SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Feb 4, 2024 • 1h 14min

SWR Bestenliste Februar 2024

In der ausverkauften Bühler Mediathek diskutierten Nicola Steiner, Helmut Böttiger und Christoph Schröder über vier Titel der SWR Bestenliste im Februar. Isabelle Demey und Johannes Wördemann lasen aus den vorgestellten Büchern. Auf dem Programm standen: „Auf den Gleisen“ von Inga Machel (Platz 10), „Alle meine Geister“ von Uwe Timm (Platz 3), „Chor der Erinnyen“ von Marion Poschmann (Platz 2) und „Lichtungen“ von Iris Wolff (Platz 1). Die Jury-Mitglieder lobten die originelle Grundkonstellation und den erzählerischen Sog, den Inga Machels Debütroman entfalte, sahen aber auch Schwächen in der Umsetzung des Stoffs. Marion Poschmanns kunstvolle Erzählung mit Bezügen zur antiken Mythenwelt lud nicht nur zur Interpretation ein, sondern amüsierte Jury wie Publikum. Während Uwe Timms autobiographisches Werk einhellig gelobt wurde, gab es kontroverse Diskussionen zur Spitzenreiterin der Februar-Bestenliste: Die „rückwärts“ erzählte Liebesgeschichte von Iris Wolff enthalte vor allem im ersten Teil sprachlichen Kitsch, die historischen Schilderungen etwa über das Rumänien zu Securitate-Zeiten überzeugte die Bestenliste-Runde hingegen.
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Feb 1, 2024 • 5min

Cal Flyn – Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt

Was passiert mit Orten, die von Menschen aufgegeben und vollkommen der Natur überlassen werden? Wie erobern sich Pflanzen und Tiere selbst kontaminierte Landschaften zurück? Und was heißt das für unser Verhältnis zur Natur? Das sind nur drei der Fragen, die Cal Flyn in ihrer überraschenden, genauen und blendend erzählten Erkundung „Verlassener Orte“ zu beantworten sucht.
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Jan 31, 2024 • 5min

Shehan Karunatilaka – Die sieben Monde des Maali Almeida

Der Kriegsfotograf Maali Almeida wacht im Jenseits auf. Als Geist muss er herausfinden, was aus seinen Bildern geworden ist, die Schrecken des Bürgerkriegs in Sri Lanka festhalten, und wer ihn umgebracht hat. Mit „Die sieben Monde des Maali Almeida“ hat Shehan Karunatilaka einen gewitzten und hochpolitischen Roman geschrieben. 2022 erhielt er dafür den Booker Prize.
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Jan 30, 2024 • 5min

Bartholomäus Grill – Bauernsterben. Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört

In den kultur- und debattenprägenden Großstädten noch kaum wahrgenommen, kündigt sich eine dramatische Krise auf dem Land an, und zwar weltweit. Das zahlen- und faktengesättigte Buch des ehemaligen Afrika-Korrespondenten Bartholomäus Grill unter dem Titel „Bauernsterben“ berichtet davon.
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Jan 29, 2024 • 5min

Benjamín Labatut – Maniac

Wissenschaft an vorderster Front: Benjamín Labatuts Roman „Maniac“ umkreist das Genie John von Neumann und zieht einen weiten Bogen von der Mathematik über die Atombombe bis zur Künstlichen Intelligenz. Ein historischer Roman, wie er aktueller nicht sein könnte.
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Jan 28, 2024 • 8min

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Die schier unglaubliche Geschichte wird im Rückblick erzählt: Anouk Perlemann-Jakob ist mittlerweile hundert Jahre alt, schaut auf ihr Leben als erfolgreiche Architektin, aber auch auf eine bedrückende Familiengeschichte zurück. Im hohen Alter lernt sie einen Schriftsteller kennen, der ihre dritte Biografie schreiben soll. Sie möchte endlich von bedeutsamen Erlebnissen berichten, die sie aber bislang verschwiegen habe. Die alte Dame hält den Autor zwar für einen … „… Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“  Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Was aber kein Problem ist. Im Gegenteil. „Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Spiel mit Autofiktion Der Schriftsteller ist unsicher, ruft seine Frau Monika an – und die ist empört. Ob die Auftraggeberin zumindest ein gutes Honorar in Aussicht gestellt habe, will die Gattin wissen. Doch über Geld wurde nicht gesprochen. Gewitzt klärt Michael Köhlmeier auf den ersten Seiten seines neuen Romans „Das Philosophenschiff“ nicht nur die Erzählsituation, sondern spielt durch den Verweis auf Monika Helfer auch gleich mit dem Genre der Autofiktion – so wie es übrigens Helfer auch in ihren eigenen Romanen zuletzt getan hat. Das schreibende Ehepaar kommuniziert nicht nur über Bücher, sondern auch in den jeweiligen Werken miteinander über die Fallstricke der Fiktion. Anouk Perlemann-Jakob möchte also ausgerechnet einem Autor, von dem sie annimmt, dass niemand ihm glaubt, eine wahre bzw. ihre wahre Geschichte erzählen. Und die beginnt 1922 in St. Petersburg. „Es war Bürgerkrieg. Und ein Bürgerkrieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Ungebildeten, der Dummen und Bösartigen gegen die Intelligenzija. Zur Intelligenzija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Köhlmeier lässt die hochbetagte Anouk sehr anschaulich von der Vergangenheit berichten, vom „Hungermundgeruch“ der Menschen, von den Versuchen, inmitten des Elends – nämlich draußen im Park – kleine Momente der Freiheit, des Glücks und der Schönheit zu erleben. „Da hat man einen ganzen Nachmittag lang getanzt, jeder mit jedem, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern sowieso (…) alle Kombinationen. Sogar einen Hund habe ich gesehen, der hat mit seinem Frauchen getanzt.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Heilige Gewalt und Märtyrertod Auf dem Heimweg seien die tanzerprobten Füße dann über Leichen in der Straße gestiegen, verhungerte oder ermordete Menschen. Die Bolschewisten kennen keine Gnade. Überall lauern Spitzel, überall werden Feinde der Revolution vermutet. Auch sie, Anouk, habe früher von „heiliger Gewalt und Märtyrertod geträumt“. Jetzt aber herrsche blinder Terror. Insofern kann ihre Familie noch froh sein, als Lenins Schergen den unmissverständlichen Befehl erteilen, die Sachen zu packen. „Sie sagten, wir müssen Russland verlassen. Man wird uns nichts tun. Aber wir müssen gehen. Es sei ein Entgegenkommen der Regierung. Eine Art Gnade der Regierung. Eines Tages würden wir es verstehen und dankbar sein.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Der Roman, der von Ereignissen handelt, die vor über 100 Jahren angesiedelt sind, hat eine schreckliche Aktualität. Das betrifft nicht nur die gefährliche Rede von der angeblich „heiligen“ Gewalt von Mördern, die als „Märtyrer“ verklärt werden, sondern bezieht sich generell auf Terror und Vertreibung als politisches Mittel. Anouk und ihre Eltern müssen ihre Besitztümer zurücklassen und werden auf ein Schiff verfrachtet. Noch glauben sie nicht, dass sie lange überleben werden. Es sind nicht viele Passagiere an Bord des hochseetauglichen und gut ausgestatteten Schiffs, aber alles Leute, die als Feinde der proletarischen Revolution gelten. „Intellektuelle. Philosophen. Wissenschaftler. Ein Architekt. Künstler. Unser Luxusdampfer war ein Philosophenschiff.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Die sogenannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben, wie eine Ausstellung in Moskau unlängst zeigen durfte. In Köhlmeiers Roman aber geschehen seltsame, gewiss erfundene Dinge: Denn das Schiff treibt einige Tage auf dem Meer herum, bis sich ein weiteres Boot nähert und ein geheimnisvoller Gast an Bord gebracht wird. Weil nun eine Zeitlang wieder nichts passiert, klettert die neugierige Anouk heimlich aufs Sonnendeck in der 1. Klasse. Dort sieht sie einen einsamen Mann im Rollstuhl. Sie beobachtet ihn, doch er entdeckt das Mädchen und fragt sie aus. Wie sie heiße, was die Eltern täten und warum sie auf dem Schiff seien. „Ich sagte: Der Lenin hat es befohlen. (…) Und da sagte er es: Der Lenin, das bin ich. Ich bin der Lenin. Lenin bin ich. Und ich glaubte ihm.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Die schreckliche Aktualität des Leninismus Zwischen der kleinen Anouk und Lenin entwickelt sich ein bizarr-berührendes Gespräch über die Revolution, Mathematik, über Bauern und Bücher. Köhlmeier kostet die Szene aus, spannt das lesende Publikum auf die Folter, indem er immer wieder in die Gegenwart zurückspringt, in der die alte Anouk dem erstaunten Schriftsteller aus der Vergangenheit erzählt. Köhlmeier bleibt allerdings nicht bei der doppelten und clever gespiegelten Gesprächssituation, er nutzt sein Alter Ego auch, um das epochenübergreifende Thema des Romans zu entfalten. Lenins Terrorpolitik jedenfalls sollte noch Generationen später viele Nachahmer finden: Anouks Mitarbeiterin in den USA war mal Mitglied der militanten Untergrundorganisation „Weathermen“. Der nicht nur zuhörende, sondern längst recherchierende Biograf erinnert sich zudem an den Studienfreund Carlo aus dem Kommunistischen Bund, der von seiner Genossin Gerlinde eigentlich hätte liquidiert werden sollen. So lautete der Auftrag des Führungsoffiziers. Sie hätten Stalinismus gespielt, sagt Carlo Jahrzehnte später, als wolle er die Taten bagatellisieren. Kurioserweise wäre Lenin bereits 1918 beinahe Opfer eines Attentat geworden. Die Anarchistin Fanny Kaplan schoss auf Lenin, der sich von dem Anschlag tatsächlich nicht mehr so recht erholen konnte. Von der Macht, den politischen Gegner umzubringen, ließ sich selbst der kranke und offenbar unbelehrbare Revolutionär noch berauschen – jedenfalls in Köhlmeiers historischer Fiktion, im Zwiegespräch von Anouk und Lenin. „Er wollte mir erklären, was Macht ist. Ob ich es wissen will. Nicht unbedingt, sagte ich. Wenn ich herumfrage, was Macht bedeutet, sagte er, dann werde ich verschiedene Antworten bekommen, Antworten von den gescheiten Philosophen, die so dumm sind. Die Macht zu gestalten, die Macht, das richtige zu tun, die Macht, einen Staat zu lenken. Und so weiter. Das werden sie sagen. Alles Ausreden. Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Was als Spiel mit dem biografischen Erzählen begann, endet bitterernst. Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ könnte daher als Abgesang auf die literarische Mode der Autofiktion gelesen werden, zumindest als Aufforderung, sich auch in der Literatur wieder intensiver mit drängenden Themen, etwa mit den Gefahren ideologischer Radikalisierung und des politischen Terrorismus zu befassen. Literarische Könnerschaft Mit dem „Philosophenschiff“ schließt Köhlmeier sowohl stilistisch als auch inhaltlich an seine historischen Romane an, etwa „Abendland“ und „Matou“. Im Mittelpunkt dieser als politische Parabeln angelegten Texte stehen immer die Gewaltfrage und der Versuch, die Hybris der aggressiven Figuren mit den Mitteln der literarischen Kunst einzuhegen. Michael Köhlmeier ist ein wahrhaft humanistischer Schriftsteller; statt einer Revolution ist er der Aufklärung verpflichtet, die nicht zuletzt im Erzählen das Reich der Freiheit erkundet. „Das Philosophenschiff“ bleibt, obwohl nur wenig passiert, bis zuletzt spannend. Präzise sind die Dialoge, verspielt die längeren Prosapassagen. Köhlmeier beweist auch mit diesem Buch seine literarische Könnerschaft.
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Jan 28, 2024 • 1min

Colm Tóibín – Der Zauberer

Philipp Oehmke, Kulturchef des „Spiegel“ und Romanautor, empfiehlt Colm Tóibíns empathische und tief recherchierte Romanbiografie über Thomas Mann: „Der Zauberer“.
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Jan 28, 2024 • 54min

SWR2 lesenswert Magazin u.a. mit neuem Buch von Michael Köhlmeier

Der Roman „Das Philosophenschiff" von Michael Köhlmeier ist eine Parabel auf die Politik des Terrors. Er führt zurück in die Zeit der bolschewistischen Repression – und ist von hellsichtiger Aktualität. In diesem Jahr wird der 300. Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert. Warum der Königsberger Philosoph für uns heute so wichtig ist, erkunden Daniel Kehlmann und Omri Boehm in ihrem Buch „Der bestirnte Himmel über mir". Eine Ermunterung zum selber denken.  Der Autor Stephan Wackwitz war lange für das Goethe-Institut in der Welt unterwegs. Jetzt erzählt er in einem Bildungsmemoir von seinen Reisen und Begegnungen – und von den Denkern, die ihn geprägt haben. Außerdem: Alex Capus führt ins Italien in den 1990er Jahren - und ins Herz seiner Poetik. Wir erinnern an die Büchner-Preisträgerin Elke Erb und sprechen über die Shortlist 2024 des „Wortmeldungen"-Literaturpreises für Kritische Kurztexte.    Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff Hanser Verlag, 222 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-446-27942-1 Rezension von Carsten Otte Omri Boehm und Daniel Kehlmann – Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant Aus dem Englischen von Michael AdrianPropyläen Verlag, 352 Seiten, 26 Euro ISBN 978-354-910-068-4 Rezension von Frank Hertweck Stephan Wackwitz – Geheimnis der Rückkehr S. Fischer Verlag, 368 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-10-397562-8 Gespräch mit Christoph Schröder Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Hanser Verlag, 160 Seiten, 22 Euro ISBN 978-3-446-27941-4 Rezension von Julia Schröder Colm Tóibín – Der Zauberer Aus dem Englischen von Giovanni Bandini Hanser Verlag, 560 Seiten, 28 Euro ISBN 978-3-446-27089-3 Lesetipp von Philipp Oehmke Shortlist 2024 des „Wortmeldungen"-Literaturpreises für Kritische Kurztexte Gespräch mit Dr. Sandra Poppe, Leiterin des „Wortmeldungen"-Programms Musik: Blick Bassy - Mádibá Label: Infiné
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Jan 28, 2024 • 7min

Shortlist 2024 des „Wortmeldungen"-Literaturpreises für Kritische Kurztexte

Kritische Kurztexte zu Themen, die unsere Gesellschaft bewegen: Fünf Autorinnen und Autoren sind für den „Wortmeldungen“-Literaturpreis 2024 nominiert. Worüber schreiben sie? Warum sind die Texte literarisch bemerkenswert? Ein Gespräch mit Sandra Poppe, Leiterin des „Wortmeldungen“-Programms, über die Shortlist 2024. Wer sind die Nominierten? Fünf Autoren und Autorinnen sind für die Shortlist des 7. WORTMELDUNGEN-Literaturpreises nominiert: Nilufar Karkhiran Khozani, Elena Messner, Dragica Rajčić Holzner, Konrad H. Roenne und Frank Witzel.
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Jan 28, 2024 • 5min

Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang

Der Schweizer Alex Capus ist einer der beliebtesten Gegenwartsautoren seines Landes. Was das Geheimnis seines Erfolgs sein könnte, mag mancher sich fragen, sind doch die Hauptfiguren seiner bisher elf Romane weder Superhelden noch Superschurken, und bisweilen sehen sie sogar, wie in Capus‘ Roman „Das Leben ist gut“ ihrem Schöpfer ausnehmend ähnlich. Dessen neues Buch „Das kleine Haus am Sonnenhang“ ist kein Roman, obwohl es wie einer anfängt. Dieses Mal scheint es wirklich der Autor höchstselbst zu sein, der hier spricht, und auf den ersten Seiten könnte man glauben, der habe einfach mal ein paar nette Episoden aus seinem eigenen, mittlerweile 62-jährigen Leben erzählen wollen. In deren Zentrum steht das titelgebende kleine Bruchsteinhaus am Sonnenhang, im Seitental eines Seitentals im Piemont, das Capus in seinen Dreißigern, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, für kleines Geld gekauft hatte. „Wenn meine damalige Freundin und ich mit unserem gelben Renault 4 aus der Schweiz anreisten, bogen wir in Sichtweite des Hauses von der Strada Provinciale ab und schlingerten auf einem Feldweg hinunter zu einem ausgetrockneten Bachbett, das wir mit Karacho durchqueren mussten, um es auf der anderen Seite den steilen Hang hinauf bis zum Haus zu schaffen.“ Quelle: Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Ohne Handy, mit Hermes Baby Die damalige Freundin ist, wie sich bald herausstellt, die Ehefrau des Autors, Nadja Capus, heute Professorin für internationales Recht und Mutter der gemeinsamen fünf Söhne. Es ist dann viel die Rede von den Instandhaltungsarbeiten am Haus, von den kaum je sichtbaren Nachbarn im gegenübergelegenen Dorf, von sommerlichen Besuchern und den Vergnügungen des Landlebens, vom Erwerb eines Kachelofens, von der nächstgelegenen Kleinstadt, auch von der vom Erzähler frequentierten Bar dort und deren Stammgästen, mit denen er sich anfreundet. Und vom Tippen auf der Hermes Baby, von den Zeiten ohne Internet und Smartphone, dafür mit anderen Eigenheiten: „Es waren die neunziger Jahre, wie erwähnt, damals rauchte man noch. Was haben wir geraucht! Wir rauchten alle, und wir rauchten überall und jederzeit. (…) Keine Ahnung, warum wir dermaßen geraucht haben. Irgendetwas muss schon dabei gewesen sein. Sonst hätten wir’s doch nicht getan.“ Quelle: Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Das ist alles recht unterhaltsam, fein beobachtet und fein beschrieben … Und als man sich gerade zu fragen beginnt, warum eigentlich Alex Capus das alles erzählt, stellt man fest, dass in diesem Buch doch viel mehr steckt als eine Reihe nostalgisch-skurriler Ferienerlebnisse. Wesen und Wirkung der Kausalkette Unmerklich haben sich dazwischen nämlich Überlegungen und Bekenntnisse zum Schreiben, zum eigenen und zu dem der anderen, gewoben. Zunächst einige Bemerkungen zum Unterschied, den es macht, ob man Bücher auf Papier und Schreibmaschine entwirft und überarbeitet oder mit der Textverarbeitung auf dem Computer, dann zur Frage, wie die Züge realer Personen in fiktive Figuren einfließen und wie sie sich dort verändern. Schließlich entwickelt Capus, in Gestalt einer Geschichte über einen aufgebrochenen Opferstock und die konstruktive Ermittlungsarbeit des kleinstädtischen Maresciallo, originelle Gedanken, betreffend die überzeugende Konstruktion und – mindestens so wichtig - den überzeugenden Abschluss von Kausalketten in der Literatur, er nennt sie auch „Fährten“. Die sind für Alex Capus eine unabdingbare Voraussetzung des Erzählens. Oder jedenfalls für seines:   „Wir kommen zur Welt und dann geschehen ein paar Dinge, die nicht unbedingt miteinander in Zusammenhang stehen, und dann sind wir tot. Diese Vorstellung ertragen wir schlecht. Uns verlangt es nach Sinn, deshalb schmieden wir Kausalketten und erzählen einander Geschichten. Grimms Märchen sind Kausalketten, und zwar lückenlose, sonst könnten die Kinder nicht einschlafen.“ Quelle: Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Diese Überlegungen sind sympathisch lebensnah. Und dabei immer wieder leise ironisch. „Oder Hollywood: Zwei junge Leute verlieben sich an Bord der Titanic, dann kommt ein Eisberg und Leonardo DiCaprio ertrinkt.Kausalketten, soweit das Auge reicht.“ Quelle: Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Die Großen werden nicht geschont Die Ironie verschont allerdings auch die Großen des Erzählgewerbes nicht. So macht Capus sich ein bisschen lustig über die schwächliche Erregungsstimulation bei Marcel Proust durch ein paar erinnerte Krümel eines nicht sonderlich spektakulären Gebäcks. Dem „Ulysses“ von James Joyce wiederum gesteht er zu, es handele sich gerade wegen der Verweigerung jeder Kausalität um einen Meilenstein der Weltliteratur. „Das mag als Experiment bahnbrechend gewesen sein, macht das Buch aber, seien wir ehrlich, für die meisten Menschen unlesbar.“ Quelle: Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang Ganz im Gegensatz zu dem, was Capus hier serviert. Auf sehr leicht lesbare Weise, in der Art eines Feuilletons, jubelt dieses Buch seiner Leserschaft eine ganze Menge Überlegenswertes zum Leben und zum Schreiben unter, verbindet autofiktionales Erzählen mit einer kleinen, vielleicht gar nicht mal so kleinen Poetik. Die Jahre in der Abgeschiedenheit des Piemont, im kleinen Haus am Sonnenhang, gehen irgendwann zu Ende, mit einem Schuss, einem entwendeten Kachelofen und einem endlich fertig geschriebenen Romanmanuskript. Einiges lässt Alex Capus so in der Schwebe, dass es als produktive Unruhe im Gemüt weiterwirkt. Allgemeingültigkeit beansprucht das alles natürlich nicht. Aber wo gäbe es die je in der Literatur?

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