinen konkreten Punkt messen. So ein Bezugspunkt können die Sterne sein; die sind so weit weg, dass sie ihre Position nicht verändern, während die Erde - oder der Mars - sich um die Achse dreht. Ich kann mir also einen bestimmten Stern aussuchen, seine Position messen und dann warten, bis sich der Mars genau so weit gedreht hat, bis ich den Stern exakt wieder an der gleichen Position sehen kann. Die Dauer dieser Rotation ist ein Sterntag und auf der Erde sind das 23 Stunden, 56 Minuten und 4,1 Sekunden. Diese Zeitspanne ist wichtig, wenn man an astronomischen Beobachtungen interessiert ist. Für den Alltag ist aber die Sonne viel wichtiger. Misst man jetzt also die Zeit die vergeht, bis die Sonne nach einer Rotation der Erde wieder exakt an der gleichen Position des Himmels steht, kriegt man einen "Sonnentag" und der ist ein wenig länger als der Sterntag. Denn während die Erde um ihre Achse rotiert, hat sie sich ja auch ein kleines Stückchen entlang ihrer Bahn um die Sonne herum bewegt. Was bedeutet, dass die Sonne jetzt ihre scheinbare Position am Himmel ein bisschen verändert hat und die Erde sich noch ein bisschen weiter drehen muss, um das auszugleichen. Deswegen ist der Sonnentag mit 24 Stunden um knapp 4 Minuten länger als der Sterntag.
Aber wir waren ja eigentlich am Mars. Dort dauert der Sterntag 24 Stunden 37 Minuten und 22,66 Sekunden; der Sonnentag ist auch hier mit 24 Stunden, 39 Minuten und 35,24 Sekunden länger. Dass die Tageslänge am Mars bis auf die knapp 40 Minuten identisch mit der Tageslänge der Erde ist, ist übrigens reiner Zufall. Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten die die Rotationsdauer der Planeten irgendwie ordnet. Wie schnell sich ein Planet um seine Achse dreht, hängt - zumindest vereinfacht gesagt - vor allem von den ganzen chaotischen Prozessen ab, die während der Planetenentstehung stattgefunden haben. Die ganzen Kollisionen, die notwendig sind, damit aus kleinen Himmelskörpern große Planeten entstehen, bestimmen am Ende auch, wie sich der Planet um seine Achse dreht. Auf der Venus dauert ein Tag mehr als 100 Erdtage; auf dem Saturn nur wenige Stunden.
Die Dauer eines Sonnentags auf dem Mars, also die 24 Stunden 39 Minuten und 35,24 Sekunden, werden als "Sol" bezeichnet. Ein bisschen ein komisches Wort, weil es ja auf Latein "Sonne" bedeutet und es eigentlich um den Mars geht. Aber man hat es eben gewählt, um den SONNENtag zu bezeichnen. Es hat übrigens auch nichts mit dem "Sol" zu tun, das man in den alten Folgen der Fernsehserie "Star Trek" hören kann. Dort wird damit ja die Geschwindigkeit des Raumschiff Enterprise bezeichnet; bzw. das Ausmaß der Überlichtgeschwindigkeit. Nur das im englischen Original der Serie nie jemand von "Sol" spricht, da wird immer nur "Warp" verwendet. Warum man sich für die deutsche Übersetzung ein neues Wort ausgedacht hat - "sol" soll "speed over light" bedeuten - kann ich nicht sagen. In der Wissenschaft hat man es aber so oder nicht mit Überlichtgeschwindigkeitsraumschiffen zu tun und da steht "Sol" für den Sonnentag am Mars.
Jetzt könnte man sich fragen, welche Rolle es überhaupt spielt, wie lang ein Tag auf dem Mars ist. Wohnen ja eh noch keine Menschen dort, bei denen irgendwann der Wecker klingelt und die zur Arbeit müssen. Oder die Abends schnell nach Hause müssen, um nicht von der Dunkelheit überrascht zu werden. Das ist richtig - aber wir haben im Laufe der Zeit jede Menge Raumsonden, Landeeinheiten und Rover auf dem Mars abgesetzt, wie ich ja schon in Folge 429 erzählt habe. Und denen ist die Uhrzeit nicht egal. Also im Prinzip schon, aber man will mit den Dingern am Mars ja arbeiten. Und muss dabei natürlich auf den Wechsel von Tag zu Nacht aufpassen. Im Dunkeln fährt es sich auch für einen Marsrover schlecht; der muss wissen, wohin er fährt und dazu muss er Bilder von der Umgebung machen. Das gilt umso mehr für die Forschung: Wenn man am Mars irgendeinen Stein untersuchen will, irgendwelche Experimente durchführt: Dann braucht man dazu Licht. Und das bisschen an Wärme, was auf dem eiskalten Planeten untertags gibt. In der dunklen und bis zu -100 Grad kalten Nacht kann man viele Dinge nicht machen.
Die Menschen, die auf der Erde die Aktivitäten der Marsmissionen planen, müssen sich also zwangsläuig nach den dortigen Gegebenheiten richten. Wenn also eine Landeeinheit oder ein Rover auf der Oberfläche unseres Nachbarplaneten aufsetzt - was man natürlich auch eher dann macht, wenn dort die Sonne scheint - wird das als "Sol 0" bezeichnet. Das hat sich deswegen durchgesetzt, weil man natürlich nicht sofort mit der Arbeit loslegen kann. Erst mal muss alles geprüft werden, und so weiter und die eigentlich Arbeit kann frühestens am nächsten Tag losgehen. Beziehungsweise eben am nächsten Sol, der dann offizieller Sol 1 der Mission ist. Bei der NASA - in den ersten 60 Jahren der Marsmissionen die einzige Organisation die überhaupt etwas erfolgreich auf dem Mars landen lassen konnte - hat sich ein ganzer Haufen neuer Begriffe eingebürgert, um den Überblick über die Zeit zu behalten. Mit "yestersol" wird der vorherige Sol bezeichnet; analog ist "tosol" der aktuelle Sol und "solmorrow" der kommende Sol. Auf deutsch gibt es solche neuen Wörter noch nicht, hier kommt man aber mit "gestern", "heute" und "morgen" im Prinzip aber auch mit Begriffen aus, die im Gegensatz zu den entsprechenden englischen Wörtern kein "tag" bzw. "day" beinhalten. Und in der Wissenschaft sowieso immer englisch geredet.
Es gibt übrigens keine globale Zählung der Marstage. Jede Mission fängt wieder neu bei Sol 0 an und zählt die verstreichende Zeit individuell. Aber was, wenn irgendwann doch einmal Menschen auf dem Mars leben? Dann wird sicher nicht jede neue Gruppe von frisch gelandeten Siedlungswilligen ihre eigene Zählung mit Sol 0 starten. Dann wird man sich auf eine gemeinsame Zeitmessung einigen müssen. Das fängt dann zuerst bei der Messung der Uhrzeit an. Wir brauchen ja für den Alltag auch kleinere Zeiteinheiten als nur Tage. Würde man einfach eine irdische Uhr mit auf den Mars bringen, hätte man ein Problem: Die hört bei 24 Uhr auf, zeigt danach 0 Uhr an und beginnt einen neuen Tag. Schon am ersten Sol würde also alles aus dem Ruder laufen, weil ja die knapp 40 Minuten fehlen, die ein Marstag länger als ein Erdtag ist.
Eine schöne Lösung hat sich der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson für seine Mars-Trilogie ausgedacht. Hier gibt es Uhren, die um Punkt Mitternacht einfach für 39 Minuten und 36 Sekunden stehen bleiben. Man hat also jede Nacht eine Art "Geisterstunde" in der es keine offizielle Uhrzeit gibt. Was aber auch nicht tragisch ist, weil man um die Zeit ja sowieso oft schläft. Man kann auch einfach Uhren bauen, die ein wenig langsamer laufen. Dann hätte ein Sol immer noch 24 Stunden wie ein Tag auf der Erde. Nur dass eine Mars-Stunde dann knapp 61 irdische Minuten dauert, eine Mars-Minute 61,6 irdische Sekunden und eine Mars-Sekunde 1,027 Erd-Sekunden. Das ist vielleicht ein bisschen gewöhnungsbedürftig - aber wir alle haben uns doch schon mal gewünscht, dass ein Tag ein wenig länger dauert, weil wir mit der Arbeit noch nicht fertig geworden sind oder wir gerade sehr viel Spaß haben. Auf dem Mars wäre es dann genau so!
Man kann natürlich auch ein ganz anderes System basteln. Falls wir nicht nur auf dem Mars wohnen, sondern weiterhin auf der Erde und auch noch Kontakt zwischen den beiden Planeten besteht, dann wäre es natürlich wünschenswert, wenn beide zumindest eine gemeinsame Basis haben. Eine Sekunde - die offizielle wissenschaftliche Einheit für die Zeitmessung - sollte überall gleich lange dauern. Dann müsste man auf dem Mars die traditionelle Einteilung der Minute in 60 Sekunden, der Stunde in 60 Minuten und des Tages in 24 Stunden aufgeben. Und würde dann zB einen Mars-Sol bekommen, der 25 Stunden dauert, wobei jede Stunde 67 Minuten und jede Minute 53 Sekunden hat. Was vermutlich enorm verwirrend wäre, aber den Leuten im Laufe der Zeit genau so normal vorkommen würde wie unsere 24/60/60-Einteilung, die ja eigentlich auch seltsam ist, wenn man genauer darüber nachdenkt.
Es reicht aber nicht, nur die Tage und Stunden in den Griff zu kriegen. Wir brauchen am Mars auch noch einen Kalender um den Ablauf der Jahre zu messen. Wie das auf der Erde funktioniert, habe ich schon vor langer Zeit in Folge 5 der Sternengeschichten erklärt. Ein Jahr, also ein Umlauf der Erde um die Sonne dauert ein bisschen mehr als 365 Tage. Weswegen wir alle paar Jahre ein Schaltjahr mit 366 Tagen einführen müssen, damit alles halbwegs passt. Und was die Einteilung des Jahres in Monate angeht, ist bei uns alles ziemlich konfus. Wie ich in Folge 101 genauer erklärt habe, haben wir im Laufe der Zeit immer wieder am Kalender rumgebastelt, weswegen jetzt manche Monate 30 Tage haben, manche 31, der Februar überhaupt nur 28, sofern er nicht gerade 29 Tage hat.
Auf dem Mars hätte man die Chance, das gleich von Anfang an ordentlich zu machen. Das hat sich der Raumfahrtingenieur Thomas Gangale auch gedacht und schon 1985 einen entsprechenden Kalender vorgeschlangen. Dieser "Darische Kalender" - benannt nach seinem Sohn Darius - muss erst mal damit klar kommen, dass ein Marsjahr 668,5907 Sols dauert. Auch hier müssen wir also mit Schaltjahren arbeiten: Ein Zeitraum von 10 Marsjahren enthält sechs Jahre mit 669 Sols und vier mit 668 Sols. So oder so ist das sehr viel länger als das Jahr auf der Erde. Weswegen man auf dem Mars auch nicht mit 12 Monaten auskommt. Der Darische Kalender enthält 24 Monate, wobei auf vier Monate mit 28 Sols immer ein fünfter Monat mit 27 Sols folgt. Bis auf die Schaltjahre, die einen Sol länger sind; da hat der letzte Monat des Kalenders auch 28 Sols. Was die Wochen angeht läuft auf dem Mars alles gleich wie auf der Erde. Jede Woche hat sieben Sols, was praktisch ist, weil so ein Marsmonat immer genau vier Wochen zu je sieben Sols lang ist. Es sei denn, man hat gerade einen Monat mit nur 27 Sols. In dem Fall entfällt dieser Tag einfach. Wäre dieser letzte Tag eines Monats also laut Kalender ein Sonntag, dann geht es vom Samstag direkt zum Montag weiter. Was ebenfalls gewöhnungsbedürftig ist, aber den Vorteil hat, das man sich nicht so Sachen fragen muss wie: Auf welchen Wochentag fällt denn Weihnachten dieses Jahr? Der Kalender des Mars ist fix; jedes Datum hat immer den gleichen Wochentag.
Nur für die Namen hat sich Gangale ein paar neue Begriffe ausgedacht. Am Mars gibt es nicht Montag, Dienstag, und so weiter. Die Marswoche beginnt mit dem Tag "Solis", dann kommt "Lunae", dann "Martis", "Mercurii", "Jovis", "Veneris" und die Woche endet mit "Saturni". Das sind einfach nur die lateinischen Bezeichnungen für Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Saturn und Venus. Und auch auf der Erde haben die Wochentage ja ihren Ursprung in den Himmelskörpern - was man an "Sonntag", "Montag" oder zb dem englischen "Saturday" noch gut hören kann. Die 24 Monate hat Gangale nach den Sternbildern der Ekliptik benannt, also den Sternbildern, die wir auch als Sternzeichen aus dem Horoskop kennen. Davon gibt es aber nur 12, weswegen er auch noch die entsprechenden Bezeichnungen der Sternzeichen aus der altindischen Sprache Sanskrit benutzt hat. Das Marsjahr beginnt also am Solis, dem 1. Sagittarius, dem Monat der nach dem Schützen benannt ist. Dieser Monat endet am 28. Sagittarius, einem Saturni. Dann folgt der 1. Dhanus, wie das Sternbild Schütze auf Sanskrit heißt. Wer gerne ungewöhnliche Wörter hört - hier ist die Liste der restlichen 22 Marsmonate: Capricornus, Makara, Aquarius, Kumbha, Pisces, Mina, Aries, Mesha, Taurus, Rishabha, Gemini, Mithuma, Cancer, Karka, Leo, Simha, Virgo, Kanya, Libra, Tula, Scorpius, Vrishika.
Das Marsjahr beginnt übrigens nicht im tiefsten Winter wie bei uns. Bzw. gilt das ja auf der Erde nur für die Nordhalbkugel; im Süden feiert man Silvester mitten im Sommer. Gangale hat seinen Kalender so gelegt, dass der erste Tag eines Jahres mit dem Frühlingsanfang auf der nördlichen Hemisphäre des Mars zusammenfällt. Outdoorparties sind aber am Mars trotzdem nicht zu empfehlen; egal welche Jahreszeit: Dort ist es eiskalt!
Man kann noch weiter herumbasteln, um einen Kalender für den Mars zu bauen. Und das hat man natürlich auch gemacht, sowohl in der Science-Fiction als auch in der Wissenschaft. Mal mit weniger Monaten, mal mit längeren Wochen; mal mit Übereinheiten wie "Quartalen". Mal fängt das Jahr im Frühling an, mal nicht. Und so weiter. Und genaugenommen ist das alles zwar ganz interessant. Aber doch auch ein wenig Fleißarbeit. Bis auf dem Mars ein Bedarf nach einem Kalender herrscht, wird noch sehr, sehr viel Zeit vergehen. Und wenn dann irgendwann doch einmal Menschen dort leben sollten, dann werden wir es vermutlich sowieso so machen, wie wir es immer tun. Und uns nicht an irgendwelche gut geplanten und organisierten Vorgaben halten. Sondern aus unseren Geschichten, Bräuchen und Traditionen irgendein sehr kompliziertes und unhandliches Regelwerk basteln und uns weigern, auch nur irgendwas davon zu ändern.

Jun 11, 2021 • 12min
Sternengeschichten Folge 446: Das Konzil der Riesen
Die Wächter der Lokalen Gruppe
Sternengeschichten Folge 446: Das Konzil der Riesen
Heute geht es um das "Konzil der Riesen". Das klingt ein bisschen wie aus einem Fantasy-Roman. Hat aber gar nichts damit zu tun, sondern mit Kosmologie. Und Galaxien. Dazu reisen wir in die "Lokale Gruppe". Das klingt ein wenig langweilig; ist aber die offizielle Bezeichnung für unsere Ecke im Universum. Also die Ansammlung von Galaxien, zu der auch die Milchstraße gehört; unsere Heimatgalaxie in der sich die Sonne befindet. Die lokale Gruppe habe ich in Folge 371 schon einmal ausführlich vorgestellt; das werde ich jetzt nicht wiederholen. Die Kurzversion: Die Lokale Gruppe besteht aus den beiden großen Galaxien der Milchstraße und der Andromeda. Dazu kommen noch ein paar Dutzend kleinere Galaxien, die alle durch ihre Gravitationskraft aneinander gebunden sind. Das heißt, dass sie sich nicht unabhängig voneinander durch den Weltraum bewegen können, sondern einander mit ihrer Gravitationskraft in Form eines Galaxienhaufens zusammenhalten. Dieser Haufen hat einen Durchmesser von circa 8 Millionen Lichtjahren. Aber hinter der lokalen Gruppe hört das Universum natürlich nicht auf. Es gibt unzählige andere Galaxienhaufen, die sich zu noch größeren Superhaufen zusammenfinden, die wiederum Super-Superhaufen bilden, und so weiter. Und zwischen diesen gigantischen Strukturen gibt es ebenso gigantische Leerräume.
Schaut man ein wenig über die lokale Gruppe hinaus, findet man also weitere Galaxien. Die nicht willkürlich angeordnet sind. Die Galaxien in unserer Umgebung bilden zusammen mit der lokalen Gruppe die sogenannte "Lokale Scheibe". Der offizielle englische Fachausdruck dafür lautet "local sheet" und es handelt sich tatsächlich um eine Region, die ungefähr 50 Millionen Lichtjahre durchmisst und nur 1,5 Millionen Lichtjahre dick ist. Eine Scheibe, voll mit Galaxien, die alle mehr oder weniger die gleiche "Pekuliargeschwindigkeit" haben. Das Wort "pekuliar" bedeutet so viel "eigentümlich"; so eigentümlich ist die Sache aber gar nicht. Man meint damit in der Astronomie einfach nur die Geschwindigkeit eines Objekts in Bezug auf etwas anderes. In diesem Fall ist die Sache ein wenig knifflig, weil es um Kosmologie geht. Seit über hundert Jahren wissen wir, dass das Universum sich ausdehnt. Edwin Hubble und seine Kollegen haben in den 1920er Jahren gemessen, dass sich alle Galaxien voneinander entfernen und zwar um so schneller, je weiter sie voneinander entfernt sind. Man muss aber aufpassen, wie man diese Aussage interpretiert. Das gilt so allgemein nur, wenn man das Universum wirklich auf sehr großen Skalen betrachtet. Die Erde selbst etwa, hat immer die gleiche Größe, die dehnt sich nicht aus. Auch die Abstände der Planeten des Sonnensystems zur Sonne bleiben gleich. Und vorhin habe ich gesagt, dass die Galaxien der lokalen Gruppe durch ihre Gravitationskraft aneinander gebunden sind; hier sorgt die Expansion des Universums also auch nicht dafür, dass sich alle voneinander entfernen. Man kann sich die Expansion als eine Kraft vorstellen und die Gravitation als andere Kraft. Bei - kosmologisch gesehen - kleinen Abständen, ist die Gravitationskraft stärker als die Expansion und hält die Dinge zusammen. Deswegen bleibt der Abstand der Planeten zur Sonne gleich und auch die lokale Gruppe löst sich nicht auf. Nur wenn es um sehr weit voneinander entfernte Objekte geht, spielt die Expansion des Alls eine Rolle.
Man darf die Bewegung der Galaxien aufgrund der Expansion des Raums auch nicht mit einer Bewegung DURCH den Raum verwechseln. Vereinfacht gesagt wird der Raum zwischen den Galaxien immer größer und die Galaxien werden dadurch voneinander weg "geschoben". Wir sehen trotzdem, wie sie sich - gemeinsam mit dem Raum - von uns entfernen und können die entsprechende Geschwindigkeit messen, mit der sie das tun. Das ist aber nicht die Pekuliargeschwindigkeit, um die es geht. Das ist tatsächlich die Geschwindigkeit, mit der sich eine Galaxie DURCH den Raum bewegt. Und bestimmt man die für die großen Galaxien in unserer Umgebung, dann sieht man, dass die alle recht gut übereinstimmen. Und sich von der Pekuliargeschwindigkeit der weiter entfernten Galaxien unterscheidet. Genau das ist die lokale Scheibe: Eine große Gruppe an Galaxien, die sich alle mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung bewegen. Wer wissen möchte, wohin die Reise geht: Zum sogenannten "Leo Spur". Das ist eine andere "lokale Scheibe", also eine andere Ansammlung von Galaxien die sich Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit teilen. Bis wir dort ankommen, werden aber noch circa 10 Milliarden Jahre vergehen; wir können uns als noch entspanden.
Der Grund der gemeinsamen Bewegung der Galaxien in der lokalen Scheibe ist eine weitere Lokalität: Nämlich die "Lokale Leere". Ich habe vorhin schon von der großräumigen Struktur des Universums gesprochen: Riesige Superhaufen aus Galaxien, getrennt von ebenso riesigen Leerräumen. Die aus den Galaxien-Superhaufen gebildeten Strukturen werden offiziell "Filamente" genannt, die Leerräume heißen "Voids". Die lokale Scheibe ist, auf einem etwas kleinerem Maßstab, genau so ein Filament, ebenso der Leo Spur (der das uns nächstgelegen Filament ist). Und direkt an die lokale Scheibe grenzt eine Void. Wir wissen nicht, wie groß dieser Leerraum genau ist, aber so um die 50 Millionen Lichtjahre im Durchmesser wird das Nichts schon groß sein. Und diese lokale Leere schiebt uns in Richtung Leo Spur. Ok, das ist physikalisch nicht ganz sauber. Ein Leerraum kann nicht "schieben"; der macht gar nichts; der ist einfach nur da und leer. Aber wenn überall um uns herum andere Galaxien sind, nur in einer Richtung - nämlich da wo der Leerraum ist - nicht, dann wirken die entsprechenden Gravitationskräfte genau so zusammen, dass es aussieht, als würde der Leerraum uns von sich wegschieben.
Fassen wir einmal kurz zusammen; mit dem ganzen lokalen Dies und lokalen Das wird es ja schnell verwirrend. Wir leben in der Milchstraßengalaxie. Zusammen mit einem Schwung anderer Galaxie bildet sie eine Galaxiengruppe, die "Lokale Gruppe" genannt wird. Die Lokale Gruppe wiederum bildet mit noch mehr anderen Galaxien die lokale Scheibe, ein Filament, das quasi eine Wand bildet, die an die lokale Leere grenzt, einen enorm großen Teil des Universums in dem sich so gut wie gar nichts befindet. So etwas ist gut zu wissen; man sollte immer darüber informiert sein, wo man in der Welt und im Universum steht. Als sich der Astronom Marshall McCall von der York Universität in Toronto im Jahr 2014 die lokale Scheibe etwas genauer angeschaut hat, hat er aber noch etwas viel spannenderes entdeckt: "A Council of Giants" lautet der vielversprechende Titel seiner Facharbeit, also das "Konzil der Riesen".
Schaut man sich die Abstände der hellsten Galaxien in der lokalen Scheibe in Bezug auf die Milchstraße bzw. die Lokale Gruppe an, stellt man etwas interessantes fest. Sie liegen immer zwischen 11 und 16 Millionen Lichtjahren. Oder anders gesagt: Die 12 hellsten und größten Galaxien der lokalen Scheibe bilden einen Ring um die Lokale Gruppe herum. Und so wie ein Konzil ja normalerweise gebildet wird, um wichtige Entscheidungen zu treffen, scheint auch das Konzil der Riesen bestimmt zu haben, was mit der Milchstraße passiert. Sie bilden quasi eine Grenze, die den gravitativen Einflussbereich der Lokalen Gruppe markiert. Und vielleicht sogar dafür gesorgt, dass sie überhaupt erst entstanden ist. McCall hat bei seiner Untersuchung herausgefunden, dass sich die Lokale Gruppe ziemlich genau dort befindet, wo sich die gravitativen Kräfte der Gruppe und der Galaxien des Konzils gegenseitig ausbalancieren. Der Einfluss der Galaxien im Konzil könnte dafür gesorgt haben, dass sich aus den Gasmassen im All die Galaxien der Lokalen Gruppe gebildet haben. Oder aber zumindest beeinflusst haben, wie die Galaxien der Lokalen Gruppe angeordnet sind. Dass zwei so große Galaxien wie die Milchstraße und die Andromeda genau im Zentrum des Galaxienrings und einander so nahe sind, dass sie in in ein paar Milliarden Jahren miteinander verschmelzen werden, kann Zufall sein. Es ist aber auch sehr unwahrscheinlich. Da wir bis jetzt nur eine lokale Scheibe im Detail beobachten können, ist es schwer, daraus allgemeine Regeln abzuleiten.
Aber die Angelegenheit ist auf jeden Fall spannend. Wir wissen immer noch nicht genau, wie das mit der Entstehung von Galaxien, Galaxiengruppen, Filamenten und so weiter wirklich abläuft. Nach den bisherigen Kenntnissen fängt alles mit dunkler Materie an. Von der gibt es im Universum deutlich mehr als von der normalen, sichtbaren Materie aus der Sterne, Planeten oder Menschen bestehen. Sehr viel mehr und im frühen Universum hat sie gigantische Wolke gebildet. Dort, wo diese Wolken am dichtesten waren, hat sich die normale Materie angesammelt, aus der dann Galaxien voller Sterne entstanden sind. Um so eine Konfiguration wie die lokale Scheibe, die Lokale Gruppe und das Konzil der Riesen zu erhalten, muss aber die dem ganzen zugrundeliegende lokale Ansammlung an dunkler Materie schon im Wesentlichen eine scheiben- bzw. filamentartige Struktur gehabt haben.
Wir werden unsere kosmische Nachbarschaft weiter untersuchen müssen. Oft es ist einfacher, in große Ferne zu schauen als die eigene Umgebung zu erkennen. Wir tun uns leichter, die Struktur des Universum auf großen Skalen zu kartografieren. So haben wir das irgendwie "schwammige" Aussehen des Kosmos entdeckt; also die vielen Voids, die von Filamenten begrenzt sind. Das alles auch in unserer Nähe zu untersuchen ist schwieriger; hier müssen wir Abstände und Positionen viel genauer bestimmen, um ein vernünftiges Bild zu bekommen. Aber es sieht so aus, als wäre die Struktur des Universums auch im kleinen seinem großräumigen Verhalten ähnlich. Und wer weiß, ob in anderen Filamenten und Galaxienhaufen nicht auch noch ein paar Riesenkonzile zu finden sind…

Jun 4, 2021 • 15min
Sternengeschichten Folge 445: Die Astrotheologie von William Derham
Wissenschaft vs Religion?
Sternengeschichten Folge 445: Die Astrotheologie von William Derham
Nein, ich habe mich nicht versprochen. Es geht heute um die Astrotheologie. Und damit sind keine Science-Fiction-Religionen gemeint oder irgendwelche UFO-Sekten. Es geht um echte Wissenschaft, es geht um Religion und es geht um die Verbindung zwischen beiden Bereichen. Das klingt aus heutiger Sicht ein wenig seltsam. Wir sind daran gewöhnt, dass Wissenschaft gerade NICHTS mit "glauben" zu tun hat. Wissenschaft ist das, was man weiß und wenn man daran glauben muss, kann es keine Wissenschaft sein. Wir sind auch daran gewöhnt, dass es gerade zwischen Wissenschaft und Religion immer wieder zu Konflikten kommt. Und erinnern uns dann an die vielen Geschichten aus der Vergangenheit, wo die Religion der Wissenschaft nicht gerade freundlich gesinnt war. Der Kampf von Charles Darwin und seiner Evolutionstheorie gegen die Lehren der Bibel. Galileo Galilei, der vom Papst verurteilt wurde, weil er behauptet hat, dass die Erde sich um die Sonne bewegt. Giordano Bruno, der am Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil er der Meinung war, die Lichter am Himmel wären Sterne, von Planeten umkreist auf denen Leben existiert. Letzters stimmt so übrigens nicht, die Gründe für den Konflikt zwischen Bruno und der Kirche waren nicht so sehr astronomischer Natur - aber das ist ein Thema für eine andere Folge der Sternengeschichten. Kurz gesagt: Religion und Wissenschaft sind wie Wasser und Feuer, wie Hunde und Katzen, wie Lieferdienste und Türklingeln - erbitterte Feinde die nichts miteinander zu tun haben wollen.
Nur stimmt das so natürlich nicht. Es stimmt heute nicht und hat in der Vergangenheit noch viel weniger gestimmt. Dazu gehen wir am besten zurück an den Anfang der modernen Naturwissenschaft; ins 17. Jahrhundert. Da wurde am 26. November 1657 William Derham in England geboren. Nur knapp 15 Jahre nach Isaac Newton; knapp 10 Jahre nach der Geburt von Gottfried Wilhelm Leibniz: Also mitten in die Ära, als man in Europa damit begann, die Welt auf eine völlig neue Art und Weise verstehen zu wollen. Die großen Erkenntnisse, auf denen die Naturwissenschaft heute noch aufbaut, wurden damals gewonnen. Newtons Gravitationstheorie, die Mathematik von Leibniz und René Descartes, Robert Boyles Theorien über Chemie, die mikroskopischen Beobachtungen von Robert Hoooke. Und so weiter: Damals entwickelte sich die Wissenschaft in der Form, in der sie auch heute noch betrieben wird. Und Willam Derham ist ein wunderbares Beispiel dafür. Nach einem Studium in Oxford wurde er 1681 zum anglikanischen Priester geweiht. Und verbrachte den Rest seines Lebens im Dienst der Kirche.
Aber Derham interessierte sich nicht nur für die Religion. Sondern auch für alles andere. Und neben seiner Arbeit als Priester fand er genug Zeit, eigene Forschungen anzustellen. Zum Beispiel über Uhren: Man vergisst leicht, wie viel damals noch unbekannt war; wie viel noch nicht erfunden und wie viel man über die Welt noch nicht gewusst hat. Uhren im eigentlichen Sinn gab es damals nicht. Es gab Kirchturmuhren, die aber eher ungenau liefen und hauptsächlich dazu da waren, die Gläubigen zur halbwegs rechten Zeit in die Kirche zu rufen. Es gab Sanduhren, Wasseruhren, und so weiter - aber nichts, mit dem man die Zeit wirklich exakt messen konnte. Erst 1637 kam Galileo Galilei die Idee, dass man vielleicht ein genau abgestimmtes Pendel benutzen könnte, um die Zeit vielleicht sogar mit der Genauigkeit von einigen Sekunden zu messen. Er selbst baute allerdings keine und beließ es bei der Idee. Die erste echte Pendeluhr hat der niederländische Forscher Christiaan Huygens 1657 gebaut, also im Jahr von Derhams Geburt. Es war also eine absolut neue Erfindung, der Höhepunkt der damals aktuellen Möglichkeiten. Und immer noch ein enorm spannendes Thema für alle an Wissenschaft und Technik interessierten Menschen. Zu denen auch William Derham gehörte, was er mit seinem 1696 erschienenen Buch "Artificial Clockmacker" zeigte. Darin erklärte er bis ins letzte Detail, wie eine Pendeluhr funktioniert und wie man sie bauen kann. Es war das erste Buch seiner Art und Derham musste sich das notwendige Wissen über Pendeluhren selbst beibringen, um es schreiben zu können.
Mit einer Pendeluhr gelang es ihm auch, die Geschwindigkeit des Schalls deutlich besser zu messen, als es bis dahin möglich war. 1709 stand er auf einem Kirchturm und beobachtete den Lichtblitz einer weit entfernt abgefeuerten Kanone. Mit dem Pendel maß er, wie lange es dauerte, bis er den dazugehörenden Knall hören konnte. Den Abstand zwischen Kanone und Kirchturm konnte er direkt messen und daraus die Schallgeschwindigkeit berechnen.
Es waren aber nicht nur Physik und Technik, die Derham beschäftigt haben. Er hat Insekten gesammelt, das Verhalten von Wespen und Käfern untersucht oder das Zugverhalten von Vögeln. Er hat sich mit Pflanzen beschäftigt und mit Meteorologie. Er hat Tiere beobachtet und untersucht um herauszufinden, wie sie sich unterscheiden. Dabei ist ihm durchaus auch aufgefallen, dass es innerhalb der Arten jede Menge Variationen gibt; die Sache mit der Evolution hat er aber nicht entdeckt - das kam erst später mit Charles Darwin. Derham war Geologe, hat Gesteinsschichten untersucht und nach mineralischen Quellen gesucht. Kurz gesagt: Er war das, was man damals einen "Naturphilosophen" genannt hat (und wozu wir heute "Naturwissenschaftler" sagen würden). Es war damals auch absolut nicht unüblich, die Interessen quer durch alle Wissensgebiete zu streuen. Damals wusste man noch kaum was über die Welt und die Naturgesetze. Und wenn man nichts weiß, dann kann man auch überall neue Phänomene entdecken. Alle Wissenschaftler waren damals mehr oder weniger Universalwissenschaftler. Es gab noch keine Spezialisierung wie es sie heute zwangsläufig gibt, weil wir schon so viel wissen, dass man gar nicht mehr alles lernen kann.
Und natürlich hat Derham sich auch für die Astronomie interessiert. Er hat die Sonnenflecken - die ebenfalls noch nicht allzu lange vorher entdeckt wurden - beobachtet, die Jupitermonde oder die Polarlichter erforscht. Jetzt könnte man vielleicht auf die Idee kommen, dass Derham angesichts all dieser wissenschaftlichen Tätigkeiten gar kein "echter" Gläubiger war. Vielleicht war der Job des anglikanischen Pfarrers ja nur eine bequeme Art, ohne allzuviel Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen und die viele Freizeit für naturwissenschaftliche Forschung zu nutzen? Hier darf man allerdings nicht den Fehler machen, die Vergangenheit mit dem Blick der Gegenwart zu betrachten. William Derham hat die Arbeit für die Kirche sehr ernst genommen und hat es immerhin zum persönlichen Kaplan des Prinzen von Wales gebracht, dem späteren König George II. Und um jeglichen Zweifel auszuräumen, müssen wir uns nur die Bücher ansehen, die er nach seinem Buch über die Pendeluhr geschrieben hat. 1713 erschien "Physico-Theologie, oder eine Darstellung der Existenz und der Eigenschaften Gottes anhand seiner Schöpfung". Zwei Jahre später veröffentlichte er "Astro-Theologie, oder eine Darstellung der Existenz und der Eigenschaften Gottes anhand einer Studie des Himmels". Das ist zumindest die wörtliche Übersetzung des englischen Titels; die schon 1728 erschienene deutsche Übersetzung hat den wesentlich blumigeren Titel "Astrotheologie, Oder Himmlisches Vergnügen in Gott : Bey aufmerksamen Anschauen des Himmels und genauer Betrachtung der himmlischen Cörper ; zum augenscheinlichen Beweis, daß ein Gott, und Derselbe ein Allergütigstes, Allweises und Allmächtiges Wesen sey".
Womit wir jetzt bei der im Titel dieser Folge versprochenen Astrotheologie angekommen sind. William Derham hat seine astronomischen Beobachtungen - und das, was er anderswo in der astronomischen Fachliteratur lesen konnte - verwendet, um darzulegen, dass es einen Gott geben muss. Man kann das 345 Seiten starke Werk auch heute noch lesen. Vieles davon ist aus moderner Sicht durchaus spannend. Er stellt zum Beispiel fest, dass die Sterne am Himmel ähnliche Objekte sein müssen, wie die Sonne und nur deswegen kleiner erscheinen, weil sie unvorstellbar weit weg sind. Deswegen müssen sie auch mit ihrem eigenen Licht leuchten, denn auf diese Entfernungen können sie unmöglich Licht der Sonne reflektieren wie das die Planeten tun. Und wenn sie leuchten, dann muss das auch einen Grund haben. Derham ist sich sicher: Die Sterne leuchten deshalb, um das gleiche tun zu können wie unsere Sonne. Sie leuchten, um ihre eigenen Planeten in Licht und Wärme zu tauchen. Denn was wäre ansonsten der Zweck der Sterne? Wieso sollte das Universum voll mit leuchtenden Himmelskörpern sein, die nichts anderes tun, als unsere irdischen Nächte minimal heller zu machen? Jeder Stern muss von Planeten umkreist werden, meint Derham. Und das mache auch Sinn: Denn so eine Vorstellung des Universum sei "viel großartiger und einem allmächtigen Schöpfer würdiger" als einfach nur ein Universum, in dem außer der Sonne und ihren Planeten nur noch ein Haufen heller Lichter am Himmel existieren. Er spekuliert sogar darüber, dass das Universum unendlich groß sein müsste, um der Schöpfung eines Gottes würdig zu sein. Die Menschheit und die Erde stellt er hier nicht besonders hervor. Er nennt es eine "geschmackslose Sicht", dass alles auf der Welt nur für die Menschen gemacht sei. Wir sind nicht das Zentrum das Universums; wir sind nicht der Höhepunkt der Schöpfung. Wir sind nur ein winziger Teil der grandiosen und unendlich großen Schöpfung Gottes, dessen Herrlichkeit durch die unzähligen Sterne mit ihren unzähligen - natürlich bewohnten - Planeten nur noch erhöht wird.
Auf diese Weise argumentiert Derham im ganzen Buch. Er beschäftigt sich darin mit der Bewegung der Planeten des Sonnensystems, mit den Unterschieden zwischen geozentrischen und heliozentrischen Weltbild; mit dem Aussehen der Milchstraße, der (damals noch unbekannten) Natur von Kometen. Er beschreibt die Flecken in der Atmosphäre des Jupiters, die Berge und Täler auf dem Mond, die Phasen von Mars und Venus. Er beschäftigt sich mit der noch neuen Gravitationstheorie von Isaac Newton, mit Sonnenfinsternissen, den Gezeiten, und so weiter. Es ist ein Überblick über den Stand des astronomischen Wissens der damaligen Zeit, ergänzt durch Derhams eigene Beobachtungen. Und in allem, was Derham über das Universum erklärt, sieht er einen Beweis für die Existenz und das Wohlwollen Gottes.
Das mag aus heutiger Sicht seltsam klingen. Aber Derham war weder der erste, noch der einzige, der auf diese Weise gedacht hat. Isaac Newton etwa war ein zutiefst gläubiger Mensch; ebenso wie so gut wie alle anderen die damals die Welt erforscht haben. Es gab aus damaliger Sicht keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft. Dass das Universum - und mit ihm die Erde und die Menschheit das Resultat - eines bewussten Schöpfungsaktes ist, stand damals außer Frage. Etwas anderes konnte sich niemand vorstellen und nicht, weil die Menschen damals so viel dümmer als wir heute. Die Schöpfung war integraler Teil des damaligen Weltbildes und die Menschen konnten nicht anders, als innerhalb dieses Weltbildes zu denken. Und wenn die Welt einen Schöpfer hat, dann ist es absolut legitim, diese Schöpfung zu erforschen, um unter anderem auch mehr über den Schöpfer zu erfahren. Man stelle sich vor, wir würden heute ein paar Kilometer tief ins Innere der Erde bohren, und dort kein geschmolzenes Gestein finden, sondern Kabelstränge, Maschinen, Computer und jede Menge anderes Zeug. Angesichts dieser Belege für den künstlichen Urspung des Planeten würden wir auch mit aller Macht danach forschen, wer ihn erschaffen hat. Und aus damaliger Sicht war die Welt eben ebenso klar und deutlich erschaffen. Dass so etwas grandioses wie ein Planet oder ein Stern "von selbst" entstehen kann; dass Menschen, Tiere und Pflanzen sich über unvorstellbare Zeiten hinweg aus mikroskopisch kleinen Wesen entwickelt haben: Das konnte man damals nicht nur nicht wissen, sondern nicht einmal ahnen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur war aus damaliger Sicht einfach nur ein anderer Weg, die Schöpfung Gottes zu verstehen.
Was nicht heißt, dass es keine Konflikte gab. Man konnte es sich durchaus mit der Kirche verscherzen. Die hatte ganz konkrete Vorstellungen, wie das "Wort Gottes" zu verstehen sei und wer anderer Meinung war, bekam Probleme. Isaac Newton zum Beispiel war grundlegend anderer Meinung als die Kirche, was die Dreifaltigkeit des christlichen Gottes anging. Diese "Ketzerei" musste er geheim halten, ansonsten hätte er es - trotz seiner Genialität und seines Ruhms - schwer gehabt.
Religion und Wissenschaft haben eine Beziehung, die man heutzutage wahrscheinlich mit "es ist kompliziert" beschreiben würde. Im Laufe der Zeit ist jede Menge sehr wichtige Forschung von Angehörigen der Kirche durchgeführt worden. Selbst Charles Darwin studierte Theologie; dass er sich gleichzeitig intensiv mit Biologie beschäftigt hat, lag daran, dass er stark von der "Naturtheologie" beeinflusst war, die unter anderem auf der Physiko- und Astrotheologie von William Derham aufgebaut hat.
Heute sieht die Welt natürlich ein wenig anders aus. Das, was William Derham und seine Kollegen so sehr beeindruckt hat, dass sie es nur durch die grandiose Schöpfung eines Gottes erklären konnten, haben wir durch mehr Wissen als natürliche Vorgänge erkannt, die kein bewusstes Eingreifen eines Schöpfers brauchen. Wir wissen, wie Planeten entstehen und Sterne. Wir wissen, wie wir Menschen uns entwickelt haben; wir wissen sehr viel mehr als früher und wissen deshalb auch, dass wir keinen Schöpfer benötigen, um die Welt zu erklären. Wir wissen das alles aber unter anderem deswegen, weil Derham, Newton, und all die anderen frühen Wissenschaftler ihre religiös inspirierte Forschung durchgeführt haben.
Man kann auch heute noch gläubig sein und Wissenschaft betreiben. Im Gegensatz zu früher ist es aber nicht zulässig, den Glauben als Begründung für die Wissenschaft heranzuziehen. Ein Phänomen mit "Gott hat es gemacht" zu erklären, hat nichts mit moderner Wissenschaft zu tun. Die braucht objektive und nachvollziehbare Begründungen und vor allem braucht sie eine Grundlage, an die man NICHT glauben muss. Wissenschaft ist das, was auch dann noch richtig ist, wenn man aufhört daran zu glauben.

May 28, 2021 • 12min
Sternengeschichten Folge 444: Kapteyns Stern
Das Ding aus einer anderen Galaxie
Sternengeschichten Folge 444: Kapteyns Stern
Heute geht es um Kapteyns Stern. Und der gehört keinem Kapitän; auch mit Captain Kirk oder Captain Picard hat das alles nichts zu tun. Sondern mit der Suche nach dem Aufbau des Universums, kollidierenden Galaxien und uralten Planeten. Und ja, ein Kapitän kommt auch vor. Irgendwie zumindest - nämlich Jacobus Cornelius Kapteyn. Das war ein niederländischer Astronom, der am 19. Januar 1851 geboren wurde und sich darauf spezialisiert hatte, fotografische Aufnahmen des Sternenhimmels zu analysieren. Diese Technik der Astrofotografie war auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch recht neu, aber es war klar, was für ein Potenzial in ihr steckt. Man konnte viel mehr Sterne viel genauer beobachten als früher, als man noch selbst durchs Teleskop schauen und alles händisch aufzeichnen musste.
Kapteyn hat zwar an der Universität Groningen in den Niederlanden gearbeitet, sich aber vor allem mit den Sternen des südlichen Himmels beschäftigt. Und zwar mit den Aufnahmen, die der englische Astronom David Gill zwischen 1885 und 1890 an der Sternwarte von Kapstadt gemacht hatte. 10 Jahre lang arbeitete Kapteyn an diesen Bildern und das Resultat war der 454.875 Sterne umfassende Katalog der "Cape Photographic Durchmusterung" (und wer sich über das deutsche Wort in diesem englischen Titel wundert, sollte noch einmal Folge 441 hören). Wer so eine Aufgabe angeht, sollte sich darauf einstellen, sehr genau zu arbeiten. Und Kapteyn war genau: Er verglich die neuen fotografischen Aufnahmen des Südhimmels mit früheren Messungen und Katalogen. Und entdeckte dabei auf einer Karte von 1873 einen Stern, der auf den aktuellen Bildern fehlte. Das war merkwürdig, denn eigentlich verschwinden Sterne nicht so ohne weiteres vom Himmel.
Robert Innes, ein schottischer Astronom der als Assistent von Gill in Kapstadt arbeitete, fand dann aber auf den neuen Bildern einen Stern, der ein Stück abseits der Position des verschwundenen Objekts war. Seine Hypothese: Der Stern ist gar nicht verschwunden; er hat sich nur überraschend schnell bewegt. Und in den paar Jahren, die zwischen der alten und der neuen Beobachtungen lagen, hat er sich weiter bewegt, als die übrigen Sterne das am Himmel tun. Diese Hypothese wurde bestätigt und der Stern bekam den Namen "Kapteyns Stern". Was eigentlich ziemlich ungerecht ist, denn "Innes' Stern" wäre angesichts der Umstände viel passender gewesen. Oder zumindest "Kapteyn Innes' Stern". Aber dann hätten vielleicht alle geglaubt, irgendein Kapitän Innes hätte das Ding entdeckt… So oder so - der Stern heißt jetzt nun mal, wie er heißt.
Bevor wir uns seinem Stern widmen, schauen wir aber kurz noch, was Herr Kapteyn sonst noch so getrieben hat. Unter anderem wollte er mehr über die Eigenbewegung der Sterne am Himmel herausfinden. Also die Bewegung, die so ein Stern tatsächlich und real durch den Weltraum absolviert. Man hatte im Laufe der Zeit immer wieder Sterne entdeckt, die ihre Position am Himmel verändert haben. Aber das waren immer nur sehr kleine Abweichungen, ohne Teleskop schwer zu messen und ohne genaue fotografische Daten zum Vergleich so gut wie gar nicht. Aber Kapteyn hatte ja jede Menge Aufnahmen und konnte sehr viele Sternbewegungen analysieren. Und entdeckte dabei, dass sie sich im großen und ganzen nicht völlig zufällig bewegen, sondern eine gemeinsame Drehung beschreiben. Oder anders gesagt: Die Milchstraße rotiert! Das hatte man theoretisch schon vorhergesagt; Kapteyn war aber der erste, der es auch konkret durch Beobachtungsdaten nachweisen konnte.
Obwohl man damals noch nicht wusste, dass es "unsere Galaxie" ist, die rotiert. Wir befinden uns immer noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts; die großen Entdeckungen von Edwin Hubble & Co liegen noch in der Zukunft. Man stritt immer noch darüber, ob die Sterne, die wir am Himmel sehen können, ALLES darstellen, was es im Universum gibt. Beziehungsweise, ob unsere Milchstraße, also die Ansammlung all der Sterne am Himmel, identisch mit dem Universum ist oder ob die nebligen Flecken, die man auch am Himmel sehen könnte, andere gigantische Sternensysteme sind, nur viel, viel weiter entfernt. Heute wissen wir: Unsere Milchstraße ist nur eine von unzähligen Galaxien im Universum, die durch gigantische Leerräume voneinander getrennt sind. Kapteyn jedenfalls tat sein bestes, mit den vorhandenen Daten das herauszufinden, was sich damit herausfinden ließ. Aus den Positionen und Entfernungen die er aus den Fotografien ableiten konnte, probierte er ein Modell der Galaxie oder eben - aus damaliger Sicht - ein Modell des Universums abzuleiten. Er kam zu dem Ergebnis, dass sich die bekannten Sterne in einer Art Scheibe von circa 40.000 Lichtjahre Durchmesser anordnen, von deren Zentrum die Sonne etwa 2000 Lichtjahre entfernt ist.
Was aus heutiger Sicht falsch ist, aber auch irgendwie richtig. Denn die Milchstraße IST eine Scheibe und die Sonne befindet sich NICHT in ihrem Zentrum. Auch das war damals umstritten; es gab durchaus auch die Auffassung, dass wir uns im Mittelpunkt aller sichtbaren Sterne befinden. Kapteyns Modell hat der Realität sehr viel besser entsprochen, nur die Größen und Abstände passten nicht. In Wahrheit ist die Milchstraße ungefähr 100.000 Lichtjahre groß und die Sonne ungefähr 26.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt. Kapteyn wusste damals noch nichts über das interstellare Medium, also all das Gas und den Staub und das andere Material das man zwischen den Sternen finden kann und das das Licht der Sterne abschwächt. Das muss man aber berücksichtigen, wenn man Entfernungen richtig berechnen will.
Kapteyns Forschung über die Bewegung der Sterne war auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Womit wir wieder bei dem Stern sind, der heute seinen Namen trägt. Man war überrascht, wie schnell er sich am Himmel bewegt. Zum damaligen Zeitpunkt war kein anderer mit einer größeren Eigenbewegung bekannt. Sowas ist immer ein Anzeichen dafür, dass ein Stern der Sonne vergleichsweise nahe ist. Denn bewegen tun sich alle Sterne; bei denen die uns nahe sind, sieht man das aber am Himmel viel deutlicher. Heute wissen wir, dass sich Kapteyns Stern 12,83 Lichtjahre von der Sonne entfernt befindet. Damit landet er auf Platz 24 der uns nächstgelegenen Sterne und er wird im Ranking im Laufe der Zeit weiter nach hinten rutschen. Seine größte Annäherung an uns liegt nämlich schon knapp 11.000 Jahre zurück; damals betrug der Abstand zur Sonne nur 7 Lichtjahre. Seitdem entfernt er sich immer weiter von uns. Das ist aber noch längst nicht alles, was diesen Stern außergewöhnlich macht. Zum einen fährt er quasi gegen die Einbahn: Er umrundet das Zentrum der Milchstraße "retrograd", also entgegen der Richtung, in der das die allermeisten anderen Sterne tun. Das liegt an seiner Herkunft: Kapteyns Stern ist ein sogenannter "Halo-Stern".
Ich habe vorhin erzählt, dass die Milchstraße im Prinzip eine große Scheibe aus Sternen ist. Das stimmt auch. Aber diese Scheibe ist von einem "Halo" umgeben. Das ist ein kugelförmiger Bereich der die Scheibe umgibt und wo man vor allem Kugelsternhaufen findet. Und alte Sterne, die sich nicht um die Gepflogenheiten der Scheibe kümmern und einfach irgendwie um das Zentrum kreisen. Was man dort auch findet, sind Sternströme. Darüber habe ich in Folge 177 ja schon ausführlich gesprochen: Kurz gesagt handelt es sich dabei um Überreste fremder Galaxien. Wenn eine kleine Zwerggalaxie in die Nähe einer großen Galaxie wie unserer Milchstraße kommt, dann verschmelzen beide. Oder besser gesagt: Die große Milchstraße reißt die Sterne der kleinen Galaxie mit ihrer Gravitationskraft auseinander. Im Laufe der Zeit verteilen sie sich dann in der Milchstraße, bilden aber währenddessen noch Sternströme. Also Sterne, die sich alle mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung bewegen.
Kapteyns Stern gehört genau zu so einer Gruppe und man geht davon aus, dass sie aus dem Kugelsternhaufen "Omega Centauri" stammen. Und der wiederum ist vermutlich das übrig gebliebene Zentrum einer Zwerggalaxie, die vor langer Zeit von der Milchstraße eingefangen und "aufgefressen" wurde. Durch die gravitative Wechselwirkung wurden Sterne aus den äußeren Regionen heraus gerissen und das ist auch Kapteyns Stern passiert. Damit erklärt sich auch sein hohes Alter: Man schätzt ihn auf knapp 12 Milliarden Jahre. Kapteyns Stern ist nicht nur der uns nächstgelegene Halo-Stern; er ist vermutlich auch der uns nächstgelegene Stern, der nicht in der Milchstraße sondern einer anderen Galaxie entstanden ist!
Das ist natürlich auch einer der Gründe, warum er seit seiner Entdeckung immer wieder erforscht worden ist. Und das eine oder andere wird man dort sicher noch finden. Kapteyns Stern ist ein roter Zwergstern, der nur knapp 40 Prozent der Masse unserer Sonne hat und nur ein tausendstel mal so hell leuchtet wie sie. Man braucht also auf jeden Fall ein Teleskop, wenn man ihn sehen will und sollte das dann im Süden aufstellen. Irgendwo auf der Südhalbkugel oder zumindest im nördlichen Afrika oder im Süden von Europa. Die Teleskope, die Kapteyns Stern im Jahr 2014 ein weiteres Mal in die Medien brachten, standen in Chile und Hawaii. Und damit wollte man zwei Planeten entdeckt haben, die den Stern umkreisen. Einer davon mit der 7fachen Masse der Erde, der anderen mit circa der fünffachen Masse unseres Planeten. Der äußere von beiden ist zu weit vom schwach leuchtenden Stern entfernt um auf seiner Oberfläche halbwegs lebensfreundliche Temperaturen zu haben. Er ist auch so massereich, dass man gar nicht sicher sagen kann, ob er überhaupt eine echte Oberfläche hat oder ob es sich eher um einen Eisriesenplaneten wie Uranus oder Neptun handelt. Aber der kleinere, innere Planet ist dem roten Zwerg nahe genug, dass es dort vielleicht lebensfreundliche Temperaturen geben könnte. Sofern die beiden Himmelskörper wirklich existieren. Weitere Beobachtungen haben nämlich Zweifel an der Entdeckung aufgeworfen.
Aber wenn es wirklich Planeten gibt, die Kapteyns Stern umkreisen, dann wären das sehr außergewöhnliche Forschungsobjekte. Planeten, die deutlich älter sind als alle die, die wir bis jetzt gefunden haben. Planeten, die nicht in unserer Milchstraße entstanden sind, sondern weit draußen in einer anderen Galaxie. Wer weiß… vielleicht besucht irgendwann in ferner Zukunft ja tatsächlich mal ein "Captain" eines Raumschiffs diesen außergewöhnlichen Stern um dort nach dem Rechten zu sehen.

May 21, 2021 • 13min
Sternengeschichten Folge 443: Der Asteroid Ceres
Die Nummer Eins
Sternengeschichten Folge 443: Der Asteroid Ceres
Ceres ist die Nummer Eins. Und zwar im absolut buchstäblichen Sinn. Oder im zahlichen Sinne? Gibt es so ein Wort überhaupt? Egal - auf jeden Fall ist Ceres der Asteroid mit der offiziellen Nummer 1. Denn alle Asteroiden im Sonnensystem haben nicht nur eine Namen, sondern auch eine Nummer. Zumindest diejenigen Asteroiden, deren Bahn wir ausreichend gut kennen. Sobald das der Fall ist, bekommen sie eine fortlaufende Nummer zugewiesen und Ceres hat die Nummer "1" bekommen. Weil er der erste Asteroid überhaupt war, den wir entdeckt haben. Und mit "wir" ist der italienische Astronom Giuseppe Piazzi gemeint; die Geschichte wie er 1801 Ceres entdeckt hat, habe ich ja schon ausführlich in Folge 186 erzählt.
Ceres ist aber nicht nur der erste Asteroid und die Nummer Eins. Sondern auch ein höchst bemerkenswerter Himmelskörper. Er befindet sich mitten im sogenannten "Asteroidengürtel", also dem Bereich zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter, wo wir bis jetzt die meisten Asteroiden gefunden haben. Und hier gibt es gleich einen kurzen Einschub: In Science-Fiction-Filmen und auch in wissenschaftlichen Dokumentationen wird so ein Asteroidengürtel gerne mal als dicht gefüllte Ansammlung von Felsbrocken dargestellt. Da müssen Raumschiffe dann regelrecht Slalom fliegen, um nicht mit einem Asteroid zu kollidieren. Das könnte kaum weiter von der Realität entfernt sein. In Wahrheit würde ein Raumschiff, dass vom Mars zum Jupiter fliegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen einzigen Asteroid zu Gesicht bekommen. Man muss sich anstrengen, wenn man einen Asteroid erreichen will. Die Asteroiden sind zwar zahlreich, aber klein und der Weltraum ist groß! Wenn man das ganze überschlagsmäßig ausrechnet, findet man im Asteroidengürtel 0,000000005 Asteroiden pro Quadratkilometer. Und das ist nur zweidimensional gerechnet; die Felsbrocken befinden sich ja nicht alle in einer Ebene sondern auch darüber und darunter. Man kann sich mitten im Asteroidengürtel befinden und wird dabei keinen einzigen Asteroid sehen.
Das kann man - um wieder zum Thema zurück zu kommen - auch gut an Ceres selbst erkennen. Der Himmelskörper hat einen Durchmesser von 964 Kilometer. Damit ist er das größte Objekt im Asteroidengürtel. Seine Masse beträgt 939 Trillionen Kilogramm, was viel klingt, aber nur ein 78tel der Masse unseres Mondes ist. Oder ein 6360tel der Erdmasse. Und trotzdem dominiert Ceres den Asteroidengürtel: Nimmt man die Masse aller Objekte zusammen, die sich dort befinden, dann macht die Masse von Ceres allein schon ein Viertel davon aus!
Die Umlaufbahn von Ceres ist recht unspektakulär. Für eine Runde um die Sonne braucht der Asteroid 1681 Tage, also ein bisschen mehr als 4,5 Jahre. Im Mittel ist der Asteroid 2,8 mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde; und die Umlaufbahn ist um knapp 10 Grad gegenüber der Erdbahn geneigt. Sehr viel spannender wird es, wenn man sich Ceres aus der Nähe anschaut. Dass wir das können, liegt an der Raumsonde Dawn. Die flog am 27. September 2007 ins All und hat zunächst einen Zwischenstopp beim Asteroid Vesta eingelegt, von dem ich in Folge 239 mehr erzählt habe. Der war aber 2021 zu Ende und am 6. März 2015 kam Dawn endlich bei Ceres an. Dort blieb sie bis 2018. Beziehungsweise ist Dawn jetzt immer noch dort, aber am 1. November 2018 hat man die Mission für beendet erklärt, da die Treibstoffvorräte alle waren und kein Kontakt mehr möglich. In den fast vier Jahren, die Dawn bei Ceres verbracht hat, hat sie aber jede Menge herausgefunden.
Auch wenn Ceres der erste bekannte Asteroid war und auch wenn er der größte Asteroid im Asteroidengürtel ist, wusste man bis 2015 trotzdem kaum, wie es dort aussieht. Selbst die größten Teleskope konnte nicht mehr als verwaschene Bilder produzieren. Was man sah, waren ein paar helle und dunkle Flecken, aber nicht mehr. Dank Dawn haben wir Ceres aber mittlerweile komplett kartografiert. Wir sehen einen Himmelskörper, der auf den ersten Blick ein wenig wie unser Mond aussieht: Grau und mit jeder Menge Kratern. Dieser Eindruck täuscht allerdings; Ceres ist völlig anders als unser Mond.
Blicken wir zuerst einmal auf ein Detail. Schon beim Anflug auf Ceres hat Dawn mysteriöse helle Flecken auf der Oberfläche gesehen. Die genaue Erforschung hat gezeigt, dass es sich um Strukturen handelt, die man vor allem im und um den Occator-Krater sehen kann. Der ist 92 Kilometer groß und hat in der Mitte einen Berg von 10 Kilometer Höhe. Und genau dort in der Mitte findet man auch seltsames weißes Zeug. Der ganze Zentralberg ist von diesem weißen Wasauchimmer bedeckt. Erst dank der Daten von Ceres fand man heraus, worum es sich dabei handelt: Natriumkarbonat. Das ist auch unter dem Namen "Soda" bekannt und der eine oder die andere hat es sicherlich schon mal zum Backen verwendet. Denn chemisch gesehen handelt es sich um eine Verbindung von Natrium, Kohlenstoff und Sauerstoff und wenn man es zum Beispiel einem Kuchenteig beigibt, wird Kohlendioxid freigesetzt, dass den Teig aufgehen lässt. Man kann es aber auch zum Putzen verwenden (und es hat jede Menge andere industrielle Anwendungen). Auf Ceres ist aber weder mit Bäckereien zu rechnen, noch wird dort jemand Unmengen an Putzmittel verstreut haben. Wie kommt das Natriumkarbonat also dorthin?
Zuerst dachte man, dass vielleicht Meteoriteneinschläge für die hellen Flecken verantwortlich sind. Und bei manchen ist das vielleicht sogar der Fall. Aber der große helle Fleck im Occator-Krater muss eine andere Ursache haben. So viel Natriumcarbonat kann ein Meteorit nicht mitbringen. Auf der Erde finden wir Natriumkarbonat oft in der Nähe von heißen Thermalquellen. Das Material wird aus dem Inneren der Erde an die Oberfläche transportiert und das, so denkt man, passiert auch auf Ceres. Nur dass dieser Himmelskörper ganz anders ist als die Erde. Unser Planet hat einen Kern aus Metall, darüber einen Mantel aus Gestein und eine Kruste aus leichtem Gestein. Ceres ist viel kleiner; dort gab es nicht genug Metall, dass einen Kern bilden konnte. Einen Kern hat er aber trotzdem. Damit ein Himmelskörper eine interne Struktur haben kann, also so etwas wie einen Kern, einen Mantel, eine Kruste, muss er groß genug sein. Je größer, desto mehr Wärme kann er speichern. Einerseits ist das Wärme, die bei der Entstehung frei wird, also bei den ganzen Kollisionen kleinerer Objekte bei deren Verschmelzung dann größere Asteroiden oder Planeten entstehen. Andererseits aber auch Wärme, die beim Zerfall radioaktiver Materialen frei wird. Von denen gab es nicht viel, als das Sonnensystem entstand, aber ein bisschen was war da und je größer ein Himmelskörper ist, desto mehr hat er davon. Die Erde hat bei ihrer Entstehung so viel davon gesammelt, dass die Zerfallswärme immer noch dafür sorgt, dass es im Zentrum des Planeten mehr als 5000 Grad hat. Aber auch Ceres hat genug davon mitbekommen, um auf jeden Fall eine Zeit lang sehr warm zu sein. Während das Innere des Asteroiden geschmolzen war, sind die schweren Bestandteile nach unten gesunken und die leichteren blieben außen. Genug Metall für einen Kern war, wie gesagt, nicht da. Aber Gestein, weswegen man davon ausgeht, dass Ceres einen Kern aus Gestein hat. Darüber liegt ein Mantel aus leichterem Material. Was im Fall von Ceres vor allem Wasser beziehungsweise Eis ist.
Denn der Asteroid ist weit genug von der Sonne entfernt entstanden, so dass damals nicht nur Staub und Gestein zur Verfügung stand. Die große Scheibe voll Zeug aus der sich die Himmelskörper gebildet haben, hatte weiter weg von der Sonne auch jede Menge gefrorenes Material, vor allem Wassereis. Wir haben also einen felsigen Kern, umgeben von einer Schicht aus Eis und darüber eine dünne Kruste aus Staub und Eis. Die Temperatur auf der Oberfläche von Ceres liegt bei -106 Grad Celsius; da taut nix auf. Dachte man jedenfalls und man dachte auch, dass Ceres jegliche Wärme schon längst verloren hat. Der Asteroid sollte eigentlich gut durchgekühlt sein… Aber, und das haben die Beobachtungen von Dawn gezeigt: Es ist ganz anders. Offensichtlich ist das Eis von Ceres sehr salzig (auch Natriumkarbonat ist ja ein Salz). Und so wie wir im Winter Salz auf die Straßen streuen um das Eis aufzutauen, könnte auch das Salz in Ceres das Wassereis verflüssigen. Oder eher: verbreien. Man darf sich da keine sprudelnden Quellen vorstellen, keine schwappenden Seen mit Wellen oder so. Aber vermutlich befindet sich ein paar Dutzend Kilometer tief unter der gefrorenen Kruste von Ceres eine Art salziger Wasserbrei. Und ab und zu kann dieses Zeug aus dem Inneren durch Risse nach oben dringen. Dann lagert sich das mitgeführte Natriumkarbonat ab, und es gibt helle Flecken wie im Occator-Krater.
So einen "Kryovulkanismus", bei dem Wasser und Eis die Rolle von Gestein und Lava spielen, findet man auch auf anderen Himmelskörpern im Sonnensystem, wie ich in Folge 300 der Sternengeschichten ausführlich erklärt habe. Auf einem so isoliert liegenden und kleinem Asteroid wie Ceres hat man aber nicht damit gerechnet. Mittlerweile hat man auf Ceres auch Wasserdampf nachweisen können. Keine Atmosphäre natürlich, aber aus verschiedenen Stellen seiner Oberfläche dringt Wasserdampf nach außen und zwar um so mehr, je näher sich der Asteroid an der Sonne befindet.
Ceres dürfte eine ganz besondere Geschichte hinter sich haben. Dawn hat an seiner Oberfläche auch verschiedene Ammoniak-Verbindungen gefunden. Diese chemischen Stoffe findet man normalerweise nicht so weit innen im Sonnensystem. Aber weiter draußen, wo es noch kälter ist, sind die Bedingungen besser. Dort kann das Zeug bei der Entstehung der Himmelskörper existiert haben und deswegen geht man davon aus, dass der große Asteroid nicht zwischen Mars und Jupiter entstanden ist, also da, wo er sich jetzt befindet. Sondern irgendwo in der Nähe der Umlaufbahn von Neptun. Von der ist er in der chaotischen Frühphase des Sonnensystems dann in seine heutige Umlaufbahn gelangt. Es kann aber auch sein, dass Ceres schon im Asteroidengürtel entstanden ist, aber irgendwann mit einem sehr großen Objekt kollidierte, das aus dem äußeren Sonnensystem gekommen ist.
Dank der Dawn-Mission haben wir jede Menge über Ceres herausgefunden. Und jede Menge neue Fragen gefunden, auf die uns eine Antwort fehlt. Der überraschende Lichtpunkt, den Giuseppe Piazzi 1801 im Teleskop gesehen hat, ist zu einer echten Welt geworden. Mit Tälern und Ebenen, mit Kratern und Bergen, mit langen Canyons, die entstanden sind, als Ceres nach seiner Entstehung abkühlte und geschrumpft ist. Mit Eisvulkanen wie dem Ahuna Mons, der es auf eine Höhe von 6 Kilometern bringt. Lange, helle Streifen laufen über seine Flanken hinab; auch hier ist Salz von früheren Ausbrüchen zu sehen.
Ceres ist die Nummer Eins und Ceres ist einzigartig. Das gilt aber für jeden Himmelskörper dort draußen. Wir mögen zwar die acht großen Planeten erforscht haben und denken, wir wüssten deswegen, wie das Sonnensystem beschaffen ist. Aber solange wir nicht auch die vielen kleinen Welten wie Ceres besucht haben, wissen wir eigentlich gar nichts…


