SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jan 28, 2024 • 8min

Stephan Wackwitz – Geheimnis der Rückkehr

Über zwei Jahrzehnte war Stephan Wackwitz für das Goethe-Institut in der Welt unterwegs – in Tokio und Krakau, in Bratislava und New York. Und hat zugleich immer geschrieben: Essays, kulturhistorische Bücher und biografische Romane. Jetzt erzählt er in „personal essays“ von seinen Reisen und Begegnungen – und von den Denkern, die ihn seit den 1980er Jahren geprägt haben. Ein intellektuell anregendes Bildungsmemoir mit feinen Beobachtungen und atmosphärischen Stadtbeschreibungen. Anja Brockert im Gespräch mit Christoph Schröder.
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Jan 28, 2024 • 8min

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Die schier unglaubliche Geschichte wird im Rückblick erzählt: Anouk Perlemann-Jakob ist mittlerweile hundert Jahre alt, schaut auf ihr Leben als erfolgreiche Architektin, aber auch auf eine bedrückende Familiengeschichte zurück. Im hohen Alter lernt sie einen Schriftsteller kennen, der ihre dritte Biografie schreiben soll. Sie möchte endlich von bedeutsamen Erlebnissen berichten, die sie aber bislang verschwiegen habe. Die alte Dame hält den Autor zwar für einen … „… Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“  Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Was aber kein Problem ist. Im Gegenteil. „Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Spiel mit Autofiktion Der Schriftsteller ist unsicher, ruft seine Frau Monika an – und die ist empört. Ob die Auftraggeberin zumindest ein gutes Honorar in Aussicht gestellt habe, will die Gattin wissen. Doch über Geld wurde nicht gesprochen. Gewitzt klärt Michael Köhlmeier auf den ersten Seiten seines neuen Romans „Das Philosophenschiff“ nicht nur die Erzählsituation, sondern spielt durch den Verweis auf Monika Helfer auch gleich mit dem Genre der Autofiktion – so wie es übrigens Helfer auch in ihren eigenen Romanen zuletzt getan hat. Das schreibende Ehepaar kommuniziert nicht nur über Bücher, sondern auch in den jeweiligen Werken miteinander über die Fallstricke der Fiktion. Anouk Perlemann-Jakob möchte also ausgerechnet einem Autor, von dem sie annimmt, dass niemand ihm glaubt, eine wahre bzw. ihre wahre Geschichte erzählen. Und die beginnt 1922 in St. Petersburg. „Es war Bürgerkrieg. Und ein Bürgerkrieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Ungebildeten, der Dummen und Bösartigen gegen die Intelligenzija. Zur Intelligenzija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Köhlmeier lässt die hochbetagte Anouk sehr anschaulich von der Vergangenheit berichten, vom „Hungermundgeruch“ der Menschen, von den Versuchen, inmitten des Elends – nämlich draußen im Park – kleine Momente der Freiheit, des Glücks und der Schönheit zu erleben. „Da hat man einen ganzen Nachmittag lang getanzt, jeder mit jedem, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern sowieso (…) alle Kombinationen. Sogar einen Hund habe ich gesehen, der hat mit seinem Frauchen getanzt.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Heilige Gewalt und Märtyrertod Auf dem Heimweg seien die tanzerprobten Füße dann über Leichen in der Straße gestiegen, verhungerte oder ermordete Menschen. Die Bolschewisten kennen keine Gnade. Überall lauern Spitzel, überall werden Feinde der Revolution vermutet. Auch sie, Anouk, habe früher von „heiliger Gewalt und Märtyrertod geträumt“. Jetzt aber herrsche blinder Terror. Insofern kann ihre Familie noch froh sein, als Lenins Schergen den unmissverständlichen Befehl erteilen, die Sachen zu packen. „Sie sagten, wir müssen Russland verlassen. Man wird uns nichts tun. Aber wir müssen gehen. Es sei ein Entgegenkommen der Regierung. Eine Art Gnade der Regierung. Eines Tages würden wir es verstehen und dankbar sein.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Der Roman, der von Ereignissen handelt, die vor über 100 Jahren angesiedelt sind, hat eine schreckliche Aktualität. Das betrifft nicht nur die gefährliche Rede von der angeblich „heiligen“ Gewalt von Mördern, die als „Märtyrer“ verklärt werden, sondern bezieht sich generell auf Terror und Vertreibung als politisches Mittel. Anouk und ihre Eltern müssen ihre Besitztümer zurücklassen und werden auf ein Schiff verfrachtet. Noch glauben sie nicht, dass sie lange überleben werden. Es sind nicht viele Passagiere an Bord des hochseetauglichen und gut ausgestatteten Schiffs, aber alles Leute, die als Feinde der proletarischen Revolution gelten. „Intellektuelle. Philosophen. Wissenschaftler. Ein Architekt. Künstler. Unser Luxusdampfer war ein Philosophenschiff.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Die sogenannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben, wie eine Ausstellung in Moskau unlängst zeigen durfte. In Köhlmeiers Roman aber geschehen seltsame, gewiss erfundene Dinge: Denn das Schiff treibt einige Tage auf dem Meer herum, bis sich ein weiteres Boot nähert und ein geheimnisvoller Gast an Bord gebracht wird. Weil nun eine Zeitlang wieder nichts passiert, klettert die neugierige Anouk heimlich aufs Sonnendeck in der 1. Klasse. Dort sieht sie einen einsamen Mann im Rollstuhl. Sie beobachtet ihn, doch er entdeckt das Mädchen und fragt sie aus. Wie sie heiße, was die Eltern täten und warum sie auf dem Schiff seien. „Ich sagte: Der Lenin hat es befohlen. (…) Und da sagte er es: Der Lenin, das bin ich. Ich bin der Lenin. Lenin bin ich. Und ich glaubte ihm.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Die schreckliche Aktualität des Leninismus Zwischen der kleinen Anouk und Lenin entwickelt sich ein bizarr-berührendes Gespräch über die Revolution, Mathematik, über Bauern und Bücher. Köhlmeier kostet die Szene aus, spannt das lesende Publikum auf die Folter, indem er immer wieder in die Gegenwart zurückspringt, in der die alte Anouk dem erstaunten Schriftsteller aus der Vergangenheit erzählt. Köhlmeier bleibt allerdings nicht bei der doppelten und clever gespiegelten Gesprächssituation, er nutzt sein Alter Ego auch, um das epochenübergreifende Thema des Romans zu entfalten. Lenins Terrorpolitik jedenfalls sollte noch Generationen später viele Nachahmer finden: Anouks Mitarbeiterin in den USA war mal Mitglied der militanten Untergrundorganisation „Weathermen“. Der nicht nur zuhörende, sondern längst recherchierende Biograf erinnert sich zudem an den Studienfreund Carlo aus dem Kommunistischen Bund, der von seiner Genossin Gerlinde eigentlich hätte liquidiert werden sollen. So lautete der Auftrag des Führungsoffiziers. Sie hätten Stalinismus gespielt, sagt Carlo Jahrzehnte später, als wolle er die Taten bagatellisieren. Kurioserweise wäre Lenin bereits 1918 beinahe Opfer eines Attentat geworden. Die Anarchistin Fanny Kaplan schoss auf Lenin, der sich von dem Anschlag tatsächlich nicht mehr so recht erholen konnte. Von der Macht, den politischen Gegner umzubringen, ließ sich selbst der kranke und offenbar unbelehrbare Revolutionär noch berauschen – jedenfalls in Köhlmeiers historischer Fiktion, im Zwiegespräch von Anouk und Lenin. „Er wollte mir erklären, was Macht ist. Ob ich es wissen will. Nicht unbedingt, sagte ich. Wenn ich herumfrage, was Macht bedeutet, sagte er, dann werde ich verschiedene Antworten bekommen, Antworten von den gescheiten Philosophen, die so dumm sind. Die Macht zu gestalten, die Macht, das richtige zu tun, die Macht, einen Staat zu lenken. Und so weiter. Das werden sie sagen. Alles Ausreden. Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Was als Spiel mit dem biografischen Erzählen begann, endet bitterernst. Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ könnte daher als Abgesang auf die literarische Mode der Autofiktion gelesen werden, zumindest als Aufforderung, sich auch in der Literatur wieder intensiver mit drängenden Themen, etwa mit den Gefahren ideologischer Radikalisierung und des politischen Terrorismus zu befassen. Literarische Könnerschaft Mit dem „Philosophenschiff“ schließt Köhlmeier sowohl stilistisch als auch inhaltlich an seine historischen Romane an, etwa „Abendland“ und „Matou“. Im Mittelpunkt dieser als politische Parabeln angelegten Texte stehen immer die Gewaltfrage und der Versuch, die Hybris der aggressiven Figuren mit den Mitteln der literarischen Kunst einzuhegen. Michael Köhlmeier ist ein wahrhaft humanistischer Schriftsteller; statt einer Revolution ist er der Aufklärung verpflichtet, die nicht zuletzt im Erzählen das Reich der Freiheit erkundet. „Das Philosophenschiff“ bleibt, obwohl nur wenig passiert, bis zuletzt spannend. Präzise sind die Dialoge, verspielt die längeren Prosapassagen. Köhlmeier beweist auch mit diesem Buch seine literarische Könnerschaft.
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Jan 25, 2024 • 5min

Pedro Lemebel – Torero, ich hab Angst

Er nennt sich „die Tunte von der Front“, und er verliebt sich ausgerechnet in einen jungen Untergrundkämpfer. Der hat aber nur Interesse am Haus des alternden Transvestiten: als Waffenlager. Pedro Lemebels (1952-2015) grandioser Roman „Torero, ich hab Angst“ erzählt die anrührende Geschichte einer unerwiderten Liebe unter der chilenischen Diktatur. Eine Liebe geprägt von Armut, Unterdrückung und Diskriminierung. Aber auch von Mut und Freundschaft.
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Jan 24, 2024 • 5min

Thomas Schüller – Unheilige Allianz. Warum sich Staat und Kirche trennen müssen

Immer öfter wird vor allem seitens liberaler Politiker/-innen die Forderung laut, dass sich in Deutschland der Staat von der Kirche trennen müsse: Das System einer engen Verflechtung beider sei nicht mehr zeitgemäß und widerspreche der Wirklichkeit einer religiös diversen Gesellschaft, in der überdies die christlichen Kirchen längst nicht mehr Volkskirchen seien. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller greift diese Forderung auf und macht deutlich, dass es im Interesse des Staates, aber genauso auch der Kirchen liegt, ihr Verhältnis zueinander zu klären.
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Jan 23, 2024 • 5min

Elke Engelhardt – 100 sehr kurze Gespräche

Aus 100 Sätzen mach 100 Texte. Mit jeweils 100 Worten. Auf dieser Idee basiert Elke Engelhardt neues Buch „100 sehr kurze Gespräche“. Es sind lyrisch-philosophische Prosaminiaturen, in denen Engelhardt Zwiesprache hält mit ihren Lektüren. Bislang kannte man sie vor allem als Literaturkritikerin. Jetzt etabliert sie sich langsam als Autorin. Sie schreibt nuanciert und trotz aller Intimität nie aufdringlich.
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Jan 22, 2024 • 5min

Tobias Lehmkuhl – Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich

Erich Kästner und die Nazis: Einerseits hatte er Publikationsverbot, andererseits schrieb er das Drehbuch zu dem NS-Prestigefilm „Münchhausen“. Er war zugleich verfemt und geduldet. Wie sah das aus? Das erklärt Tobias Lehmkuhl in „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“.
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Jan 21, 2024 • 11min

Arthur Landwehr – Die zerrissenen Staaten von Amerika

Die ist zerrissen wie nie zuvor, meint der frühere ARD-Washington-Korrespondent Arthur Landwehr: In Stadt und Land stehen sich die Milieus sehr unversöhnlich gegenüber. Landwehr hat mit vielen Amerikanern über ihre Nöte und Hoffnungen gesprochen und gibt kenntnisreiche, authentische Einblicke in die US-Gesellschaft der Gegenwart.
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Jan 21, 2024 • 5min

Iris Wolff – Lichtungen

Was verbindet die Straßenmalerin Kato und ihren Reisegefährten Lev? Warum haben die zwei einander fünf Jahre lang nicht gesehen, bevor sie ihn nach Zürich zitiert hat mit einer Postkarte, auf der nur drei Worte standen: „Wann kommst du?“ Und wohin muss er nun zurück, nach einem gemeinsamen Sommer des Unterwegsseins in mediterranen Gefilden? Welche Geschichte teilen diese beiden Leute Mitte, Ende dreißig? Was ist zuvor geschehen? Fragen wie diese ziehen während der Lektüre immer wieder soghaft hinein in das Buch. „Lichtungen“, so heißt Iris Wolffs neuer Roman, beginnt in der Gegenwart und entführt mehr als drei Jahrzehnte in die Vergangenheit – ganz buchstäblich: Iris Wolff erzählt nämlich rückwärts, in Episoden, die jeweils einige Jahre länger zurückliegen. Logischerweise beginnt sie mit Kapitel „Neun“ und endet mit Kapitel „Eins“. Eine Mischung aus der Maramuresch Lev und Kato, stellt sich heraus, stammen aus der Maramuresch, einem waldreichen Landstrich im Norden Rumäniens nahe der ungarischen Grenze, in dem unterschiedliche Sprachen und Herkünfte zuweilen in gemischten Familien zusammenkommen. Lev hatte es nie gemocht, wenn sie ihn vereinnahmen wollten. Er verweigerte sich der Zuteilung in Deutsch oder Rumänisch. Manche setzten einen Bindestrich dazwischen, doch das kam ihm für seine Familienverhältnisse nicht stimmig vor. Er hatte eine siebenbürgische Mutter und einen rumänischen Vater; sein Großvater berief sich auf seine österreichischen Vorfahren. Lev, eine Mischung aus all dem, fühlte sich nicht verpflichtet, sich irgendwo einzuordnen. Quelle: Iris Wolff – Lichtungen Die Bevölkerungsgruppen konkurrieren um ihren Status in dörflichen und städtischen Gesellschaften, deren historische Bausubstanz zerfällt, deren katholische, protestantische und orthodoxe Kirchen nur mühsam in Schuss gehalten werden. Hier mag das Ende von Ceausescu zwar seinen Sicherheitsapparat weggefegt haben, aber nicht die Erinnerung an dessen Macht bis in die Familien hinein. Viele gehen weg, nach Westen. Und die Angepassten von damals sind die Karrieristen der Gegenwart. Nach und nach wird klarer, dass Kato und Lev seit Kindheitstagen verbunden sind, nach und nach zeigt sich der Charakter ihrer Beziehung, in der es Lev früh um Liebe und Zugehörigkeit ging und Kato immer um Freundschaft und Freiheit. Erst als das Buch in der Gegenwart angekommen ist, zeigt sich, dass beides, Freundschaft und Liebe, vielleicht doch zusammengeht. Aber auch Levs frühes Trauma enthüllt sich und all die anderen Verluste seines Lebens. Zu denen zählt, dass Kato fünf Jahre zuvor das Dorf hinter sich ließ, um mit einem durchreisenden Deutschen die Welt zu erkunden. Kato sah verändert aus; das Dorf, das Haus, vielleicht auch Lev, waren schon aus ihren Gesten, ihrem Gesicht verschwunden. In ihren Augen stand helles, flackerndes Licht, stand Aufbruch. Quelle: Iris Wolff – Lichtungen Die unberechenbare menschliche Erinnerung Iris Wolff findet die Themen auch in ihrem fünften Roman in der jüngeren und jüngsten Geschichte des Landes, in dem sie vor 46 Jahren zur Welt kam. Die zuweilen brutale Zeitgeschichte, gespiegelt in der Geschichte einer Familie und einer fragilen Liebe, ist erneut die Folie, auf der sie das Ineinander wie die Gegenläufigkeit von Heimatbedürfnis und Aufbruch, von Zugehörigkeit und Freiheit betrachtet. Ein aus früheren Büchern von Iris Wolff ebenfalls vertrautes Thema ist die unberechenbare Dynamik des menschlichen Erinnerungsvermögens. Hier wird es gefasst in ein Bild, das dem Roman den Titel gibt: das der Lichtungen. In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das was sich nie verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig. Quelle: Iris Wolff – Lichtungen Was verbindet uns mit den anderen? Die anderen sind es, die und der andere, was der Autorin auch in „Lichtungen“ besonders schildernswert scheint, sprich, die Figuren und ihre Resonanzen. Levs Perspektive ist die bestimmende, seine Träume, seine Verletzungen, seine Hoffnungen, seine Zweifel. Die Motive der anderen bleiben ihm oft rätselhaft, ja undurchdringlich. Auch lesend erfährt man davon meist nur durch die Außensicht. Dass Nähe möglich ist, wenigstens für Augenblicke, und dass aus diesen Augenblicken trotz allem Dauer entstehen kann, ist das eigentliche Wunder, von dem Iris Wolff in „Lichtungen“ erzählt. Die Autorin ist in den letzten Jahren mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet und bei diesen Gelegenheiten als glänzende Stilistin gewürdigt worden. Ihr altmeisterlicher, dabei schwebender Ton, ihre Arbeit mit Leitmotiven und Leerstellen, ihre Befähigung, die wichtigen, vielsagenden Details aufleuchten zu lassen, hat etwas magisch Bezwingendes. Kleinere Macken und Manierismen, wie der häufige und manchmal falsche Einsatz des Demonstrativpronomens „dieser“, stören allerdings ein wenig, gerade in einem Erzählen, das so sehr aus der Sprache lebt.
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Jan 21, 2024 • 5min

Sigrid Nunez – Die Verletzlichen

Sigrid Nunez erzählt in ihrem neuen Roman weniger eine Geschichte, vielmehr einen Zustand: Eine Universitätsdozentin und Schriftstellerin bleibt im Frühjahr 2020 als eine der wenigen aus ihrem Bekanntenkreis in New York zurück. Covid 19 hat die Metropole leergefegt. Wer es sich leisten kann, hat den amerikanischen Melting Pot der Pandemie verlassen, sich in ein Landhaus zurückgezogen oder in luxuriösen Penthouses verbarrikadiert. Sich vor dem Virus zu schützen, ist auch eine Klassenfrage: Die Mittelschicht versteckt sich, während die Arbeiterklasse ihnen die Sachen bringt.« Eine andere Version: Weiße verstecken sich, während schwarze und braune Menschen ihnen die Sachen bringen. Quelle: Sigrid Nunez – Die Verletzlichen Strategien gegen den Lockdown Für die Mittsechzigerin ist es ein Segen, dass die wohlhabende Freundin einer Freundin, die in Kalifornien bei ihrem Schwiegervater gestrandet ist, eine Sitterin für ihren anspruchsvollen Papagei sucht. Ein Mittel gegen viele Krankheiten wird es genannt. Für die Linderung von Stress und Angst; als Trost bei einem Trauerfall, bei Traurigkeit und Verlust: Finde jemanden, der deine Hilfe braucht. Es waren nicht nur in Isolation lebende Menschen, die sich während des Lockdowns dafür entschieden, ein Tier zur Pflege aufzunehmen oder zu adoptieren. Quelle: Sigrid Nunez – Die Verletzlichen Die Erzählerin zieht in das Luxusapartment der Bekannten, findet Trost und Erfüllung darin, mit dem Ara namens Eureka Freundschaft zu schließen, ihn nicht nur zu füttern, sondern vor allem zu unterhalten – ein intelligentes Tier, dem Langeweile zusetzen würde. Eine Win-Win-Situation also. Eigentlich ist das fast alles, was in diesem Roman geschieht. Aber natürlich ereignen sich die eigentlichen Dinge unter der Oberfläche, und nicht nur die Nähe zu einem Tier, sondern auch die Themen, die verhandelt werden, erinnern an Nunez‘ Erfolgsroman „Der Freund“: „Die Verletzlichen“, der Titel spielt auf die vulnerable Gruppe von Menschen an, zu denen auch die Erzählerin gehört, ist ein geradezu kathartisches Buch. Ein kathartisches Buch über das Erinnern Es geht um das Erinnern; das Ich erinnert sich an eine gerade verstorbene Freundin, an Gespräche, an die Kindheit. „Ich erinnere mich“ heißt ein Buch von Joe Brainard, das für die Erzählerin eine immense Bedeutung hat. Wie überhaupt Bücher und Autoren in „Die Verletzlichen“ die Sonden sind, mit denen in Themen wie Einsamkeit, Alter, Krankheit und Tod vorgedrungen wird – mit einem hellwachen interessierten Blick, mit einer unabdingbaren Melancholie. Von Georges Perec über Joan Didion bis zu Günter Grass reichen die Referenzen, ein Lexikon der Vergewisserung, aber auch die Suche nach Erlösung von der Ungewissheit. Wenn die Gegenwart ereignislos oder absurd wird – Donald Trump lügt sich gerade durch seine Regierungszeit –, übernimmt die Erinnerung. Die eigenen Archive werden nach und nach geöffnet, um zu sehen, welche hilfreichen Entdeckungen darin zu machen sind. Und dann gibt es doch noch ein Ereignis, das die Erzählerin verstört, gar aus der Bahn wirft. Ein junger, gut aussehender, höchst privilegierter Collegestudent, der sich zunächst um den Papagei kümmern sollte, aber dann überstürzt abgereist war, kehrt in die Wohnung zurück. (…) die Wohnung ist auch groß genug für uns beide. Aber es ist so anders, wenn er da ist. Er kann nichts dafür, ich weiß, aber die ganze Wohnung ist voller Testosteron. Violet lachte. Das ist das eigentliche Problem, nicht wahr, sagte sie. Da lebst du in großer Nähe zu diesem sehr attraktiven, sehr sexy jungen Mann, eine unübersehbare Erinnerung an das, was du nicht mehr haben kannst, was du verloren hast, dieser aufregende Teil des Lebens, der jetzt hinter dir liegt und nie wiederkommt, und obwohl es nicht sein Fehler ist, gibst du ihm die Schuld. Quelle: Sigrid Nunez – Die Verletzlichen Eines der besten Bücher über die Coronajahre Durch die unfreiwillige Wohngemeinschaft bekommen das Denken und die Lage der Schriftstellerin noch einmal einen neuen Dreh, eine neue Dynamik, möglicherweise gibt es auch so etwas wie Läuterung. Aber das wird nur angedeutet, wie dieses Buch ohnehin ein sehr subtiler Versuch ist, Außen- und Innenwelt in einem unvorstellbaren Moment abzubilden. Einen Roman mit Handlung sollte man deshalb nicht erwarten: Anekdoten und Denkbewegungen, Erinnerungen und Zweifel, Wirklichkeitsschock und Wirklichkeitsflucht werden zu einer Erfahrung gebündelt und in einer Erzählerin verdichtet, die außerhalb der Zeit steht – wie wir in der Pandemie alle aus unserer Zeit geworfen waren. „Die Verletzlichen“, hervorragend übersetzt von Anette Grube, ist eines der besten Bücher, das bislang über die Coronajahre erschienen ist.
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Jan 21, 2024 • 5min

Aurora Venturini – Wir, die Familie Caserta

Alles beginnt auf dem schmutzigen Dachboden eines Landsitzes in der argentinischen Pampa. Dort verbringt Chela die meiste Zeit ihrer Kindheit in Gesellschaft einer kleinen Eule und einer exquisiten Sammlung moderner Literatur, die sie mit frühreifer Neugier verschlingt. Wenn sie dagegen von den Eltern an den Tisch des Hauses befohlen wird, benimmt sie sich gründlich daneben. Anstatt mit Messer und Gabel zu speisen, stopft sie sich das Essen mit bloßen Händen in den Mund und provoziert ihre gesittete Familie zu dem Urteil: „Chela ist ein Tier“. Als Schriftstellerin über Jahrzehnte nahezu unbekannt Dieses Mädchen ist ein ganz besonderer Fall. Dasselbe gilt für den Roman „Wir, die Familie Caserta“ und seine Autorin Aurora Venturini. Studiert in den Fächern Philosophie, Pädagogik und Psychologie  schrieb Venturini ihr Leben lang Poesie, Erzähltexte und Essays. Doch obwohl sie 1948 von Jorge Luis Borges einen Lyrikpreis entgegennehmen konnte, blieb sie als Schriftstellerin praktisch unbekannt. Als ihr Roman „Wir, die Familie Caserta“ 1992 erstmals gedruckt wurde, hatte er, wie die Übersetzerin Johanna Schwering im Nachwort erklärt, schon eine mehr als zwanzigjährige Odyssee der wechselnden Fassungen und gelegentlichen Würdigungen hinter sich. Das Merkwürdigste an all dem ist aber zweifellos die Romanheldin Chela, die vieles gemein hat mit der Protagonistin des Romans „Die Cousinen“, mit dem Aurora Venturini 2007 im Alter von sechsundachtzig Jahren schlagartig berühmt wurde. Doch obwohl es sich bei beiden Romanen um Alterswerke handelt, kann von Abgeklärtheit keine Rede sein. Chelas Geschichte wird für die ersten drei Jahrzehnte ihres Lebensweges, zwischen den Zwanziger Jahren und 1955 retrospektiv nacherzählt, fast durchweg mit ihrer eigenen Stimme, und das bedeutet: in einem aufrührerischen Ton der jugendlichen Revolte, des Eigensinns, der ungenierten, mal frechen, mal selbstbewussten, zuweilen obszönen Offenherzigkeit. Ein gegen den Strich gebürsteter Bildungsroman „Wir, die Familie Caserta“ ist ein gegen den Strich gebürsteter Bildungsroman. Er beschreibt eine Entwicklung, die von Verwilderung, Regelverstößen und antibürgerlicher Verachtung angetrieben wird, trotzdem aber in Hinblick auf die Qualifikationen in Schule und Studium sehr erfolgreich verläuft. Chela gewinnt, noch minderjährig, sogar einen Literaturpreis. Sie ist hochbegabt und allen anderen um Jahre voraus. Vor allem aber sind die Lehrmeister ihrer Widerspenstigkeit keine Geringeren als die Poètes maudits, die verrufenen Dichter der französischen Bohème, von denen sie besonders den ebenfalls frühreif hochbegabten Arthur Rimbaud häufig zitiert und zu ihrem Leitbild macht. Zu Chelas Bildungsstationen gehören Buenos Aires, wo sie sich manisch in eine erste Liebe stürzt, Chile, wo sie Pablo Neruda begegnet, Paris, wo sie ihr Studium fortsetzt, und Sizilien, wo sie bei einer entfernten Verwandten nach der Vorgeschichte ihrer Familie und den Wurzeln ihrer aufrührerischen Weiblichkeit sucht. Sie ist nicht nur ein ungewöhnlicher, extremistischer Charakter, sondern ihr Tun und Lassen ist auch unverkennbar imprägniert von literarischen Vorbildern und einer Vielzahl von kulturhistorischen Referenzen. Elemente des magischen Realismus Wenn sich Chela bei ihren kindlichen Streifzügen plötzlich auf einer Brücke wiederfindet, die „das Magische vom Alltäglichen trennt“, dann wird daran erinnert, dass hier auch Elemente des Magischen Realismus hineinspielen. Kurzum: Aurora Venturinis Roman bildet eine wilde, mal groteske, mal bestrickende Synthese aus persönlichen Obsessionen und literarischen Verweisen. Die Lektüre wirkt ebenso verstörend wie elektrisierend und auf jeder Seite erneuert sich der Eindruck: diese spät zu Ruhm gekommene Autorin ist eine ziemlich einmalige Erscheinung und eine wahrhaft überraschende Entdeckung.

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