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May 26, 2025 • 22min

Generationenübergreifende Wohnmodelle - Gemeinsam statt einsam

Es wird diskutiert, wie generationsübergreifendes Wohnen als Antwort auf steigende Immobilienpreise und soziale Isolation dienen kann. Die Herausforderungen und Wünsche von Menschen, die Gemeinschaft suchen, stehen im Mittelpunkt. Historische Entwicklungen zeigen, wie sich Wohnmodelle über die Jahrhunderte verändert haben. Einblicke in das innovative Projekt in Sulzbrunn verdeutlichen, wie gemeinschaftliches Leben nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch ökologische Verantwortung fördert. Persönliche Geschichten beleuchten die Bereicherung und Schwierigkeiten solch eines Wohnkonzepts.
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May 26, 2025 • 20min

Einsamkeit - Mehr als allein

Viele Menschen sind einsam. Das ist nicht nur psychisch-emotional ausgesprochen belastend, sondern macht auch körperlich krank. Deshalb fordern Therapeutinnen und Mediziner, dagegen etwas zu unternehmen. Von Daniela Remus (BR 2022)Einen interessanten Artikel zum Thema finden Sie auf ARDalpha: EINSAM UND ALLEIN - Was ihr gegen Einsamkeit tun könnt, bevor sie euch krank machtJETZT LESEN
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May 26, 2025 • 22min

"Mehr Licht" oder "Mehr Nicht"? - Das Gewicht der letzten Worte

Goethe, Marie-Antoinette, Oskar Wilde: Sie starben, wie sie gelebt haben - wenn man ihren letzten Worten glaubt. Berühmte letzte Sätze, die über Jahrhunderte hinweg gesammelt und verklärt wurden. Doch was davon ist wahr und was nur Legende? Von Lavina Stauber Credits Autorin dieser Folge: Lavina Stauber Regie: Martin Trauner Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel Technik: Redaktion: Katharina Hübel Im Interview:Dr. Cornelius Hartz, Philologe und SachbuchautorDr. Carlotta Posth, Juniorprofessorin für Mediävistische Komparatistik an der Universität WürzburgDr. Rupert M. Scheule, Professor für Moraltheologie an der Universität Regensburg  Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Trauerkultur - Der Tod und die DigitalisierungJETZT ENTDECKEN Trauer - Mut zum ganz eigenen WegJETZT ENTDECKEN Sterben - Chronologie des letzten AbschiedsJETZT ENTDECKEN Der Tod und wir - Rebellion gegen die EndlichkeitJETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Literatur: Philippe Ariès, „Die Geschichte des Todes“ – Ein Klassiker der Kulturgeschichte, der den Wandel des Todesbildes in der westlichen Welt nachzeichnet. Deutscher Taschenbuch Verlag, 13. Auflage 2015. Cornelius Hartz, „Sehen Sie, so stirbt man also“ – Ein unterhaltsamer und zugleich nachdenklicher Streifzug durch die letzten Worte historischer Persönlichkeiten. Philipp von Zabern, 2012. Karl S. Guthke, „Letzte Worte“ – Eine kulturgeschichtliche Untersuchung der letzten Worte im westlichen Raum. C.H. Beck München, 1990. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZITATOR: Ein alter und kranker Mann liegt in einem Sessel. Das Kaminfeuer wirft flackernde Schatten an die Wand, der Atem in der Stube ist gedämpft. Johann Wolfgang von Goethe, Dichterfürst und Naturforscher, hebt mühsam die Hand. Seine Augen suchen Licht – das fahle Tageslicht, das durch eines der gekippten Fenster fällt, erreicht ihn nicht mehr. Seine Stimme ist schwach, doch deutlich, als er mit letzter Kraft fordert: „Mehr Licht!“ Dann sinkt er zurück. Die Kerzen brennen weiter, das Fenster bleibt halb geschlossen, das Sonnenlicht hinter den schweren Vorhängen verborgen.  ... Musik Ende SPRECHERIN Goethes letzte Worte sind vermeintlich klar, und vor allem: bedeutungsschwer und vielschichtig – so, wie man sie von einem Denker seines Formats erwarten würde. Eine erstaunliche Leistung auf dem Sterbebett. Doch war es sein letzter Geistesblitz, der ihn selbst, Johann Wolfgang von Goethe, für die Nachwelt in so poetischem Licht dastehen lässt?  01 O-Ton Dr. Cornelius Hartz  Goethe gilt ja bis heute als größter deutscher Dichter und führender Intellektueller seiner Zeit. Und als solchen wollen wir von ihm natürlich ein ganz besonderes letztes Wort und möglichst eines, was vielleicht sogar ein bisschen mehr in sich trägt als nur eine reine Information oder irgendwie was, was besonders Intelligentes oder Geistreiches ist, sondern fast schon mysteriös transzendent. SPRECHERIN Goethes Wunsch nach „mehr Licht“ gehört zu den bekanntesten letzten Worten im deutschen Sprachraum. Und seine letzten Worte sind – in ihrer Rezeption – genau das: Ein metaphorischer, diese sinnliche Welt überschreitender Wunsch nach mehr Erkenntnis, Aufklärung oder Wahrheit. Ganz passend zu Goethes lebenslangem Streben nach Wissen. Doch stammen – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen - die letzten Worte des großen Dichters gar nicht aus seiner eigenen Feder. Das hat Cornelius Hartz in seinem Sachbuch über die letzten Worte historischer Persönlichkeiten quellenkritisch erarbeitet:  02 O-Ton Dr. Cornelius Hartz  Überliefert ist das letzte Wort bei Goethes Leibarzt Dr. Carl Vogel. Und in seiner Schrift zieht er dann aber das Fazit, dass ja die Finsternis, die Goethe in jeder Beziehung stets verhasst war, dass er mit seinem letzten Wort daraus hinauswollte. Und das impliziert dann eben auch eine transzendente, jedenfalls eine zweite Ebene als nur diese reine Information: Ja, hier ist es vielleicht ein bisschen dunkel im Zimmer. SPRECHERIN Cornelius Hartz hat sich durch hunderte letzte Aussagen von Persönlichkeiten geblättert und auf die Suche begeben, wo und durch wen letzten Worte berühmter Persönlichkeiten dokumentiert wurden. Die Quellenauflistung reicht von Platon bis hin zu Konrad Adenauers Familienkreis – und – wird von ihm auf einer prozentualen Skala nach Wahrscheinlichkeiten eingeordnet. Carl Vogel, der nicht nur Goethes Leibarzt, sondern auch sein Gehilfe war, vertraut er als historischer Quelle nicht. Zu stark lässt dieser nämlich in seiner Niederschrift um Goethes Sterbestunde durchblicken, dass es ihm um den runden Abschluss und nachweltlichen Ruhm Goethes gehe. 03 O-Ton Dr. Cornelius Hartz  Das ist vielleicht teilweise die Faszination mit dem Tod bzw. mit dem Übertritt vom Leben in den Tod. Dass wenn eine Persönlichkeit verstirbt, dass wir so eine Art Sentenz gerne hätten. Vielleicht so etwas, was so ein ganzes berühmtes Leben zusammenfasst im besten Fall. SPRECHERIN An den Sterbebetten der Geschichte bilden letzte Worte mehr ab, als nur den letzten Augenblick. Sie scheinen dazu bestimmt zu sein, das ganze Leben zu greifen und so einen Hauch Unsterblichkeit zu erschaffen. Manch einer mag kein einziges Wort aus Goethes Hand gelesen haben, aber kennt die letzten Worte auf seinen Lippen. Andere haben selbst nie eine Lateinstunde besucht, wissen aber, mit welchen Worten Cäsar von dieser Welt schied: „Et tu Brute?“ - Auch du, Brutus? Oder der Geschichtsmuffel erinnert sich vielleicht auch nur deshalb an Rosa Luxemburgs letzte Worte, weil der makabre Widerspruch darin so eindrücklich und politisch ist: „Nicht schießen!“ soll sie gerufen haben – und wurde doch erschossen. Letzte Worte hängen unausweichlich mit dem Ende des Lebens, dem Sterben und dem Tod zusammen. Und diese Endgültigkeit erhebt Anspruch auf Aufmerksamkeit, wie Professor Rupert Scheule von der Universität Regensburg zusammenfasst: 04 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule  Die Endlichkeit des Lebens ist ein Sinngenerator. Weil wir nicht unendlich viel Zeit haben, müssen wir uns zusammennehmen und jetzt die Dinge tun, die wichtig sind. Also das gilt ganz grundsätzlich, aber jetzt, bei den letzten Worten, ist es ja nicht einfach nur die Endlichkeit des Lebens, die zählt, sondern das, was am Ende des endlichen Lebens kommt. Das halten wir für etwas Entscheidendes. SPRECHERIN Professor Rupert Scheule ist Theologe der Moraltheologie, also des Gebiets, das sich mit dem guten und richtigen Handeln aus christlicher Sicht auseinandersetzt. Sein besonderer Forschungsfokus liegt dabei auf den Thematiken Sterben, Trauer und dem Tod. So publiziert er darüber, ob man das „Sterben lernen“ kann oder wie wir noch Lebende dem Tod begegnen. Denn dieser Umgang mit dem Tod hat sich historisch stark verändert und damit auch den Stellenwert der letzten Worte im Leben mitgeprägt. Im religiös geprägten Mittelalter war der Tod ein entscheidender Moment, der nicht als Endpunkt gedacht wurde, …. 05 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth  ... sondern eigentlich als ein Übergang, nämlich genau vom Diesseitigen ins Jenseitige. Und da ist dann die Vorstellung im Grunde, dass das diesseitige Leben etwas episodisches ist. Das ist eigentlich auch das, was relativ schnell vorbeigeht. Und das ewige Leben, was dann folgt, ist ja das, was sehr großes Gewicht hat. SPRECHERIN Der Tod ist, so verstanden, ein Wendepunkt – ein Wendepunkt, der auch in der Arbeit von Carlotta Posth (Aussprache in Clipliste / OT-Projekt) eine wichtige Rolle einnimmt. An der Universität Würzburg beschäftigt sie sich mit mittelalterlicher Vergänglichkeitsliteratur. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf dem deutschen und französischen Sprachraum. Verschiedene Texte, wie die sogenannten „Totenklagen“ untersucht sie daraufhin, wie in ihnen über die Begegnung mit dem Tod gesprochen wird. Für die Einordnung dieser Texte ist das vorherrschende christliche Verständnis vom Jüngsten Gericht entscheidend. Also die Vorstellung von dem Tag, an dem der christliche Gott über alle Menschen richtet. Im 13. und 14. Jahrhundert entwickelt sich durch Werke von Theologen wie Thomas von Aquin und die päpstliche Bulle "Benedictus Deus" systematisch ein neues Verständnis des Jüngsten Gerichts, das nicht mehr als unbestimmte Zukunftsvision dargestellt wird, sondern als sogenanntes „Partikulargericht“ direkt ans Lebensende rückt: 06 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth  Sobald ich sterbe, werde ich sofort gerichtet. Und zwar quasi erst mal nur ich als Individuum. Ich komme in den Himmel oder ich komme in die Hölle, aber es passiert mir jetzt und dadurch kriegt dann natürlich auch diese Sterbestunde eine enorme Relevanz, weil sich in diesem Moment des Übergangs, unmittelbar danach entschieden wird, wie es mir für die Ewigkeit geht.  SPRECHERIN Erstrebenswert war das ewige Leben im Himmel. Dafür galt es auf Erden ein „gutes“ Leben zu leben, aber eben auch: einen guten Tod zu sterben.  07 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth  Und eine Lesart, die im Mittelalter absolut gängig ist, ist auch, dass Menschen, die einen schlechten Tod sterben, auch ein schlechtes Leben gelebt haben. Also dann wird die Art, wie ich sterbe, rückbezogen auf mein Leben und dann wird es auch in diese Richtung ausgelegt. SPRECHERIN In den mittelalterlichen „Totenklagen“, einer literarischen Ausdrucksform der Trauer, findet Carlotta Posth im deutschen und französischen Sprachraum Zeugnisse dieses erzählten Sterbens. In den Totenklagen werden oft Sterbeszenen beschrieben – diese sind meist emotional verdichtet und symbolisch aufgeladen. 08 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth  Zum Teil ist es so, dass quasi ein Fakt, der offenbar so oder so ähnlich passiert, eben dann einmal so, einmal so ausgedeutet oder noch ein bisschen ausgeschmückt, durch Details versehen wird. Und damit ist der Tod auch nicht primär ein natürlicher Tod, sondern es ist immer etwas moralisch Aufgeladenes, und er hat immer auch eine Form von Symbolcharakter, nämlich tatsächlich als Spiegel dessen, wie ich gelebt habe.  SPRECHERIN Im Mittelalter galt es, gut vor Gott zu sterben – mit Blick auf die Ewigkeit. Überlieferte Sterbeszenen lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Prüfsteine lesen: Wer in den Quellen einen „guten Tod“ stirbt, hat – so das theologisch geprägte Weltbild der Zeit – wohl auch ein gutes Leben geführt. Doch genau dort, wo das Lebensende so gewichtig und wirklich alles entscheidet und durch ein stark normiertes „gutes“ Sterben inszeniert wird, beginnt für die Forschung ein Problem: die Frage nach der Authentizität. Ist ein Mensch wirklich so verstorben, wie es niedergeschrieben wurde – oder haben die Hinterbliebenen das im Nachhinein stilisiert? Nicht nur in Texten von mittelalterlichen Hofdichtern, die stark von christlichen Vorstellungen und Normen geprägt waren, auch in späteren Jahrhunderten haben Zeitgenossen den Tod oft nachbearbeitet – als letzter Auftritt, inszeniert für die Nachwelt, zum Beispiel in dem Bericht eines gewissen Leibarztes: MUSIK (die gleiche wie eingangs bei der ersten Sterbeszene von Goethe – Funktion: Hüllt einen Mythos ein) ZITATOR: Weimar, 22. März 1832. Variante 2. Das Zimmer ist gedämpft, nur ein schmaler Lichtstrahl fällt durch die schweren Vorhänge. Der alte Mann atmet flach. Johann Wolfgang von Goethe, Dichter und Denker, hebt mühsam die Hand. Sein Blick fällt auf Ottilie, seine Schwiegertochter, die an seinem Bett wacht. Seine Lippen bewegen sich, kaum hörbar sagt er: „Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen.“ Ihre Hand legt sich in seine. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Dann sinkt er zurück, die Finger werden schlaff. Stille. MUSIK klingt aus SPRECHERIN Vielleicht war es auch so, als Goethe starb. Profaner. Weniger Licht – mehr Frauenzimmer. Denn es gibt noch andere Quellen, die vom Ableben Goethes berichten – nicht nur den Leibarzt Carl Vogel. Zumal: Cornelius Hartz hat in den Aufzeichnungen des Leibarztes von Goethe nachgelesen, dass dieser zugibt, 09 O-Ton Dr. Cornelius Hartz ... dass er selber gar nicht dabei war, sondern andere, die ihm dann berichtet haben: Als letztes hat Goethe gesagt „mach doch den zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkomme.“ SPRECHERIN Und da gibt es ja noch die anderen Quellen: 10 O-Ton Dr. Cornelius Hartz Trotzdem gab es damals auch schon Zeitzeugen bzw. eben seine Verwandten, die am Sterbebett dabei waren, die eine andere Variante berichtet haben, nämlich, dass er zu seiner Schwiegertochter Ottilie gesagt hat: Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen. Was vielleicht dann sich nicht so eignete für so einen berühmten Dichter und Denker als letztes Wort, bevor er aus dem Leben schied. SPRECHERIN Goethes Beispiel macht deutlich, wie stark Sterbeszenen von Nachwelt und Nachbearbeitung geprägt sein können und wie unsicher die Quellenlage oft ist: Überliefert wird, was erinnert wird – oder was als erinnerungswürdig scheint. So soll zumindest nach den Aufzeichnungen des Lyrikers Arthur Symons Oscar Wilde gesagt haben: „Ich sterbe, wie ich gelebt habe – über meine Verhältnisse.“ Der Literaturwissenschaftler Richard Ellmann schreibt in der Biografie über Wilde aber von einer anderen Variante: Dieser soll über die Tapete in seinem Zimmer schimpfen, die ihm mehr als missfällt, und stirbt mit den Worten: „Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich!“. Marie Antoinette soll auf dem Weg zur Guillotine ihrem Henker auf den Fuß getreten sein – mit den entschuldigenden, letzten Worten: „Verzeihen Sie, Monsieur, ich habe es nicht absichtlich getan.“ Zumindest schreibt Antonia Fraser in der Biographie der französischen Königin über diese möglichen Strebeworte. Und Galileo Galilei habe wohl nach dem Widerruf seiner Lehre noch auf dem Todesbett gemurmelt: „Und sie bewegt sich doch!“ – ein Satz, der ihm als Akt des Widerstands zugeschrieben wird. Historisch belegt ist er nicht. Das erste Mal verzeichnet ist das vermeintliche Zitat bei dem italienischen Literaturwissenschaftler Giuseppe Baretti – mehr als einhundert Jahre nach dem Tod von Galileo. 11 O-Ton Dr. Cornelius Hartz Es gibt viele berühmte letzte Worte, die auch denen, die sie geäußert haben, angedichtet wurden. Ein besonders geistreicher Mensch soll natürlich im besten Fall auch als allerletztes in seinem Leben was besonders Geistreiches von sich geben.  SPRECHERIN Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, die Echtheit letzter Worte zu überprüfen – denn nur selten gibt es verlässliche Zeugen und dokumentarische Quellen, die sie genauso überliefert haben, wie sie tatsächlich gesprochen wurden. In vielen Fällen stammen sie aus zweiter oder dritter Hand, wurden nachträglich dramatisiert oder schlicht erfunden, um eine Geschichte runder zu machen. Oder es lässt sich einfach schlicht nicht mehr herausfinden.  12 O-Ton Dr. Cornelius Hartz Eines der ganz berühmten letzten Worte von Caesar: Auch du, Brutus! Was man ja auch von Shakespeare später kennt, findet sich als Erstes bei Sueton. Aber Sueton schreibt eben auch 200 Jahre nachdem Caesar gestorben ist, berichtet nur vom Hörensagen und will vor allem eine dramatische Szene schildern. Zumal eben in der Antike die Geschichtsschreibung noch gar nicht den Anspruch hatte, irgendwelche Quellenforschung zu betreiben, sondern da wurden halt spannende Geschichten aus der Vergangenheit erzählt. Also je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto vager wird das Ganze eigentlich.  SPRECHERIN Das eigentliche Dilemma mit den letzten Worten liegt jedoch weniger in ihrer vagen Überlieferung – sondern im Sterben selbst. Die Vorstellung vom pointierten Abschiedssatz – ob nun historisch verbürgt oder literarisch veredelt – ist eher Erzählkonvention als Realität. Denn der Tod hält sich nicht an dramaturgische Regeln. In den meisten Fällen bleibt keine Zeit für wohlgesetzte Abschiedsworte. Statt eines spitzen Finales steht oft das langsame Verstummen. Rupert Scheule, Moraltheologe von der Universität Regensburg, leitet das interdisziplinäre Forschungsfeld der sogenannten „Perimortalen Wissenschaften“ – ein Fachgebiet, das sich mit Sterben, Tod und den Übergängen dazwischen beschäftigt. 13 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule Insgesamt sollten wir nicht vergessen, dass wir mit einer ganz hohen Wahrscheinlichkeit von ungefähr 70-75 % in unseren letzten 48 Stunden auf Erden bewusstlos sein werden. Vielleicht 10 % von uns werden bis an die Schwelle des Todes ansprechbar bei Bewusstsein sein. Also letzte Worte brauchen physiologisch immer oder meistens jedenfalls einen bestimmten Vorlauf.  SPRECHERIN Die Vorstellung von letzten Worten als bewusst gesetztem, bedeutungsschwerem oder über die Ewigkeit entscheidendem Abschied hält er vor allem für eines: ein kulturelles Erzählmuster.  14 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule Unser Interesse an letzten Worten kommt im Grunde aus einer Erzähllogik. Das Ende ist das Entscheidende. Das mobilisieren wir gegen das Rieseln der Welt.  SPRECHERIN Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende – und genau dieses Bedürfnis nach einem stimmigen Abschluss übertragen wir auch auf das echte Leben. 15 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule Die große Oscar Wilde Weisheit „Live Imitates Art“ stimmt zu 100 % und ist im Grunde überhaupt das Erfolgsrezept letzter Worte. Wir kommen sozusagen in unserem Interesse an letzten Worten von der Erzähllogik her, die wir im Kopf haben. Und diese Erzähllogik lässt uns in das Leben sehen, das Leben strukturieren und auch das Leben leben. Und das macht überhaupt den Reiz letzter Worte aus. Das ist eine zutiefst narrative Logik, die in diesen Worten steckt. SPRECHERIN Und doch gibt es sie – letzte Worte, bewusst gewählt, im Angesicht des Todes gesprochen, mit dem Wissen, dass sie bleiben werden. Eine Botschaft an die Nachwelt, politisch, religiös oder als letzter Ausdruck einer tiefen Überzeugung. Es sind die seltenen Momente des absolut kontrollierten Sterbens: 16 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule  Wenn Hans Scholl mit den Worten stirbt „Es lebe die Freiheit!“, dann ist das natürlich schon berührend. Oder seine Schwester, Sophie Scholl „Die Sonne scheint noch!“ Und bei diesem Satz, ist es auch nicht ganz klar, ob Sophie Scholl tatsächlich das Haar einfallende Sonnenlicht gemeint hat oder ob sie sie im übertragenen Sinn gemeint hat. Und das macht vielleicht auch das hohe Berührungspotenzial letzter Worte aus, dass sie immer auch ein bisschen schillern. SPRECHERIN „Man hält die Sonne nicht auf“ – das war das Motto des französischen Widerstands, sehr wahrscheinlich ist es, dass Sophie Scholl tatsächlich darauf angespielt hat. Dass das tatsächlich ihre letzten Worte waren, da sind sich Historikerinnen und Historiker sicher. Überliefert wurden sie von dem Leiter der Vollzugsabteilung des Landgerichts, dem Scharfrichter und dem evangelischen Gefängnisgeistlichen. - Hinrichtungen und Suizide verleihen letzten Worten eine ganz neue Fallhöhe. Hier gibt es kein unbedachtes Dahinsagen – wer sie spricht oder einen Abschiedsbrief hinterlässt, weiß, dass es das letzte Mal sein wird und dass diese Worte überliefert werden. Sie können als Vermächtnis verstanden werden, als letzte Rebellion, als Trotz, als Auftrag. Und manchmal ist das letzte Wort, so betrachtet, auch politischer Akt. Musik (Funktion: Historische Nacherzählung) ZITATOR 20. Juli 1944, kurz nach Mitternacht. Im Hof des Berliner Gebäudekomplexes Bendlerblock steht ein Militärfahrzeug mit laufendem Motor. Die Nachricht vom Scheitern des Attentats auf Hitler hat sich bestätigt. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Offizier, Aristokrat und Widerstandskämpfer, wird gemeinsam mit seinen Mitverschwörern zum Schießplatz geführt. Als Stauffenberg an die Reihe kommt, ruft er: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Dann fallen die Schüsse. ... Musik Ende 17 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule Da gibt es verschiedene Versionen oder verschiedene Aussagen dazu. Aber vermutlich ist er mit dem Ruf „Heiliges Deutschland!“ oder „Es lebe das heilige Deutschland“ gestorben. Das war ihm ein wichtiger Begriff aus seiner Sozialisation, aus dem George-Kreis. Das war für ihn etwas, wofür er tatsächlich gelebt hat, wofür er ins hohe Risiko dieses Attentats gegangen ist. Auch da haben wir dieses politische Bekenntnis. SPRECHERIN So Rupert Scheule.  Musikakzent SPRECHERIN Letzte Worte markieren den Übergang zwischen Leben und Tod, sind der letzte bewusste oder unbewusste Ausdruck eines Menschen und werden mit Bedeutung aufgeladen. Oft wurden letzte Worte ausgeschmückt, manchmal sogar erfunden. Besonders bei berühmten Persönlichkeiten erscheinen sie im Rückblick oft poetischer, als sie es wirklich waren. Doch vielleicht ist das gar nicht so entscheidend.  18 O-Ton Dr. Cornelius Hartz  Das ist vielleicht wie in der Literatur, dass man ja auch sagt, eine wahre Geschichte ist nicht unbedingt eine, die exakt so passiert ist, aber eben eine, die eine tiefere Bedeutung in sich trägt, die vielleicht für die Menschen deshalb wahr wird, weil sie eben einen anderen Kern hat als bloße faktische Informationen. SPRECHERIN Und vielleicht erfüllen letzte Worte weniger die Funktion eines wörtlichen Zitats als die einer Erzählung, die Trost spendet oder eine tiefere Wahrheit transportiert.  19 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule  Letzte Worte sind gar nicht immer entscheidend, wie das ganze Leben entscheidend ist. Also, wir dürfen das Ende auch nicht überschätzen. Also das könnte auch die Pointe sein, da mal die Bälle flach halten, was die Faszination letzter Worte angeht. Guckt auf das Ganze und ihr seid fairer unterwegs.  
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May 26, 2025 • 24min

Die Freiheitsstatue - ein symbolträchtiges Geschenk

Elizabeth Mitchell, New Yorker Journalistin und Autorin von "Liberty’s Torch", enthüllt die faszinierende Geschichte der Freiheitsstatue. Sie diskutiert, wie das monumentale Geschenk Frankreichs an die USA zum Symbol für Demokratie und Freiheit wurde. Mitchell geht auf die Herausforderungen beim Bau ein und beleuchtet die inspirierende Verbindung zwischen dem Bildhauer Bartholdy und seinem kranken Bruder. Auch das bewegende Gedicht von Emma Lazarus, das der Statue eine Stimme der Hoffnung verleiht, wird thematisiert.
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May 23, 2025 • 24min

Astrid Lindgren – Wie der Krieg sie zur Kinderrechtlerin machte

Die Podcast-Folge fasst Astrid Lindgrens beeindruckende Reise zur Kinderrechtlerin zusammen. Sie berichtet über ihre Kriegstagebuchnotizen und wie diese ihre berühmte Figur Pippi Langstrumpf inspirierten. Auch ihre persönliche Entwicklung und die Herausforderungen als Mutter und Schriftstellerin werden behandelt. Lindgrens unkonventionelle Sichtweise auf Kinder und ihr Einfluss auf die Kinderliteratur und -rechte stehen im Mittelpunkt. Zudem wird ihre berühmte Rede zur Gewaltlosigkeit gegenüber Kindern thematisiert.
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May 23, 2025 • 23min

Die Küche - Zwischen Kochen und Kommunikation

Elektroherd und Wasserhahn, Kühlketten und Lebensmittelgeschäfte: Im 20. Jahrhundert musste niemand seine Butter mehr selber stampfen, Kleinstküchen setzten sich durch. In ihrer Mitte stand und waltete die Hausfrau - allein. Dabei waren Küchen einst wichtige Orte der Kommunikation. Und sind es heute wieder. Oder? Von Julie Metzdorf (BR 2023) Credits Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Caroline Ebner, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian Technik: Andreas Lucke Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Dr. Josef Straßer, Design-Experte Die Neue Sammlung – The Design Museum;Prof. Dr. Tilman Allert Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Stühle, Sessel, Schemel - Wie wir sitzenJETZT ANHÖREN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO Bratpfanne + offener Kamin Musik 1: Greenhouse –  45 Sek ERZÄHLERIN Kochen macht schlau. Gekochte Speisen haben vor Hundertausenden von Jahren das Gehirnwachstum unserer Vorfahren gefördert und so zur Entwicklung des Homo Sapiens geführt – davon gehen jedenfalls Anthropologen aus. Denn Kochen, Garen, Sieden oder Schmoren ist eine Art Vorverdauung außerhalb des Körpers. Die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe können besser verwertet werden, bzw. der Verdauungsapparat muss weniger Energie investieren. Die kann stattdessen ins Gehirn wandern.  ERZÄHLER Das Kochen erweiterte außerdem die Nahrungspalette unserer Vorfahren: es eliminiert Gifte und macht manche Pflanzen überhaupt erst genießbar. Vor allem aber dürfte das Kochen das Sozialverhalten der frühen Menschen entscheidend geprägt haben. Der Soziologe Georg Simmel wies schon vor mehr als 100 Jahren darauf hin: ATMOS Essen + Murmeln + Sektgläser ZITATOR A Georg Simmel  (gest. 1918, zit. nach: Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt von 1910) Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen. ATMO Feuerstelle + Musik 2: Prelude -  40 Sek ERZÄHLERIN Die Feuerstelle war wohl von Anfang an ein Ort der Gemeinschaft und der Kommunikation. Die ersten nachweisbaren Küchen der Menschheit stammen aus der Zeit um 8000 vor Christus und wurden in der Nähe von Jerichow gefunden: Es waren offene Feuerstellen, einfache Lehmöfen und Mahlsteine in den Innenhöfen strohgedeckter Lehmhütten. Vermutlich wurden sie von den Bewohnern der umliegenden Hütten gemeinschaftlich genutzt. Kochen und Essen, das Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung, waren also eng miteinander verknüpft. Design-Experte Josef Strasser: 1 OT Josef Strasser: Anfänge Ganz ursprünglich war das sehr natürlich nicht getrennt, sie hatten ein Feuer, auf dem Feuer wurde gegart, und dann gab es bald auch schon die ersten Keramiktöpfe, in denen dann auch Flüssigkeiten gekocht worden sind, das war nicht getrennt, das war in Einem. ERZÄHLER Im Lauf der Zeit verlagerte sich das Kochen in den Innenraum. Eine Feuerstelle am Boden, später auf einem gemauerten Sockel, wurde Küchenstandard für Jahrhunderte: 2 OT Josef Strasser: Wärme Die Küche war das Zentrum, das Feuer liefert auch Wärme, und das war das Entscheidende, deswegen war das ein sehr zentraler und wichtiger Raum. ERZÄHLER Doch Kochen ist auch gefährlich. Genauer gesagt: offenes Feuer ist gefährlich. Regelmäßig kam es zu Feuersbrünsten, denen ganze Stadtviertel zum Opfer fielen. Selbst ohne Unfälle war die Luft in Räumen mit offenem Feuer schlecht.  3 OT Josef Strasser: Ruß Viele kennen noch den Begriff der Schwarzkuchl, also der schwarzen Küche, das kommt daher, weil das Feuer in dem Raum Rauch entwickelt hat, und der Rauch hat das Ganze geschwärzt, letztendlich war der Raum verrußt. ATMO Feuerstelle ERZÄHLERIN Die Mahlzeit köchelte in einem Kessel, der an einer Kette über der Flamme hing. Mithilfe eines Kesselhakens konnte die Temperatur geregelt werden: Einen Zahn zulegen hieß, die Temperatur zu erhöhen. Der aufsteigende Rauch zog über Öffnungen im Dach ab, er konservierte das Gebälk, wehrte Ungeziefer ab und konnte immerhin zum Räuchern benutzt werden. Der Jurist und Historiker Justus Möser beschrieb 1767 in den „Osnabrückischen Intelligenzblättern“: Weiter Atmo Feuerstelle + Baby + Kessel + Kuh ZITATOR B Justus Möser  (vom niedersächsischen Landesarchiv frei zur Verfügung online gestellt)  Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses und so angelegt, dass die Frau, welche bei demselben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht die Wirtin zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immer fort und fort dabei.  ERZÄHLER Für die einfache Bevölkerung blieb die Feuerstelle jahrhundertelang der Mittelpunkt des Hauses. Privilegierte Stände konnten die Küchenarbeit ans Personal delegieren und räumlich ausgrenzen. In Burgen, Schlössern oder Klöstern befand sich die Küche normalerweise in einem eigenen Wirtschaftsbau oder Küchenflügel, in bürgerlichen Haushalten im hinteren Teil der Wohnung. Die repräsentativen Räume blieben so rauch- und geruchfrei.  ERZÄHLERIN Zum Heizen der Häuser setzten sich ab dem späten Mittelalter Kachelöfen durch. Sie standen in der Wohnstube und wurden von der Küche aus befeuert, der Raum mit dem Kachelofen selbst blieb rauchfrei. Damit war erstmals ein und derselbe Raum warm und rauchfrei.  4 OT Josef Strasser: Kachelofen Kachelofen ist mehr im Wohnbereich, die großen Gebäude mussten ja geheizt werden und dann gab es halt den Kochherd, die Küche, die meistens abgetrennt war. Da muss man natürlich schauen in welcher sozialen Ebene befinden wir uns. Das sind natürlich Unterschiede, ob ich ein kleines Haus habe mit einer kleinen Küche oder ob ich ein riesiges Schloss habe mit einer extra ausgestalteten Küche. ERZÄHLER Ausgenommen die Ärmsten unter den Armen, basierte der vormoderne Haushalt auf dem Prinzip der Vorratswirtschaft. Die meisten Güter wurden nicht als fertige Produkte gekauft, sondern im Haus selbst produziert: Man buk Brot und schlug Butter, es wurde geschlachtet, geräuchert und gepökelt, Wurst und Marmelade gekocht, man kelterte womöglich eigenen Wein, auch Kerzen wurden gezogen, Flachs zum Spinnen bearbeitet, Seife gekocht.  „Betriebsleiterin“ war die Hausmutter. Diese Art des Wirtschaftens änderte sich im 19. Jahrhundert zunehmend mit der beginnenden Industrialisierung. Musik 3: The heroic weather-conditions of the universe, Part 2: Smoke / Fire - Z8034868 107 – 53 Sek ERZÄHLERIN Im Zuge der Industrialisierung entstand die Kleinfamilie: junge Männer und Frauen verließen den ländlichen Hof und die Großfamilie und arbeiteten in der Stadt in einer Fabrik, gelebt wurde in kleinen, meist dunklen Mietwohnungen, erst allein, dann mit Frau und Kindern. Für Brot und Wurst sorgten in den Städten nun Bäcker und Metzger. Auch vieles anderes konnte man nun einfach kaufen. Niemand musste mehr Butter stampfen oder Seife kochen. Die Küchen konnten kleiner werden. Und andersherum: man brauchte kleine Küchen:  5 OT Josef Strasser - Landflucht + Separierung Natürlich ist es in erster Linie die Wohnungsnot, durch die Landflucht, durch die Überbevölkerung der Städte, und in diesem Zusammenhang entstanden auch die sozialen Wohnungsbauprogramme. Und die große Reform war dann, dass man versucht hat, für möglichst viele Leute preiswerten Wohnraum zu schaffen, und dass dieser Wohnraum natürlich beengt war, liegt auf der Hand und aus dem Grund so hat sich da eine Neuentwicklung ergeben, dass man die Küche separiert hat. Statt eines Raumes, in dem alles integriert war, entstanden nun quasi zwei Zellen, du hast auf der einen Seite den eigentlichen Arbeitsraum, die Kochküche, auf der anderen Seite das Esszimmer.  Musik 4: The king’s tulips – 37 Sek ERZÄHLER Voraussetzung für kleinere Küchen, in denen man nicht sofort am Ruß erstickte, war die Eliminierung des offenen Feuers. Der Architekt Francois de Cuvilliés der Ältere. baute in München nicht nur ein schickes Hoftheater, er erfand 1734 auch den Vorläufer unseres modernen Vierplatten-Herds, den sogenannten „Castrolherd“, von französisch „casserole“, Kochtopf. Für die kleine Amalienburg im Nymphenburger Schlosspark in München bedeckte er einen geschlossenen Feuerkasten mit einer durchlöcherten Eisenplatte. Die Brandgefahr verringerte sich erheblich.  ERZÄHLERIN Benjamin Thompson alias Graf Rumford entwickelte – übrigens ebenfalls in München – die Sache weiter und leitete die Hitze des Feuers durch mehrere Kanäle gezielt an verschiedene Stellen der Herdplatte. Anfangs nur für wenige Wohlhabende erhältlich, verdrängten solche geschlossenen Herde nach und nach das offene Feuer aus den Häusern, die Küchen wurden rußfrei.  ERZÄHLER Während der Industrialisierung wuchsen in Europa die Städte rasant an, für Arbeiter wurden große Siedlungen gebaut. 6 OT Josef Strasser – klein + Siedlungsbau Die soziale Frage hat sich ja überall in den Industriestaaten gestellt, England sowieso aber auch in Österreich oder Frankreich aber insbesondere auch in Deutschland und Frankfurt ist so ein großes Paradebeispiel, dass man einfach zehntausende von Wohnungen geschaffen hat. Musik 5: „Himmelspforte“ – 17 Sek ERZÄHLER Die Küchen für die Siedlungen in Frankfurt sollte Margarethe Schütte-Lihotzky gestalten, eine junge österreichische Architektin. Das Ergebnis ging in die Geschichte ein: die sogenannte „Frankfurter Küche“ von 1926 wurde zur Mutter aller Einbauküchen.  7 OT Josef Strasser - Taylorismus + Spüle Man muss aber ein bisschen zurückgehen in der Geschichte, es gab so Bestrebungen bereits im 19. Jahrhundert, ganz wichtig sind da die USA, auch die Frauenbewegungen, dass man sich gedacht hat, wie kann ich das Leben einfacher machen, also rationeller organisieren, … es gab ja diesen Taylorismus, die Rationalisierung in der Industrie und man versucht, das aufs Wohnen, aufs Private zu übertragen, also wie organisiere ich Arbeitsabläufe. ERZÄHLERIN Die Frankfurter Küche sollte vor allem preiswert und deswegen möglichst klein sein. Als Vorbild dienten der jungen Architektin die Speisewagenküchen der Eisenbahn, in denen bei einer Spurweite von etwas mehr als 1,40 Meter naturgemäß sehr platzsparend gekocht werden musste. 6,5 Quadratmeter Grundfläche hatte die Frankfurter Küche. Schränke, Herd, Arbeitsflächen und Spüle waren an den Wänden angeordnet, die Mitte blieb frei bzw. dort stand die Hausfrau und konnte mit wenigen Handgriffen rundum agieren. Platz für eine zweite Person im Raum gab es nicht. Es war eine Arbeitsküche. Ein Tisch hätte da nur gestört, gegessen wurde fortan in einem separaten Ess- oder Wohnzimmer.  8 OT Josef Strasser - Abtrennung  Ein großer Vorteil ist die Hygiene, dass ich einen Raum habe, in dem ich Speisen zubereite und in dem Raum keine anderen Dinge mache, Kinder spielen und das zweite sind die Gerüche, die beim Kochen entstehen, auch Geräusche natürlich, dass das getrennt war, dass das weg war vom Wohnbereich.  ERZÄHLER Doch die Küchen für die Arbeitersiedlungen sollten nicht nur klein sein. Sie sollten der Hausfrau die Küchenarbeit erleichtern und Zeit sparen. Margarethe Schütte-Lihotzky untersuchte daher die Bewegungsabläufe und versuchte sie zu optimieren.  Musik 6: Gimme that shimmy – 42 Sek ERZÄHLERIN Ein höhenverstellbarer Drehstuhl sorgte für die optimale Position je nach Tätigkeit, Fenster ließen sich öffnen, ohne erst irgendwas wegräumen zu müssen, Küchenabfälle konnte mit einer Wischbewegung von der Arbeitsfläche direkt in eine Abfallrinne gewischt werden, war sie voll, konnte man sie wie eine Schublade herausziehen und entleeren.  ERZÄHLER Oder das Bügelbrett: Es wurde mit einem Griff von der Wand heruntergeklappt und mit der Brettspitze auf den gegenüberliegenden Spülschrank aufgesetzt, es hatte also weder störende Füße, noch musste man es umständlich rein- und raustragen. 9 OT Josef Strasser - Abtropfen Wie mache ich das beispielsweise beim Spülen, dass ich nicht die Hände übergreifen muss, sondern ich hab die linke Hand, mit der halte ich das Geschirr mit der rechten spüle ich und ich lege es dann auch wider auf der linken Seite ab und nicht auf der rechten Seite. Es ging auch darum, dass man das Geschirr abtropfen ließ, sie hat ein Abtropfgestellt erdacht, um sich das Abtrocknen zu ersparen. ERZÄHLERIN Die Frankfurter Küche war ganz im Geist der Frauenbewegung entstanden. Schütte-Lihotzky war eine der ersten Architektinnen überhaupt, Frauen durften in Österreich erst Ende des 19., in Deutschland gar erst Anfang des 20. Jahrhunderts Architektur studieren. Dass sich die junge Vorreiterin nun ausgerechnet auf die Planung einer Küche stürzte, klingt nach einem Klischee, hatte aber Gründe: 10 OT Josef Strasser - Architektinnen Ein Mann, ein Architekt denkt sich die Küche so und so, da er nicht in der Küche arbeitet, hat er auch nicht diese Arbeitsabläufe intus. Um die Arbeitsabläufe zu verbessern, muss man sich halt einfach mal damit beschäftigen oder sich damit auskennen. Und deswegen liegt es ein bisschen auf der Hand, dass Frauen als Architektinnen da einen anderen Blick haben als Männer. ATMO Braten ERZÄHLER Die Frankfurter Küche war eine Küche von Frauen für Frauen. Doch vor allem aus konservativen Kreisen gab es von Anfang an Kritik. Sonntags dürften die Kinder aus der Nachbarschaft Puppenküche darin spielen, witzelte man angesichts der geringen Ausmaße der Küche. In der Tat war die Umgewöhnung natürlich enorm. Die Frau – die seinerzeit nun mal fast ausschließlich in der Küche stand – wurde hier zum Zentrum einer Art Maschine, die sie erst bedienen lernen musste.  ERZÄHLERIN Von der Frankfurter Küche selbst wurden nur etwa 12.000 Exemplare gebaut – nicht viel angesichts des rasanten Anstiegs der Bevölkerung in jener Zeit. Und trotzdem: Die Idee Einbauküche setzte sich in Stadtwohnungen durch; die Frankfurter Küche war der Urtyp aller Einbauküchen. 11 OT Josef Strasser - Erfolg Sie hat eine große Wirkung gehabt, hat das Leben vereinfacht, Arbeit erspart, Zeit erspart und damit natürlich auch die damit verbundenen Kosten. Musik 7: Urgem X – 35 Sek ERZÄHLER Seit den 50ern wuchs parallel auch die Zahl der elektrischen Geräte in den Küchen: Toaster, Eierkocher, Rührgerät, Brotschneidemaschine, Waffeleisen, Mikrowelle: Die Küche wurde nach und nach zum Maschinenpark. In den 60ern hielt der elektrische Kühlschrank Einzug, dazu Fertigprodukte, Dosen und Brühwürfel. Das Leben der Hausfrau wurde in mancherlei Hinsicht tatsächlich einfacher. Wäre da nicht dieses eine Problem gewesen: 12 OT Josef Strasser - Ironie Man will das Beste, Rationalisierung, Arbeit sparen, Kräfte sparen, so dass die Frau Zeit gewinnt, für andere Tätigkeiten und was passiert: Isolierung. ERZÄHLERIN Die Kleinstküche wurde zunehmend als Hausfrauenknast gesehen, der Frauen eben nicht befreit habe, sondern in ihrem Kochlabor gefangen hielt, an den Rand der Wohnung gedrängt und vom Esszimmer und dem Rest der Familie getrennt. Um Wege zu verkürzen, baute man Durchreichen, ein Bedienfenster, damit das Essen auch ja warm auf den Tisch kam.  ERZÄHLER Ende der 70er kam Bewegung in die Küchenfrage: Der Designer Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm war eine Art Star-Designer seiner Zeit, unter seiner Federführung wurden die Olympischen Sommerspiele in München in Regenbogenfarben gestaltet. Aicher war nicht nur ein Genussmensch, er kochte auch selbst gern. Als er den Auftrag zur Gestaltung einer neuen Küche bekam, begab er sich erstmal auf Recherchereise.  Musik 8: With Compliments –  45 Sek ERZÄHLERIN Ein Jahr lang besuche er verschiedene Spitzen-Restaurants in Europa und teilweise in den USA und analysierte die dortigen Küchen. Denn von wem könnte man besser etwas über Küchen lernen als von Profis? Das Ergebnis: Aicher begriff Küchen als Orte der Kommunikation:  ZITATOR:  „Essen macht kommunikativ. Es verhindert, dass man alles in sich hineinfrisst“ ERZÄHLERIN …schrieb der Designer 1982 in seinem Buch „Die Küche zum Kochen“. Eine Küche, in der sich praktisch nur eine Person aufhalten kann, war für Aicher ein Unding. Für ihn spielte sich das wahre Leben in der Küche ab, und nicht etwa im Wohnzimmer.  ERZÄHLER Dazu war es notwendig, dass alle alles verstehen können. Mit der gängigen Küchenzeile in einem vom Esstisch abgetrennten Raum war diese Idee nicht vereinbar. Denn mit dem Gesicht zu Wand und den Gästen im Rücken kann man schwerlich am Gespräch teilnehmen, sagt der Soziologe Tilman Allert. 13 OT Tilman Allert - Töpfe Jemand, der kocht, der wird immer um den Genuss der Kommunikationspointen gebracht, weil er immer am Topf steht und da zischt und raucht es und man kriegt nichts mit. ERZÄHLERIN Tilman Allert begreift Küchen als Orte einer „legitimen Trivialkommunikation“. Hier wird nicht unbedingt – manchmal aber durchaus! – über die bedeutenden Dinge der Welt gesprochen. In der Küche darf geschnackt und getratscht werden. Genau das mache sie laut Allert zu so einem einzigartigen Ort menschlicher Geselligkeit. Das und: das gemeinsame Essen. ERZÄHLER Das sah schon Otl Aicher so: Kochen und Essen sollten seiner Meinung nach wieder zueinander finden, im gleichen Raum. Es gibt nichts zu verstecken: Der Prozess des Entstehens der Mahlzeit soll erkennbar sein. Nicht zuletzt regt es ja auch den Appetit an, wenn man das Essen erst ein Weilchen anschaut und noch nicht gleich zulangen darf. 15 OT Tilman Allert - Respekt Es ging ihm um einen Respekt vor dem, was in der Küche geschieht. Das Rohe oder das Ungegarte bringen wir in die Küche, kochen es und über diesem Vorgang wird aus der rohen Natur man könnte sagen genießbare Natur. Und das ist bei Aicher verbunden mit einer Respekteinstellung gegenüber den Gaben der Natur, die für ihn als Katholiken immer Gottesgaben waren. ERZÄHLERIN Aicher holt das uralte Konzept der offenen Küche wieder aus der Schublade. Er entwickelt einen zentralen Küchenblock, eine Kochinsel, mitten im Raum. Außerdem gestaltet er Küchen-Utensilien, die sich an der Profi-Gastronomie orientieren. Wer täglich kocht, braucht professionelles Werkzeug, da machen Billigangebote keine Freude.  ERZÄHLER Ebenfalls von den Berufsköchen abgeschaut: alle Dinge müssen gut erreichbar sein. Erreichbarkeit geht einher mit Sichtbarkeit. Statt Schränke und Schubladen favorisierte Aicher einfache Haken in S-Form, an die man die wichtigsten Küchengeräte einfach dranhängen und mit einer Hand abnehmen konnte.  16 OT Tilman Allert - Küchenblock Dieser Küchenblock und überhaupt die Küchenausstattung, die heute es ermöglicht, dass man in der Küche Geselligkeit praktiziert, die bringt das, was Aicher in den 70er Jahren schon ausgedacht hatte, noch mal deutlicher auf den Punkt, nämlich die Küche als einen geselligen Ort zu begreifen, an dem man irgendwie kocht, etwas entstehen lässt, aber an dem die Kommunikation untereinander zentral ist, also der Aicher ist auf eine Weise modern, wie er sich das selbst damals wohl gar nicht hat vorstellen können.  Musik 9: elephant parade –  27 Sek + ATMOS Murmeln, Braten, Sekt ERZÄHLERIN Ist ja auch eine schöne Vorstellung: der Küchenchef, die Küchenchefin des Abends steht in der Mitte des Raums und kocht, gegenüber stehen die Gäste oder haben auf Barhockern Platz genommen, trinken einen Aperitif oder helfen beim Gemüseschnippeln. Später wechselt man an den großen Tisch gleich nebenan.  ERZÄHLER Aber mal ehrlich: Wer kann sich das schon leisten? In Neubauten mit viel Grundfläche kann man so bauen, in einer Altbau-Mietwohnung ist das nicht umsetzbar.  17 OT Tilman Allert - Milieu Das ist natürlich milieuspezifisch, das muss man sich erlauben können. Aber man muss hinzunehmen, dass in den einfachsten Wohnverhältnissen bis auf den heutigen Tag das berühmte Wohnzimmer, das es ja immer noch gibt, eigentlich vollkommen ungenutzt bleibt und alles Gesellige spielt sich in der Küche ab. Unabhängig vom Geldbeutel könnte man sagen ist die Küche der Ort, an dem man sich versammelt und an dem man Gedanken austauscht. ERZÄHLERIN Heute ist die offene oder auch „Wohnküche“ das Ding der Stunde – und eine Art Kompromiss: Arbeitsfläche, Spüle und Geräte sind oft immer noch in einer Zeile an der Wand angeordnet, aber der Kochende befindet sich zumindest im gleichen Raum mit den Gästen oder restlichen Familienmitgliedern. Das ist zwar nicht ganz so toll wie vis-á-vis mit den Gästen am zentralen Küchenblock zu hantieren, aber immerhin besser als in einem anderen Raum zu stehen und nur ab und zu mal einen Wortfetzen durch die Durchreiche zu erhaschen.  ATMOS Essen + Braten + Murmeln ERZÄHLER Zu ihrer Zeit gab es gute Gründe für die Entwicklung von Einbauküchen für nur eine Person. Im Verlauf der Küchengeschichte ist ihre Existenz aber doch nur ein Wimpernschlag. Kochen, Essen und Reden gehören heute wieder zusammen.  Wer kann, plant deshalb einen Tisch ein, im selben Raum, in dem auch gekocht wird. Selbst wer in einer Mietwohnung mit schlauchförmiger Küche wohnt, versucht wenigstens noch einen kleinen Klapptisch in die Küche zu bauen.  Dazu Musik 10: elephant parade – 35 Sek ERZÄHLERIN Noch besser ist ein großer Tisch. An dem wird nicht nur gegessen. Reden, Schreiben, Spielen, Basteln, wunderbar die große Zeitung ausbreiten, hier werden Hausaufgaben gemacht und Flickarbeiten ausgeführt, hier wird die Nähmaschine aufgebaut, eine Blumenvase hat darauf Platz oder eine Schüssel für Obst oder Briefe. Es ist ein Platz nicht nur fürs Essen – sondern fürs Leben. Musik hoch und aus // 
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May 23, 2025 • 21min

Der Bayerische Bauernbund - Eine Partei für die Dörfler

Bauernproteste, deftige Reden und die These, dass "die da oben" von der Praxis einfach keine Ahnung haben. In den 1890er Jahren hat sich deshalb sogar eine Partei gegründet, der "Bayerische Bauernbund". Von Hans Hinterberger (BR 2024) Credits Autor dieser Folge: Hans Hinterberger Regie: Irene Schuck Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle, Werner Härtl, Christian Schuler Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: PD Dr. Johann Kirchinger, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte Diese hörenswerte Folge von radioWissen könnten Sie auch interessieren:Bayerische Volkspartei, BVP - Die Extrawurst kommt auf den GrillEin Freistaat Bayern ohne CSU? Den gab es! Vor dem zweiten Weltkrieg hieß die dominierende Kraft im Land "Bayerische Volkspartei". Sie darf als Vorgänger der CSU gesehen werden, doch es ist ein Erbe mit Licht und Schatten. (BR 2020)JETZT ENTDECKEN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:  Erzähler: Das ist jetzt ein Eklat! Da steht dieser Politiker mit dem Dialekt und dem bäuerlichen, unangepassten Auftreten, vor einer jubelnden Menge und sorgt für ein Spektakel.… Erzählerin: Und nein! Es geht hier um keinen Politiker unserer Zeit! Wir befinden uns in Ruhpolding, Oberbayern, im Jahr 1895. Georg Eisenberger, der Bauer von Hutzenau, wird in den kommenden Jahrzehnten einer der prägenden Köpfe einer völlig neuen Partei, des „Bayerischen Bauernbundes“, sein. Soeben hat er an den Grundfesten der Staatsordnung gerüttelt. Zitator Eisenberger: „In dem Saal, in dem die Versammlung stattfand, waren die Bilder des Kaisers und der Kaiserin aufgehängt. Diese Bilder nahm ich weg und hängte dafür zwei Bilder von Andreas Hofer und ein Bild des unglücklichen Bayernkönigs Ludwig II. auf. Gegen mich wurde ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung eingeleitet. Das Verfahren verlief jedoch für mich günstig…“ Erzähler: Protest gegen „die in Berlin“, gegen die Obrigkeit und die Eliten, gern auch gegen die Pfarrer und ihre katholische Zentrumspartei, das gehört beim Bayerischen Bauernbund dazu. Ludwig Thoma hat diese Bewegung mitunter wohlwollend als volkstümlich, sympathisch, urbayerisch beschrieben. Der Historiker Dr. Johann Kirchinger, ein ausgezeichneter Kenner bayerischer Landwirtschaftsgeschichte, ist weniger romantisch.  OT Kirchinger 1 Ja, wie landwirtschaftliche Wutbürger. Sehr gewalttätig! Verbal und physisch! Ich hab so einen Versammlungsbericht aus der Frühzeit, das Bezirksamtspersonal muss die ja überwachen. Also der flieht dann, der Bezirksamtmann, dem wird das zu gefährlich. Und er schreibt: Es wurde mit harten Gegenständen geworfen.“ Erzählerin:  Georg Eisenberger zählt da noch zu den Gemäßigteren. Er wird über die gesamte Geschichte der Partei über 40 Jahre lang mit dabei sein, wird Mandate in Landtag und Reichstag erobern, bis die Machtergreifung Hitlers dem Bayerischen Bauernbund 1933 ein Ende setzt. Erzähler: Aber von vorne.  Musik 2 "Am Wörthsee" - Album: Rare Schellacks - München - Szenen & Vorträge 1902-1939 - Trikont Verlag - Länge:  0'35 Eigentlich hatte das flache Land in Bayern, zumindest im katholischen Bayern, schon eine Partei: Das Zentrum, die „Schwarzen“, sozusagen den entfernten Vorgänger der heutigen CSU. Der politische Katholizismus dominiert, der Klerus, Adlige und hohe Beamte haben das Sagen. Doch im Jahr 1893 bewegt sich etwas.  Musik 3 "Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'38  Zitator Eisenberger “Bauern hatten aufgerufen und Bauern sind aufgebrochen um in Traunstein, in dem damals das Zentrum auf hohem Rosse saß, den Willen zur Einheit kundzutun.” Erzähler: Erinnert sich Georg Eisenberger an eine seiner ersten Versammlungen 1893. Erzählerin: Die revolutionäre Botschaft: Man brauche die alten Eliten nicht mehr! Die Bauern könnten sich selbst am besten vertreten. Ein zuvor ungekanntes Selbstbewusstsein keimt auf. Aber warum ausgerecht 1893? Im Kern geht es um eine Richtungsentscheidung deutscher Politik: OT Kirchinger 2 Weil sich Deutschland immer mehr industrialisiert, weil die staatlichen Interessen mit den landwirtschaftlichen immer weniger oder dann auch nicht mehr identifiziert werden können. Weil es konkurrierende, industrielle Interessen gibt, Interessen der Verbraucher, der Produzenten. Da ist einfach die Frage: Will man hohe Erzeugerpreise, dass es den Landwirten gut geht? Oder will man niedrige, dass es den Arbeitern und der Industrie gut geht?  Erzählerin: Reichskanzler Leo von Caprivi weicht den Zollschutz für landwirtschaftliche Güter auf. Jetzt sollen billige Lebensmittel aus dem Weltmarkt nach Deutschland kommen. Das Zentrum hatte dem sogar zugestimmt. Sein Plan: Möglichst konstruktiv am neuen Reich, das doch “Global Player” werden will, mitarbeiten. Nur so würde der Katholizismus im protestantisch dominierten Deutschen Kaiserreich respektiert werden.  Doch was für die Zentrumselite nach einem vernünftigen Ziel klingt, ist für viele Bauern schlicht Verrat. Musik 4 "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'30 Erzähler: Eine These macht sich breit: Diese Politiker hätten keine Ahnung von der Landwirtschaft. Alles abgehobene Theoretiker! Zitator: “Wir wollen zur Vertretung der Bauernsache keine Adeligen, keine Geistlichen, keine Doktoren und keine Professoren, sondern nur Bauern!” Erzähler: So fasst es der niederbayerische Bauernbündler Franz Wieland zusammen. Die Wissenschaft hat für diesen auf die eigenen Interessen fixierten Politikstil einen Namen: „Kommunalismus“. OT Kirchinger 3 Also wenn man den Bauernbund mit einem Wort beschreiben will, von der inneren Kommunikationsstruktur her, dann ist er „kommunalistisch“. Der Bauernbund funktioniert, wie eine Gemeinde funktioniert. Es sollen über ein politisches Problem nur die bestimmen, die von dem politischen Problem auch betroffen sind. Also Bauern Agrarpolitik. Pfarrer Kirchenpolitik. Aber nicht Pfarrer Agrarpolitik. Und das ist ja ein Punkt, den man bei den Bauern immer wieder hört.“ Erzählerin: Reine Bauernpolitik, ohne Rücksicht auf Industrie, Kirche, Stadtbevölkerung oder Weltpolitik. Und im Übrigen auch ohne Rücksicht auf die Nöte der Dienstboten auf den Höfen. Was da ab 1893 angestoßen wird, ist die vielleicht kompromissloseste Klientelpartei der bayerischen Geschichte.  Wie erfolgreich sie wird? Der Bauernbund wird es weit bringen, irgendwann sogar Teil der Bayerischen Staatsregierung sein. Und schließlich wird er ein klägliches Ende nehmen. Musik 5 "Cauchemar de Marx" - Länge: 0'35 Erzähler: Dass es sich hier um eine unkonventionelle Bewegung handelt, das sagt den Zeitgenossen schon Georg Eisenbergers bloßer Anblick im Landtag: Zitator Eisenberger „Zu meiner Wahl schrieb die Gegnerpresse: „Eisenberger in seiner Gebirgstracht hat sich von Haus zu Haus die Stimmen zusammengebettelt.“ Aber trotzdem kaufte ich mir für den Landtag keinen Zylinder und keine Manschetten, sondern ging in meiner Bergkluft zu den Sitzungen.“ Erzähler: Wo er durch seine deftigen Reden gleich das nächste Spektakel bietet. Zum alleinigen Anführer des Bauernbunds wird er aber nie, schon allein, weil Bauer nicht gleich Bauer ist. Eisenbergers Hof in den Bergen ist klein, kann nur durch die Zuarbeit im Forst überhaupt überleben.  Zitator Eisenberger: „Die Bauern in Ruhpolding wie in anderen Gebirgsorten können ihre Existenz nur durch ernste Arbeitssamkeit und großen Fleiß erhalten“ Erzähler: Als Knabe hätte der wissbegierige Eisenberger, den seine Gegner später als kirchenfeindlichen Antichristen beschimpfen, gern Pfarrer werden wollen – aber das Geld war zu knapp. Franz Wieland wiederum, prominenter Kopf der Gründungszeit, ist niederbayerischer Getreidebauer, sozusagen ein Großunternehmer, und denkt in ganz anderen Dimensionen. Erzählerin: Solche Unterschiede werden immer wieder zu Abspaltungen, Streit und Alleingängen führen. Der Bauernbund, das ist oft mehr Anarchie als eine straff geführte Partei. Einigender Kit bleibt die Abneigung gegen die politischen Eliten, die bisher die Landwirtschaftspolitik prägen. Und dabei gibt man sich äußerst respektlos: OT Kirchinger 4 „Der Landwirtschaftliche Verein in München hält eine Generalversammlung. Da ist immerhin der Innenminister Vorsitzender, Prinz Ludwig, der spätere König Ludwig III., ist Schirmherr. Und da nimmt einfach dieser Wieland einen Zug voll Bauern, die fahren nach München und sprengen die Versammlung. Vom Innenminister und vom Prinz Ludwig. Die reden grad über Kalkdüngung, dann kommen die Bündler und sagen: Wir reden jetzt mal über den Getreidepreis. Und wenn wir fertig sind, dann könnt ihr wieder über Kalkdüngung reden!“ Erzähler: Und doch werden sie diesen Anspruch der Politik von Bauern für Bauern ganz ohne Eliten nie erfüllen. Mit Georg Ratzinger, Theologe und Großonkel des späteren Papstes Benedikt, führt zunächst ein Akademiker die Fraktion im Landtag. Auch einige Lehrer und Journalisten werden ihren Platz finden. Bisweilen sind es unbequeme, auffällig antisemitische Geister, die in anderen Parteien keinen Erfolg hatten.  Erzählerin: Noch einem Anspruch werden die Bündler nie gerecht: Dem Plan, dass sie die alleinige Vertretung der Bauernschaft werden könnten. Musik 6 "Cauchemar de Marx" - Länge: 0'20 Zitator Eisenberger „Wenn die Bauern und der Mittelstand einig werden, wird es eine Macht, dann ist es mit der Schwarzen Macht vorbei!“ Erzählerin: So Georg Eisenbergers Kampfansage. Doch der politische Platzhirsch, das Zentrum, hatte dieser Konkurrenzgründung nicht tatenlos zugesehen. „Die Schwarzen“ rufen einen „Christlichen Bauernverein“ ins Leben. An dessen Spitze haben einfache Bauern zwar nach wie vor nichts zu melden, dafür aber gibt es dort den überaus talentierten Ökonomen Dr. Georg Heim, genannt „Der Bauerndoktor“. OT Kirchinger 5 Georg Heim dann mit seinen Bauernvereinen, die eine völlig andere Art der Interessenvertretung sind wie der Bauernbund – eben keine Partei. Und die die Bauern wieder zurückholen wollen zum politischen Katholizismus, über die Vermittlung konkreter Vorteile für die Bauern in Form von betriebswirtschaftlicher Beratung, juristischer Beratung und von Lagerhäusern, also gemeinsamer Vermarktung. Und das ist ziemlich erfolgreich.“ Erzähler: Der Bauernbund wird deshalb bei Wahlen nie an das Zentrum herankommen. Nur Protest funktioniert eben auch nicht, so die Einsicht vieler Wähler. OT Kirchinger 6 Naja, die Bauernbündler haben das nicht eingesehen, dass das nicht funktioniert. (lacht) Der Heim hat das eingesehen, dass das nicht funktioniert…“ Erzählerin: Der von den Pfarrern unterstützte Christliche Bauernverein und der Bayerische Bauernbund stehen sich über Jahrzehnte in herzlicher Abneigung gegenüber.  Musik 7 "Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'32  Erzählerin: Beide buhlen um die Gunst auf dem Land. Die Bündler setzen auf das immer etwas lautere Auftreten. Gegen die Beamten, gegen die Großmachtpolitik Berlins, aber auch gegen die Pfarrer. Ihre Versammlungen sind Spektakel. Der politische Aschermittwoch in Niederbayern ist nicht umsonst keine Erfindung der CSU, sondern des Bayerischen Bauernbundes. Erzähler: Doch was tun diese Aufmüpfigen, wenn es zu einer Revolution kommt, wie 1918? Wo stehen sie, wenn es um die Frage von Monarchie, Demokratie oder auch Sozialistischer Räterepublik geht? Die kurze Antwort: Es ist ihnen völlig egal! Erzählerin: Am 29. Oktober 1918 sendet die Generalversammlung des Bauernbunds zwar noch ein Ergebenheitstelegramm an König Ludwig III. - Tage später aber wird sich der Bauernbund dem Revolutionär Kurt Eisner anschließen.… OT Kirchinger 7 (1130) „Also eine monarchistische Einstellung haben die nicht, das war zu fern, die hatten ja alle mit dem Überleben zu tun.“ Erzählerin: Dass der Bauernbund in der Regierung Eisner dafür sorgt, dass die Bauerninteressen nicht untergehen, schien wichtiger als jede Frage der Staatsform. Erzähler: Insbesondere der niederbayerische Flügel unter dem Gutbesitzer Karl Gandorfer spielt hier eine Rolle. Ohne ihn hätte es die Revolution womöglich gar nicht gegeben. Kurt Eisner hatte Gandorfer nämlich am 6. November, kurz vor der Revolution, auf dessen Hof in Pfaffenberg besucht und eine elementar wichtige Zusicherung erhalten: München würde im Falle der Revolution weiter mit ausreichend Lebensmitteln versorgt.  Musik 8: "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'16 Zitator: „Mehr als vier Jahre hat man das Volk getäuscht, das Blut von Hunderttausenden sinnlos vergossen. Bauern, Bauernbündler! Eure Stunde ist gekommen! Erkennet die Zeichen der Zeit!“ Erzählerin: So Gandorfer. Der Bauernbund also plötzlich auf Seiten des Sozialismus und der Räterepublik?  Erzähler: Nun ja, nicht ganz. Wie so oft hat die Partei keine einheitliche Linie. Am selben Tag, an dem Eisner in Pfaffenberg war, lehnt Georg Eisenberger eine Revolution noch entschieden ab. Seine erste Begegnung mit dem Ministerpräsidenten Eisner beschreibt Eisenberger voller Abneigung: Musik 9 "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'20 Zitator Eisenberger „Als wir in den Sitzungssaal kamen, sahen wir zunächst den Juden Kurt Eisner mit seinem staubigen Vollbart auf dem Präsidentenstuhl sitzen. Das große Portrait von König Max II. dahinter war in einem roten Tuch verhüllt. Das war auch besser, sonst hätte er sich als Gemalener gespieen.“ Erzählerin: Doch auch Karl Gandorfers Neigung zum Sozialismus entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig. Zwar fordert er die … Zitator: „Vermehrung der kleinbäuerlichen Betriebe durch Aufteilung großer Güter über 1000 Tagwerk.“ Erzählerin: also die Zerschlagung des Großgrundbesitzes. Wie der Zufall es aber wollte, hatte Gandorfers eigenes Gut etwas UNTER 1000 Tagwerk. Er selbst wäre von dieser Maßnahme nicht betroffen gewesen und sogar in die Kaste der größten privaten Grundbesitzer Bayerns aufgestiegen. Eigennutz vor Ideologie!   Erzähler: So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Bündler nach der linken Revolution ohne weiteres in die stark rechts orientierte „Ordnungszelle Bayern“ einfügen. Jetzt sogar als Regierungspartei, als Koalitionspartner des mittlerweile in „Bayerische Volkspartei“ umbenannten Zentrums. Erzählerin: Johannes Wutzlhofer, ein Genossenschaftsdirektor aus Straubing, wird 1920 Bayerischer Landwirtschaftsminister. Und Anton Fehr, ein Professor des milchwirtschaftlichen Instituts in Weihenstephan, wird 1922 sogar zum Reichslandwirtschaftsminister ernannt. Erzähler: Erneut gibt es also Widersprüchlichkeiten. Offenkundig sind die beiden keine Bauern, anders als der Gründungsgedanke des Bundes es verlangen würde. Außerdem hindert die Regierungsbeteiligung den Bauernbund keinen Moment lang, draußen auf dem Land weiter als populistische Opposition aufzutreten. So meldet die Regierung von Niederbayern 1925: Zitator „Die radikalen Bauernbundsführer nutzen die Lage zur skrupellosen Verhetzung der Bauern und leider mit bestem Erfolg.“ Erzähler: Und 1927: Zitator „Die Tätigkeit der radikalen Bauernbundesführer und ihrer Presse besteht in einer systematischen Hetze schlimmster Art. Immer wieder wird den Bauern eingehämmert, dass die Staatsregierung für die notleidenen Bauern kein Verständnis habe.“ OT Kirchinger 8 „Der radikale Flügel um Gandorfer macht in der Wirtschaftskrise immer wieder Streikaufrufe. Jetzt hungern wir die Städter aus! Auf der einen Seite ist der Reichslandwirtschaftsminister ein Bauernbündler, auf der anderen Seite will er gegen den Reichslandwirtschaftsminister streiken.“ Erzähler: Immer etwas lauter und schärfer als der Christliche Bauernverein! Der verstand es zwar auch, energisch bäuerliche Forderungen zu erheben, aber sein Vorsitzender Georg Heim war nun mal auch Begründer der Bayerischen Volkspartei. Und die BVP will nun einmal nicht nur Bauern, sondern auch städtische Wähler gewinnen, will Kontakte zu Industrie und Arbeiterschaft pflegen, will Deutschlandpolitik betreiben. Erzählerin: Für den Bauernbund aber gilt konsequent: Die bäuerlichen Interessen kommen zuerst!  Während der Inflation zu Beginn der 1920er Jahre werden Lebensmittel immer knapper, auch weil die Bauern im Austausch für die wertlose Reichsmark immer weniger abgeben wollen. Den Städten drohen Hunger und Elend. Trotzdem nimmt der bauernbündlerische Landwirtschaftsminister konsequent die Bauern in Schutz, weigert sich im Kabinett bisweilen sogar, das Problem überhaupt anzuerkennen.  Erzähler: Als die Regierung 1930 eine neue Schlachtsteuer anstrebt, lässt der Bauernbund aus Protest sogar seine Regierungsverantwortung fallen und geht in die Opposition. Erzählerin: Obwohl das Bayern in eine schwierige Lage bringt. Ministerpräsident Heinrich Held von der BVP regiert fortan nur mehr mit einem Minderheitskabinett. Er versucht den Freistaat vor einer Machtübernahme durch Hitlers Nationalsozialisten zu schützen. Doch 1933 ist dieser Versuch gescheitert. Das demokratische Bayern endet. Erzähler: Und wie verhalten sich die Bauernbündler?  OT Kirchinger 9  „So wurst ihnen der König war 1918, so wurst war ihnen die Demokratie 1933.  (..) Ohne die weltanschauliche Bindung war der Bund mit die erste Organisation, die untergegangen ist unter dem Druck der Nazis. Viele, viele Bauernbündler und bauernbündlerische Abgeordnete machen dann im dritten Reich auch Karriere.“ Musik 10 "Maschine" - Komponist und Ausführender: Martin Todsharow - Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'43 Erzählerin:  Die Presse des Bauernbundes hatte zwar bis 1933 offiziell gegen die  Zitator „Nazi-Mordgesellen“  Erzählerin:  und den  Zitator „braunen Sumpf“ Erzählerin: angeschrieben, doch spätestens nach der Machtergreifung wird den Mitgliedern nahegelegt, die Bauernsache künftig in der NSDAP zu vertreten. Massenhaft treten Bauernbündler über. Das vormals bündlerische „Landauer Volksblatt“ schreibt im April 1933: Zitator „Die Leitidee Wielands, des alten Bauernführers, hat mit dem Steg Adolf Hitlers – des Schmiedes des neuen Reiches – ihre Verwirklichung gefunden. Und wenn Wieland heute noch lebte, würde er wohl segnend die Hände halten über das nun gelungene Werk.“ Erzähler: Der bewusste Verzicht auf höhere Ideologie und höhere Grundsätze hat die Bauernbündler einst dazu bewogen in die Politik zu gehen, selbstbewusst gegenüber dem monarchischen Obrigkeitsstaat zu sein. Aber er hat nicht dabei geholfen, diese Demokratie auch zu verteidigen.   Erzählerin: Auch der inzwischen über 70jährige Georg Eisenberger wird sich, nach Jahrzehnten im Landtag und Reichstag und nachdem er die Nazis lange politisch bekämpft hatte, als zurückgezogener Austragsbauer noch der NSDAP anschließen. Öffentlich aktiv wird er aber nicht mehr. Erzähler: Und nach dem Krieg? Eine direkte Nachfolgepartei des Bauernbundes gibt es nicht. Wer von den alten Mitgliedern noch aktiv wird, wird der CSU beitreten, nicht aber der kleineren Bayernpartei. Denn die stellt mit der „Unabhängigkeit Bayerns“ ja ein hohes politisches Ziel über bäuerliche Alltagssorgen – und so etwas ist einem Bauernbündler nun mal befremdlich.  Erzählerin: Erst viel später, als der Bauernbund längst vergessen scheint, tritt eine politische Kraft auf die Bühne, die für Dr. Johann Kirchinger zumindest in Ansätzen dem Bauernbund ähnelt: Die Freien Wähler. OT Kirchinger 10 Von dem Kommunalistischen her auf jeden Fall. Von der kommunalistischen Einstellung her, dass die wahre Politik in den Gemeinden stattfindet und Landespolitik eigentlich auch so funktionieren soll, wie in der Gemeinde. Dass die Sachpolitik im Vordergrund stehen soll und nicht die Ideologie, was ja auch eine Ideologie ist, sind das strukturelle Forderungen, kommunikative Forderungen, die dem Bayerischen Bauernbund und den Freien Wählern gemeinsam sind.  Erzählerin: Zufall oder nicht: Bei der Landtagswahl 2023 decken sich die Hochburgen der Freien Wähler – meist sehr ländlich geprägte Wahlkreise - auffällig mit denen des Bauernbundes viele Jahrzehnte zuvor. Und seine Rede zum politischen Aschermittwoch 2024 eröffnet Hubert Aiwanger mit einem Verweis auf den Bauernbund. OT Aiwanger 1 „Der erste politische Aschermittwoch hat 1919 stattgefunden in Vilshofen, organisiert vom Bauernbund damals, um nach dem ersten Weltkrieg sich wieder zu orientieren, wieder zu diskutieren, wohin sich das Land entwickeln soll.“ Kirchenglocken und Trauermarsch/geräusch Erzähler: Georg Eisenberger wird das alles natürlich nicht mehr erleben. Die schillernde Figur des Bauernbundes wird Anfang Mai 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, in Ruhpolding zu Grabe getragen. Das Donnern, das währenddessen zu hören ist, kommt nicht etwa von einer einfachen Salutkanone, sondern von der gleichzeitig auf Ruhpolding vorrückenden US-Army. „Er braucht halt immer ein besonderes Spektakel!“, so haben die Ruhpoldinger später gesagt.
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May 22, 2025 • 22min

Meditation und Krisen - Wenn der Blick nach innen zu intensiv wird

Ulrich Ott, Psychologe und Meditationsforscher, beleuchtet die tiefenpsychologischen Aspekte der Meditation. Er erläutert, wie introspektives Meditieren unerwartete Emotionen und Krisen hervorrufen kann. Die Diskussion über Hypersensibilität und intensive Erfahrungen während der Meditation zeigt, wie wichtig der soziale Kontext ist. Zudem wird die Bedeutung des gemeinsamen Schweigens im Zen-Meditieren hervorgehoben, das ein starkes Gefühl der Verbundenheit fördert. Ein spannender Blick auf die dunklen und hellen Seiten der Selbstentdeckung.
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May 22, 2025 • 23min

Singen gegen Apartheid - Miriam Makeba

Miriam Makeba, bekannt durch ihren Welthit "Pata Pata", nutzt ihren Ruhm, um gegen das Apartheidregime zu kämpfen. Ihre Musik wird zum Instrument des Widerstands, doch dieser Einsatz hat seinen Preis. Sie gilt als 'Mama Afrika' und setzt sich unermüdlich für die Rechte der schwarzen Südafrikaner ein. Ihr Vermächtnis inspiriert nicht nur Musikkultur, sondern auch den Kampf für soziale Gerechtigkeit.
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May 22, 2025 • 22min

Biotopvernetzung - Wenn Lebensräume verbunden werden

Zu Gast sind Felix Helbing, Biologe an der Universität Osnabrück, der Insekten und Biotopvernetzung erforscht, sowie Thomas Fartmann, Professor für Biodiversität und Landschaftsökologie. Sie diskutieren die Herausforderungen der Verbuschung und deren Auswirkungen auf die Biodiversität. Helbing spricht über innovative Insektenforschung mit einem Laubsauger und die Überlebensraten von Zikaden. Zudem wird die entscheidende Rolle der Biotop-Vernetzung für den Naturschutz beleuchtet und der Einfluss von Klimawandel und intensiver Landwirtschaft auf Lebensräume thematisiert.

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