SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jul 28, 2024 • 4min

Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen

Die US-Wahlen im November entwickeln sich zur Zitterpartie. Nicht nur für Amerika, sondern auch für Europa.  Kerstin Kohlenberg erzählt in ihrem Buch „Das amerikanische Versprechen“ anhand von drei Lebensgeschichten vom „Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land“. Es sind Geschichten vom Rand der amerikanischen Gesellschaft in 27 Kapiteln, in denen Kohlenberg  den zeitlichen Bogen von 1987 bis zur Gegenwart spannt.           Nichts scheint die drei Hauptfiguren zu verbinden: Der Krankenpfleger Stephen aus dem ländlichen Kentucky gehörte zu den Erstürmern des Kapitols im Jahr 2021. Der Schwarze Black-Lives-Matter-Aktivist Walter wächst in der New Yorker Bronx auf. Die Latina Magali wird als Siebenjährige über die mexikanische Grenze nach Iowa geschmuggelt, wo ihre illegal eingewanderten Eltern in der Fleischindustrie arbeiten. Die Orte, an denen Kohlenbergs Protagonisten leben, spielen eine ebenso große Rolle wie die Herkunftsfamilien und die Zeitumstände. Kentucky und die Opioid-Krise Der Krankenpfleger Stephen ist der einzige weiße Protagonist im Buch. Der Sohn einer früh verstorbenen drogenabhängigen Mutter wächst in instabilen Familienverhältnissen auf; Hilfe durch ein unterstützendes Sozialsystem erfährt er nicht. Kerstin Kohlenberg nutzt immer wieder biografische Etappen ihrer Protagonisten, um den Blick auf das größere Ganze zu lenken. Kentucky war schon immer der Vorbote für die Drogenprobleme Amerikas gewesen. Die Opioid-Krise hatte hier ihren Ursprung, das  Opioid OxyContin war  … von Ärzten massenhaft … verschrieben worden . … In den Jahren darauf stieg die Zahl der Abhängigen und Toten massiv an, der Hersteller … hatte das hohe Abhängigkeitsrisiko verschwiegen. Quelle: Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen Als abstrakten Fakt mag man sich solche Informationen nur schwer merken, aber verbunden mit Stephens deprimierender Familiengeschichte brennen sie sich ins Gedächtnis ein. Dass der junge Südstaatler im Januar 2021 schließlich die Absperrung zum Kapitol niederreißt, ist einer Kette von Zufällen geschuldet und seiner politischen Radikalisierung. Kohlenbergs Reportagekunst ist es zu verdanken, dass wir uns vom Klischee des gewaltbereiten, stupiden Kapitolstürmers verabschieden können und den verlorenen Menschen Stephen sehen, dem das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten nie eine wirkliche Wahl ließ. Wahlkampf und Migration Warum der Schwarze politische Aktivist Walter 2024 nicht mehr zur Wahl gehen will, ist besonders vor dem Hintergrund des aktuellen US-Wahlkampfs interessant. Die amerikanische Politik-Maschine wird von unvorstellbar hohen Geldsummen angetrieben, von denen sie aber auch abhängig ist. Walters politische Karriere nährt nachhaltige Zweifel an einem System, in dem der Einfluss von Lobbygruppen eine heiße, käufliche Ware ist. Wer die Bedeutung des Themas Migration im US-Wahlkampf verstehen will, wird den Weg der jungen Latina Magali von der Illegalität in die amerikanische Mittelschicht mit Spannung verfolgen. Geschickt verknüpft die Autorin die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in der Kleinstadt Denison mit der Rolle der Gewerkschaften und der Einwanderungsgeschichte von Magalis mexikanischer Familie. Kerstin Kohlenberg spricht vom „amerikanischen Evangelium des Wohlstands“, und Magali macht es sich zu eigen. Ein wichtiges Aufklärungsbuch über die USA Magalis Eltern waren nicht wegen der Idylle nach Iowa gekommen. Denison war schon lange keine beschauliche Kleinstadt mehr. … In Denison wurden jeden Tag 10.000 Schweine geschlachtet, dazu Rinder und Hühner, …. Wenn der Wind von Westen blies, konnte man … den Gestank der Tierexkremente überall riechen.   Quelle: Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen Kerstin Kohlenberg hat ein wichtiges Aufklärungsbuch über Amerika geschrieben, in dem sie mit einer Mischung aus Distanz und Empathie auf ein Land blickt, das uns zunehmend fremd geworden ist. Das Ergebnis der anstehenden Wahlen kennen wir nicht. Aber wer Kohlenbergs Buch liest, wird es einordnen und besser verstehen können.
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Jul 28, 2024 • 9min

Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte

Mit den ersten Zeilen des Auftaktgedichts, das den programmatischen Titel „In klammen Zeiten“ trägt, wird eine neue Vorkriegsstimmung beschrieben. Eine kühle Feuchte scheint eine lange Lebens- und Wortgemeinschaft zu lähmen, während sich andere auf hitzige Schlachten vorbereiten. Die Helden rüsten sich, / Unser Haus zu zerstören, / und wir – – / schleifen die Argumente. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Der Alltag der meisten Menschen geht wie gewohnt weiter, mit Bootstouren und Spielen, die wie eine absurde Ablenkung vor der drohenden Apokalypse erscheinen. Anders als diese „Oper des kleinen Mannes“ sieht das Drama der Intellektuellen aus: Die mahnenden Reden sind gehalten, die politische Entwicklung war nicht aufzuhalten. Das lyrische Wir zieht sich ins Private zurück. Michael Köhlmeier hat den Band seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer gewidmet. Sie ist das vertraute Gegenüber in diesen autobiographischen Versen, in denen Liebeserklärung und politische Verzweiflung miteinander verbunden sind.  Deine Sorgen sind berechtigt, / dein Lachen ist schön. / Was soll ich nach größeren Worten suchen, / wenn die großen uns nicht schützen konnten. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Gedichte als Schutz vor der Resignation „… ja, wenn die großen Reden gehalten sind, wenn die größten Worte uns nicht schützen konnten, dann ist es eine Einsicht in diese erschütternde Begrenztheit des Intellektuellen, dass die größten Gedanken vor der kleinsten Handlung kapitulieren. Ich bin aber nicht resigniert. Allein die Tatsache zu schreiben, etwas zu beschreiben, zum Beispiel den Gaumen anzuregen, wenn man das Wort ‚Himbeer‘ niederschreibt, allein das tröstet mich und schützt mich vor der Resignation.“ Zahlreiche Gedichte im ersten Zyklus des Bandes, der mit dem Titel „Im Haus des Feindes, im Haus des Freundes“ überschrieben ist, gleichen einer aphoristischen Selbstbefragung. Die Themen, die den bald 75-jährigen Schriftsteller Michael Köhlmeier immer schon beschäftigt haben, tauchen auch in seiner bitter-brillanten Poesie wieder auf: Die fortwährende Gewaltgeschichte der Menschheit, die ideologische Rechtfertigung terroristischer Mittel für angeblich heilige oder offen barbarische Zwecke. Die Sehnsucht nach der Gartenidylle angesichts der gesellschaftlichen, aber auch persönlichen Leiderfahrung. „Was ist genug?“ fragt die lyrische Stimme und schaut zum Beispiel auf die letzte Ruhestätte des früh verstorbenen Kindes. Die Kerzen auf dem Grab unserer Tochter – sind sie würdig / genug? / Die Gedanken an ihr Gesicht, wenn sie Sorgen hatte – sind sie / sorgenvoll genug? Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte „Ich habe eine kleine Novelle geschrieben, die heißt: ‚Idylle mit dem trinkenden Hund‘, die sich um den Tod unserer Tochter dreht, aber erzählerisch das so auszubreiten, das habe ich nicht geschafft. Das geht vielleicht auch gar nicht, weil die Gedanken und alle diese Dinge, die mich an meine Tochter erinnern, sich nicht in eine wohl organisierte Erzählung fassen lassen. Da ist die die Lyrik näher. Da schützt mich die Lyrik mehr vor der Verzweiflung als die Erzählung.“ Höllenhymnen einer zerstörten Welt Michael Köhlmeier verzichtet auf das große lyrische Besteck, auf festes Versmaß und strenges Reimschema, als wolle er seine Gedanken weder durch eine opulente noch durch eine zu strenge Ästhetik einhegen. Diese Lyrik muss, passend zum Inhalt, nahezu formlos sein. Das zentrale Stilmittel ist der fein gesetzte Zeilenumbruch. In vielen Versen geht es um eine politische Elite, die nur noch schwer zu fassen ist: „Wer kein Gesicht hat, / beansprucht Macht.“ Und um die Macht zu erhalten, werde dann die altbekannte Propaganda abgespult, etwa für den Schutz der Familie sei gesorgt. „Noch als wir uns sicher fühlten, war bereits Krieg“ heißt es im Gedicht „Gebt Obacht!“. Der „Bürger am Bahnsteig“ hält nämlich schon einen faustgroßen Stein in der Hand, und Offiziere „töten den Nachwuchs anderer“. Nahezu folgerichtig landen wir im zweiten Teil des Bandes in einer zerstörten Welt. Das titelgebende Zentralstück des Buchs ist ein düsteres Langgedicht. „Im Lande Uz – Kantate zu den wüsten Jahren“ heißen die Höllenhymnen, die an Allen Ginsbergs „Howl“ erinnern. Köhlmeiers „Im Lande Uz“ ist allerdings nicht nur ein Heulgesang mit Bezügen zur Beatliteratur, sondern eben auch die Fortschreibung einer biblischen Geschichte, die den Autor bis heute beschäftigt. „Das Buch Hiob in der Bibel beginnt mit den Sätzen: Im Lande Uz lebte ein Mann namens Hiob, und diese schmerzliche Tatsache, dass diesem Mann Hiob alles angetan wurde, was man einen Menschen nur antun kann, ihm die Kinder nehmen, ihm all seinen Besitz nehmen, ihn schlagen mit Ausschlag und mit der Verachtung seiner Freunde – und das alles nur wegen einer Wette zwischen dem Teufel und Gott. Der Teufel sagt, na ja, gut, dass der Hiob zu dir hält, das ist deswegen, weil du ihm alles hinten und vorne reingeschoben hast. Und Gott sagt, dann nimm ihm alles weg, und dann schauen wir mal, wie er dann reagiert. Das ist so schmerzlich, das hat die Menschen nie losgelassen und hat mich auch nie losgelassen, die Lektüre vom Buch Hiob.“ Was aber hat die biblische Figur uns heute noch zu sagen? Wie verhalten wir uns, wenn wieder neue Schreckensnachrichten eintreffen? Hiob blieb bis zuletzt gottesfürchtig. Köhlmeier beklagt in seiner Kantate, dass nicht wenige Zeitgenossen ihre letzten Wertmaßstäbe ins Gegenteil verkehrt haben und sich ein erlösendes Unheil herbeiwünschen. Haben nicht die Kühnsten unserer Generation sich nach der / Katastrophe gesehnt, die ihnen die Nadel in der Beuge, die / Flasche am Hals, die Selbstmordgedanken in der Freizeit, die / heimlichen Hochzeiten im späten Herbst, die Karrieren ins / Graue, die Blamagen vor den diversen Vermittlungsinstituten erspart hätte? / Und die Klügsten, haben sie nicht gehofft, ihre Genossen retten zu / dürfen am Tag der Rache? / Und was ist mit den Frommen, glaubten sie nicht, einen Unter- / gang verdient zu haben, wenigstens einen? Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Kulturpessimismus und Selbstkritik Der Niedergang im Lande Uz, das für Köhlmeier nicht nur in der Bibel existiert, sondern auch noch im Hier und Heute, betrifft alle Bereiche: „In Film und Fernsehen herrscht Schäbigkeit“, heißt es an einer medienkritischen Stelle. Der „Mangel an Schönheit“ habe alle und jeden verdorben. Der radikale Kulturpessimismus spart auch nicht mit Selbstkritik, die in Form eines Reuegebets mit repetitiver Struktur gleich einem Rosenkranz gefasst ist. Mangel an Schönheit machte mich unglücklich und böse. / Mangel an Schönheit machte mich zynisch und bleich. / Mangel an Schönheit machte, dass ich mich langweilte und zu den / Sternen aufsah, ohne zu staunen. / Mangel an Schönheit machte mich verlegen vor meinem eigenen / Leben. / Mangel an Schönheit machte mich müde und lebensmüde.  / Mangel an Schönheit machte mich neidisch und missgünstig. / Mangel an Schönheit machte mich feige. / Mangel an Schönheit verheerte die Welt, und ich frohlockte / darüber.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Im dritten und letzten Teil des Buchs gibt es eine „Landkarte eines Verbrechens“ mit biographischen Fetzen. In wenigen Zeilen werden die Lebensläufe von Menschen umrissen, die aus unterschiedlichen Gründen schuldig geworden sind. Ob nun aus einem „Mangel an Schönheit“ oder einfach nur, weil es in den gegenwärtigen Verhältnissen offenbar kaum Chancen auf einen alternativen Lebensweg gab: Alwin war / der jüngste Sohn / der letzten Familie, deren Leben / darin bestand, / vor die Hunde zu gehen. Drei / seiner Brüder / saßen / im Gefängnis, / da war er / erst dreizehn. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte „Das ist ein abwesender Roman. Wenn man sagen würde, schreib einen Roman und dann hau neunzig Prozent raus. Das sind kleine Anhaltspunkte, die dem Leser sagen: Lass deine Einbildungskraft spielen und ergänze das dazwischen.“ Ein reflektierter Wahrheitssucher Der Moralist Köhlmeier hat also doch noch nicht aufgegeben, sein Publikum zum Selberdenken zu animieren; er feiert die literarischen Zwischenräume, weil den Worten zunehmend nicht zu trauen ist. „Es wird so viel gelogen heutzutage“ lautet der letzte Satz des Gedichtbandes, der etwas zu allgemein und etwas zu pathetisch klingen könnte, wenn nicht zuvor sehr detailliert von den Unwahrheiten im „Haus des Freundes“ und den noch viel schlimmeren Lügen im „Haus des Feindes“ die Rede gewesen wäre. Michael Köhlmeier bleibt auch in seiner lyrischen Wehklage ein reflektierter Wahrheitssucher. Den „bis ans Ende wohlgebauten Sätzen“, wie es im Schlussgedicht heißt, misstraut er. Es sind daher gerade die Momente der sprachlichen Verstörung, die diesen Gedichtband stark machen.
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Jul 28, 2024 • 9min

Lawrence Ferlinghetti – Notizen aus Kreuz und Quer

Der Band „Notizen aus Kreuz und Quer. Travelogues“ versammelt Texte, die Ferlinghetti zwischen 1960 und 2010 unterwegs geschrieben hat. Eine Fundgrube für Freundinnen und Freunde der Beat-Literatur.
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Jul 24, 2024 • 4min

Alex Lissitsa – Meine wilde Nation

Alex Lissitsa, der im Jahr 1974 in einem kleinen Dorf in der Nähe der nordukrainischen Stadt Tschernihiw geboren wurde, blickt auf sein Land mit den Augen des studierten Agrarökonomen. Im Lauf seiner beruflichen Karriere stieg er zum Leiter eines riesigen ukrainischen Landwirtschaftskonzerns auf, der sein Geld mit Getreide und Milchwirtschaft verdiente. Zwangsläufig hatte Lissitsa vielfältige Verbindungen in die Politik und kann daher in seinem Buch, das von den beiden Kriegsjahren 2022 bis 2024 erzählt, mit dem Blick des Insiders berichten, der weiß, was hinter den verschlossenen Türen des Präsidialamts gesprochen wird. Lissitsa versteht genau, wie seine Landleute ticken, er kennt ihre Tugenden wie ihre Laster und nimmt sie von der Kritik nicht aus, vor allem wenn es um die grassierende Korruption im Land geht. Doch mit der gleichen Aufrichtigkeit erzählt er von der Unbeugsamkeit, mit der sich seine Mitbürger gegen die russische Aggression behaupteten.   Ich habe ernsthaft befürchtet, dass sie sofort das Handtuch werfen, die weiße Fahne herausholen und die Invasion, so sie denn kommt, gleichgültig über sich ergehen lassen werden. „Na ja, jetzt kommen eben die Russen. Das ist auch in Ordnung.“ Doch nun geschieht etwas völlig anderes. Die Leute halten zusammen. Sie lehnen sich gegen die Besatzer auf. Das erfüllt mich mit Stolz. Sie haben etwas gelernt und verhalten sich nicht mehr so, wie es die Ukrainer jahrhundertelang getan haben.  Quelle: Alex Lissitsa – Meine wilde Nation Anhaltender Widerstand gegen die Russen über Generationen hinweg Von dem anhaltenden Widerstand gegen die Russen gibt Lissitsa in seinem Buch, das der Chronologie der Ereignisse in einem losen Tagebuchstil von 2022 an folgt, eindrucksvolle Beispiele. Der Hass, den die Russen mit ihrem Angriff und ihrer brutalen Besatzung geschürt hätten, werde über Generationen wirksam bleiben. Lissitsa ist ein entschiedener Patriot, aber das heißt für ihn, auch seine eigenen Landsleute nicht von der Kritik auszunehmen. So prangert er schonungslos die Kriegsgewinnler und politischen Karrieristen an. Vor allem berichtet Lissitsa mit dem Wissen des Experten davon, wie er dem von ihm geleiteten Agrarbetrieb im Krieg zum Überleben half: Zerstörungen der Infrastruktur zwingen ihn, einen einst florierenden Milchbetrieb zu schließen, auf den Anbauflächen müssen Minen geräumt, auf einer internationalen Konferenz zum Wiederaufbau des Landes Kredite besorgt werden. Lissitsas Rückblick auf die Entstehung des Agrarkonzerns ist ein anschaulicher Beitrag zur postsowjetischen Wirtschaftsgeschichte des Landes. Ebenso anschaulich schildert er seine persönlichen Erlebnisse im Krieg – die Flucht bei Kriegsausbruch nach Westen, sein Wiedersehen mit der Familie, die Sorge um die in der Wohnung zurückgelassene Katze, die Probleme mit der eigenen Gesundheit. Dichte Beschreibung von Land und Leuten Die dichte Beschreibung der sozialen und politischen Verhältnisse in der Ukraine weckt ein tiefes Verständnis für Land und Leute, deren Charakter Lissitsa durch einen halsstarrigen Individualismus und einen Zustand der Wildheit gekennzeichnet sieht. Das Festhalten an Traditionen, auch eine gewisse Rückständigkeit aus sowjetischer Zeit verbänden sich mit neuen Erfahrungen aus 30 Jahren Kapitalismus:  Der wahre Ukrainer hat sehr wohl das neueste iPhone, aber er nutzt es als Taschenlampe, um nachts draußen den Weg über den dunklen Hof zum Plumpsklo zu finden.  Quelle: Alex Lissitsa – Meine wilde Nation Kulturhistorische Exkurse, politische Reflexionen und die mit spitzer Feder gezeichneten Portraits seiner ukrainischen Landsleute verbindet Lissita auf eine zwanglose Weise. Sein Buch über die „Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“, wie der Untertitel lautet, ist ebenso spannend wie lehrreich zu lesen. Und es ist das Plädoyer eines engagierten Patrioten, der sein Land fit machen will für die Aufnahme in die EU.
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Jul 23, 2024 • 4min

Burkhard Müller – Die Elbe

Der Rhein und die Donau sind oft besungen worden. Das haben der zum Mythos verklärte Vater Rhein und die schöne blaue Donau, die im Walzer von Johann Strauss gefeiert wird, der Elbe voraus, dem drittgrößten, aber weit weniger beachteten deutschen Strom. „Warum ist es am Rhein so schön?“, fragt das Volkslied. Warum es an der Elbe so schön ist, das fragt nun der Journalist Burkhard Müller. Seine knappe Antwort:  Weil dieser Fluss ein so weites, reiches und tiefes Land durchfließt; und weil so wenige, auch wenn sie schon mal in Hamburg eine Hafenrundfahrt gemacht oder die Dresdner Semperoper besucht haben, ihn wirklich kennen.   Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Unbekanntes und Übersehenes   Über das zweite „weil“ stutzt man zunächst. An der Elbe soll es schön sein, weil wenige den Fluss kennen? Vermutlich meint Müller damit, dass gerade in der Abgeschiedenheit vieler Elbe-Regionen deren besonderer Reiz liegt. Die unklare Formulierung ist eine Ausnahme in einem Buch, das in einer flüssigen, pointierten Sprache geschrieben ist. In seinem „Porträt eines Flusses“ holt der Autor viel Unbekanntes und Übersehenes ein. Müller hat für das Buch zehn Reisen an die Elbe unternommen. Er war mit dem Auto, zu Fuß und auf Schiffen unterwegs. Er berichtet von der Gegenwart und taucht mit langem Atem ab in die Geschichte.  Überhaupt, was für Berufsbilder es damals am Strom gab! Jedes Schiff hatte seine Mannschaft. Es gab Wassermüller, die auf Schiffsmühlen arbeiteten (diese schwammen auf dem Fluss, hoben und senkten sich mit ihm und waren daher immun gegen Hoch- und Niedrigwasser), Waschfrauen, die heftig scheuernd ihre Wäsche im Fluss reinigten, auch sie ausgerüstet mit eigenen Waschschiffen, Fischer, Gastwirte, Blumenverkäuferinnen ... Die Elbe muss damals ein anderes Bild geboten haben als heute, wo sie über die längsten Strecken so gut wie menschenleer ist (immer die Elbradler abgerechnet).  Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Die Elbe, so hält Müller fest, war einmal „die Achse Preußens“ und des Kaiserreichs. Die Bedeutung, die ihr aufgrund der Mittellage einmal zukam, entfiel jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Russen und Amerikaner trafen sich 1945 als Verbündete an der Elbe. Aber nur wenige Jahre später wurde ein Teil des Flusslaufs zur innerdeutschen Grenze und zugleich zur Grenze zweier Machtblöcke. Für den Rheinländer Adenauer begann östlich der Elbe die asiatische Steppe. Jahrzehntelang lag der Hauptteil des Flusslaufs in der DDR, die Mündung aber in der Bundesrepublik. Als wichtiger Schiffsweg fiel die Elbe deshalb größtenteils aus, und so ist es bis heute geblieben.  Abstecher ins Umland  Burkhard Müller folgt der Elbe von der Quelle im tschechischen Gebirge, die offenbar nur schwer aufzufinden ist, bis zur Mündung, wo der breite Strom hinter Hamburg beinah einem Meer gleicht. Kapitel über Dresden, Magdeburg und Hamburg dürfen in einem Buch über die Elbe kaum fehlen. Aber reizvoller ist die Begegnung mit den ländlichen, weniger bekannten Räumen. Immer wieder unternimmt der Autor auch kleinere, lohnende Abstecher ins Umland. Zum Porträt des Flusses gehört für Müller auch dessen Einzugsgebiet.  Bitterfeld verfügt heute über eine Weiße Flotte, die über die alten Kohlelöcher fährt; das tief im Binnenland gelegene Leipzig hat sich eine weitgefächerte Badezone zugelegt. So ungeheuer sind die Abmessungen dieser Umwälzung, dass noch längst nicht alles davon entwickelt worden ist. Manche der alten Tagebaue laufen erst allmählich voll und werden dafür noch Jahre brauchen.   Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Burkhard Müller ist nicht der erste Fluss-Biograf. Es gibt Biografien der Donau und des Rheins. Und auch über die Elbe wurde schon geschrieben. Es sind Reisen in den Raum und in die Zeit, zu denen all diese Autoren einladen. Einem so kenntnisreichen und eloquenten Führer wie Burkhard Müller vertraut man sich gerne an.
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Jul 22, 2024 • 4min

Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre

In den mittleren Jahren, also zwischen fünfunddreißig und fünfundsechzig, stellt sich oft ein Gefühl innerer Leere ein. Man blickt auf das bisher Erreichte zurück und fragt sich, ob das nun alles gewesen sein soll oder ob da noch etwas ganz Neues kommen kann. Die Philosophin Barbara Bleisch, Jahrgang 1973, lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Lebensmitte für eine Zeit großer Fülle hält.   Die mittleren Jahre können sich als eine Zeit erweisen, in der wir hoffentlich von unserer Lebenserfahrung profitieren und gefestigt im Leben stehen, zugleich aber den jugendlichen Übermut abgelegt haben, weil wir bereits erfahren konnten, dass sich Langmut, Sorgfalt und Geduld auszahlen. Sie werden damit – aristotelisch verstanden – zu ‚Jahren des Mittleren‘, in denen wir zu den besten Versionen unserer selbst heranzuwachsen vermögen. Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre Die Landschaft der eigenen Möglichkeiten  Die mittleren Jahre sind eine Art terra incognita. Die früheren Entscheidungen sind oft nicht mehr stimmig, aber neue Wege sind noch nicht in Sicht. Eine gute Ausgangssituation für eine philosophische Untersuchung, findet Barbara Bleisch und zitiert Ludwig Wittgenstein, der die Einsicht, sich nicht auszukennen, als Grundform jedes philosophischen Problems ansah. Barbara Bleisch erteilt keine wohlfeilen Ratschläge. Sie hat vielmehr eine, wie sie es nennt, „Landkarte für die Wanderung durch die Landschaft der eigenen Möglichkeiten“ geschrieben. Mit Barbara Bleisch auf diese Wanderung zu gehen, ist faszinierend und erhellend. Während wir in der Jugend lernen mussten, uns gegen Autoritäten abzugrenzen und eine eigene Stimme zu finden, müssen wir uns in der Lebensmitte aufrichtig mit uns selbst befassen ...  …indem wir uns die Freiheit nehmen – aber auch immer von Neuem den Mut aufbringen -, uns dem zuzuwenden, was uns überzeugt, begeistert und erfüllt. Dabei ist dieser Prozess stets ein suchender, schrittweiser, ein Vor und Zurück, nicht zuletzt auch weil das, was wir erfahren, uns seinerseits wieder prägt und formt und wiederum anders und neu wählen lässt.  Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre Endlichkeit bedeutet Bedrohung, aber auch Intensivierung  Im Sinne Sokrates’ dreht und wendet Barbara Bleisch jedes Argument und fragt, ob nicht auch das Gegenteil zutreffen könnte. Unsere Endlichkeit zum Beispiel bedeutet sowohl Bedrohung, lässt sich aber auch als Intensivierung erleben: In der uns noch verbleibenden Zeit müssen wir unsere Entscheidungen bewusster treffen, lernen aber das, was wir erleben, mehr zu schätzen. Für Heidegger war das Nachdenken über den eigenen Tod sogar eine „Bedingung des gelingenden Lebens“.  Die mittleren Jahre sind allerdings auch anfällig für Krisen, denn die vorläufige Bilanz des gelebten Lebens enthält Erfolge und Höhepunkte ebenso wie enttäuschte Hoffnungen. Barbara Bleisch empfiehlt, Umwege und Abwege nicht zu bereuen, denn oft fehlten uns zum Zeitpunkt der Entscheidung wichtige Informationen oder der eingeschlagene Weg hat uns so verändert, dass wir die Entscheidung heute anders bewerten. Gerade die Umwege, schreibt Bleisch, gehören zu unserem wichtigsten Erfahrungsschatz. Ein inspirierender Wanderführer  Dieses Buch bietet eine Fülle an Fragen und Einsichten und ist ein inspirierender Wanderführer durch eine Lebenszeit, die voller Stolpersteine ist. Welches Fazit zieht Barbara Bleisch aus dieser Lebenszeit, in der sie sich selbst befindet?   Lieber überschäumend vor Träumen und Sehnsüchten sein und einsehen müssen, dass nicht alles gelebt werden kann, was einen reizt, als ein langweiliges Schalentier oder eine deprimierte Person, die gar keine Sehnsucht kennen. Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre
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Jul 21, 2024 • 1min

Sommer-Lesetipp: Martin Mosebach – Der Mond und das Mädchen

Das Buch erschien 2007, als Martin Mosebach den Büchner-Preis bekam und wurde damals für den ersten Deutschen Buchpreis nominiert. Mehr wettergeprägte Bücher
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Jul 21, 2024 • 6min

Jessica Lind – Kleine Monster | Buchkritik

Man darf sich Pia, Jakob und ihren kleinen Sohn Luca eigentlich als eine glückliche Familie vorstellen. Bis zu jenem Tag, an dem Lucas Grundschullehrerin die Eltern zu einer Unterredung in die Schule bittet. Etwas ist passiert. Ein Zwischenfall mit einer Mitschülerin, als Luca mit ihr allein im Klassenzimmer war. Mädchen, so sagt die Lehrerin, denken sich so etwas nicht aus. Der Vorfall, dessen Details Jessica Lind ganz bewusst im Vagen lässt, hat Folgen. Zunächst einmal werden Jakob und Pia stillschweigend aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe der Klasse entfernt. Dort, so wissen sie, wird nun über ihren Sohn geredet, ohne dass sie ihn verteidigen können. Was hat der eigene Sohn getan? Vor allem aber in Pia, der Ich-Erzählerin von „Kleine Monster“, nisten sich Zweifel gegenüber ihrem Sohn ein. Verschweigt Luca den Eltern etwas? Sind Kinder so unschuldig, wie die Eltern stets glauben? Oder stecken in ihnen tatsächlich, wie der Romantitel suggeriert, manipulative „Kleine Monster“? Jessica Lind beschreibt den Wandel, der in ihrer Ich-Erzählerin schleichend vonstatten geht, folgendermaßen: Jessica Lind erzählt: „Zu Beginn ist Pia eine ganz normale Mutter, die ihren Sohn Luca über alles liebt, doch durch diesen Vorfall in der Schule beginnt sie ihn mit anderen Augen zu sehen und fragt sich, ob er irgend etwas vor ihr verbirgt. Gleichzeitig erinnert sie sein Verhalten an ihre eigene Kindheit und das Aufwachsen mit ihren Schwestern. Sie sieht vor allem ihre Adoptivschwester Romi in ihm, und um Romi war immer ein Geheimnis. Ihre Schwester hatte sie irgendwie nie ganz verstanden, das ist aber keine Frage der Liebe an sich. Pia fühlt sich für Luca verantwortlich und deswegen sieht sie es als ihre Aufgabe, hinter sein Geheimnis zu kommen.“ „Kleine Monster“ ist ein raffiniert gebauter, doppelbödiger Roman. Denkt man zunächst, dass Jessica Lind wieder einmal den Versuch unternehmen könnte, das Zeitgeistthema „Regretting Motherhood“ einem Roman überzustülpen, zeigt sich bald, dass es Lind um etwas Anderes geht. Der zweite Handlungsstrang des Romans erzählt von Pias Aufwachsen und von ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern. Pia war die älteste von drei Schwestern. Romi, die mittlere Schwester, kam als Adoptivkind in die Familie und versuchte seit der frühen Kindheit ihren eigenen Weg zu gehen. Linda, die jüngste Schwester, der Pias Sohn Luca verblüffend ähnlich sieht, ist im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe ihres Elternhauses ertrunken. Pia lag zu diesem Zeitpunkt krank im Bett; Romi hat, so wird es erzählt, noch versucht, die Schwester zu retten. Tragischer Unfall ist das Herz des Romans Dieser tragische Unfall ist das heimliche, traumatische Zentrum des Romans. Er bestimmt Pias Blick auf Erziehung, Partnerschaft und ein Familiengefüge, das nach dem Tod der Schwester zu implodieren drohte. Die Eltern wurden hart, peinigten die Kinder, vor allem Romi, so lange mit Strafen, ellenlangen Verbotslisten und Züchtigungen, bis diese sich lossagte und das Haus verließ. Jessica Lind hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert. Und auch wenn sie hin und wieder etwas überexplizit wird und die Handlungsmotive ihrer Figuren eine Spur zu deutlich kommentiert, hat Lind andererseits ein gutes Gespür für den Aufbau von Szenen und auch für Dialoge. Sei es in Pias Kommunikation mit ihrer Mutter, sei es in der Auslotung ihrer Beziehung zu Jakob oder auch im Umgang mit ihrem Sohn Luca – Lind inszeniert die Institution Familie als eine permanente Konkurrenzsituation. Um ein Buhlen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und Status. Zugleich aber bewertet Pia ihre Erinnerung an ihre Kindheit noch einmal neu, wie Jessica Lind erklärt: „Ich glaube, Pia ist am Anfang gar nicht bewusst, wie sehr sie das Trauma ihrer Kindheit begleitet und wie sehr es auch ihr Verhalten prägt. Dieser Prozess, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigt, sich ihre eigene Kindheit noch einmal anschaut und beginnt, Sachen neu zu bewerten – das passiert erst im Laufe des Romans und ist auch das Zentrum der Geschichte. Ich glaube, dass wir in unserem Dreißigern, egal ob wir Kinder haben oder nicht, plötzlich mit anderen Augen auf unsere Kindheit blicken und vielleicht draufkommen, dass manches, was wir sicher geglaubt haben, doch zumindest mit einem anderen Beigeschmack, mit einer anderen Note auch noch betrachtet werden kann.“ Ein Text voller Falltüren Auch diese Einsicht hebt „Kleine Monster“ über eine rein privatistische Geschichte heraus ins Allgemeingültige. Der Roman wirft auch die Frage auf, inwieweit Generationen untereinander fair und gerecht übereinander urteilen. Das Geschehen bekommen wir ausschließlich durch den Filter von Pias Weltsicht präsentiert. Eine Weltsicht, in der durchaus auch finstere, zerstörerische Tendenzen Platz haben. Vor dem Spiegel übt Pia das Lächeln, denn wenn sie lächele, so sagt sie es, sehe man ihr ihre Gedanken nicht an. Auf engem Raum von rund 250 Seiten ist „Kleine Monster“ ein an der Oberfläche eher distanziert-kühler Text, in dem sich immer wieder Falltüren öffnen. Das weiß auch die Autorin: „Generell ging es mir bei „Kleine Monster“ darum, dass große Gefühle in Familien eben sehr nah beieinander liegen können. Liebe und Hass, Nähe und Distanz sind nur zwei Beispiele, und sich das anzuschauen in diesem Schmelztiegel Familie, wo das Ganze auch hochkochen kann, das interessiert mich sehr und deswegen mache ich das auch gerne zum Schauplatz meiner Geschichten.“ Einer Geschichte, die im Fall von „Kleine Monster“ auf hintergründige Weise zu überzeugen vermag.
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Jul 21, 2024 • 7min

Joann Sfar – Der Götzendiener | Buchkritik

Natürlich hat der Comic-Autor Joann Sfar mehrere Götter. Einer von ihnen ist Serge Gainsbourg. Am 2. März 1991 erfuhr ich in einer Seilbahn vom Tod Serge Gainsbourgs. Ich bin in dem Wintersportort, in dem meine Mutter siebzehn Jahre zuvor gestorben ist. Ich nehme Gainsbourgs Tod zu ernst. Irgendwas läuft hier schief. Ich wusste kaum etwas vom Tod meiner Mutter, also weine ich um Serge Gainsbourg. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Comic über die Leere nach dem Tod der Mutter Über Serge Gainsbourg hat Joann Sfar 2010 einen Spielfilm gedreht. Doch die Trauer um das tote Idol steht hier für eine andere Trauer: Joann Sfars Mutter ist gestorben als er drei Jahre alt war. Jahrelang verschwieg ihm sein Vater, ein angesehener Rechtsanwalt in Nizza, ihren Tod. Die Mama sei verreist. In seinem neuesten autobiografischen Band „Der Götzendiener“ setzt sich der Comic-Zeichner Joann Sfar mit der Leere auseinander, die der Tod seiner Mutter hinterlassen hat. Ein Elefant im Raum. Ich kann ohne Ende essen. Ich fühle mich nie voll. Manchmal tusche ich sogar schwarze Flächen mit einer Schreibfeder. Das ist sehr befriedigend. Aber es hört nie auf. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Gespräche prägen diesen Band, Gespräche von Joann Sfar mit seinem Psychotherapeuten und einem Rabbi in Nizza. Aber Theologie und Psychoanalyse bilden nur einen Rahmen. Wirklich persönlich ist dieser Comic, weil Joann Sfar sich auf die Suche macht, nach den Ursprüngen seiner Kunst. Warum ist er Zeichner geworden? Mit dem Zeichnen und Malen haben jedenfalls die wenigen Erinnerungen an seine Mutter zu tun. Suche nach den Ursprüngen seiner Kunst Zum Beispiel Asterix: Meine Mutter lebt da noch. Ich male mit dem Kugelschreiber in ihren Asterix-Erstausgaben herum. Nicht, um sie zu beschädigen. Sondern, weil ich betört bin von Uderzos Zeichnungen und davon träume, das auch zu können. Oder besser, mich auf die eine oder andere Weise an seinen Zeichnungen zu beteiligen. Aber diesmal bekomme ich wenige Komplimente. Und auch nicht, als Mama geweint hat, weil ich die weißen Tiere auf einer Kinderdecke ausgemalt hatte. Ich sehe meine Mutter mit hochgekrempelten Jeans im Bad, wie sie weinend die Decke reinigt. Ich weiß, dass es meine Schuld ist, und es macht mich noch heute traurig. Denn es ist eine der lebendigsten Erinnerungen an sie. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Wenn sein Therapeut ihn auf das Fehlen der Mutter anspricht, antwortet Sfar, dass er lieber ein Buch darüber zeichnen würde. Das Zeichnen, das Leben in Bildern, das Leben als Bildermacher: Wenn es die Leere füllt, wird es dann zum Lebensersatz, eine Flucht vor dem Leben? Wenn du ein Bild mehr liebst als die Wirklichkeit, bist du verloren. Hier ein konkretes Beispiel: Ich bin bei einer Brünetten und verschüchtert. Sie will unbedingt, dass ich mit ihr schlafe. Wir haben uns gerade kennengelernt. Ich fühle mich unwohl. Sie anzusehen, würde mir reichen. Sie macht alles viel schneller als ich. Sie ist vor mir nackt. Das stresst mich. Ich ziehe mich mental zurück. Ich fange an, sie in meinem Kopf zu zeichnen. Wussten Sie das? Dass ein Zeichner sogar ohne Stift in der Hand zeichnet? Wenn ich zeichne, krieg ich keinen hoch. Mit einer Autorität wie der von Francois Mitterand oder meiner Großmutter väterlicherseits, erklärt sie: Und doch wird es passieren müssen! Schließe die Augen! Und sobald ich die Augen schließe, krieg ich einen hoch. Verstehen Sie? Zeichnen und Leben, beides gleichzeitig ist nicht so einfach. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Der Comiczeichner – ein Götzendiener? Eine typische Joann Sfar Szene. Auch, was den Humor betrifft. Denn unten auf der Seite mit der Sex-Szene, die von der Kunst handelt, die dem Leben in die Quere kommt, zeichnet Sfar eine Katze, die einen Vogel gefräßig anschaut und ihm zuraunt: Schließ die Augen! Und vom kleinen Witz springt Joann Sfar dann unvermittelt zum nächsten großen Thema: Neben der Trauer und dem schwierigen Verhältnis von Kunst und Leben befragt Sfar auch seine jüdische Identität. „Götzenanbetung ist, wenn man sich lieber einem Bild anvertraut als der Welt.“ Sagt der befreundete Rabbi zu dem jungen Comiczeichner. Das zweite Gebot Moses, das Bilderverbot: vielleicht folgt es auch der lebensklugen Einsicht, dass ein Glaube, der sich perfekte Bilder macht und in der bildlichen Perfektion erstarrt, das Leben mit erstarren lässt. Bin ich als Comiczeichner dann ein Götzendiener, der „sich in eine Welt flüchtet, die nicht diese Welt ist“? Fragt sich der junge Joann Sfar. Und die existentialistische Frage zieht sich durch den Band. Joann Sfar hat Philosophie studiert. Aber so grundsätzlich er die Fragen von Tod und Leben und Kunst stellt, so spielerisch sind seine Antworten. Denn alle Antworten liegen in den Zeichnungen selbst. Sfar ist für seinen ungenau-krakeligen, expressiven Stil berühmt. Die Rahmen der Panelbilder sind nicht präzise geometrisch gezogen, sondern mit freier Hand und erinnern an die Form von Sprechblasen. Das heißt, jedes Bild ist gewissermaßen eine große Sprechblase. Deutlicher geht es kaum, wenn man als Comicautor vor allem seine Zeichnungen sprechen lassen will. Zeichnen ist Leben Mitten im neuen Band stellt Joann Sfar die Frage, ob das Zeichnen selbst seine Religion ist. Und die Antwort enthält den ganzen Joann Sfar. Denn er erzählt mit wilden Strichen, wie im Mittelalter ein paar anarchistische Mönche, den altfranzösischen Fuchsroman, den „Roman de Renart“, mit seinen humoristischen Parabeln verfassen. Das ist so kindlich wie ironisch, so abenteuerlustig wie fantasievoll. Man versteht sofort, warum die klassischen Superhelden und B-Movie-Monster für Sfar so wichtig sind, wie seine philosophischen Studien. „Schreiben wir, was wir sehen. Also Quatsch!“ ist das Motto der mittelalterlichen Klosterschreiber. Und ganz in diesem Sinne antwortet Joann Sfar auf die Frage, ob es schlimm sei, sich in eine Welt zu flüchten, die nicht diese Welt ist: Nein! Ich liebe es! Man muss in der Küche arbeiten, oder im Wohnzimmer, inmitten seiner Liebsten. Man braucht Cafés, Bänke, den Wind und dass man unentwegt gestört wird. Das Zeichnen wird nicht abhandenkommen. Zu versuchen, weniger zu zeichnen, wenn man es so sehr liebt, ist morbid. Wenn Du das Gefühl hast, bei deinen Toten zu sein, wenn du schreibst, brich alles ab. Zeichnen, das ist das Leben! Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener
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Jul 21, 2024 • 2min

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