

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Oct 15, 2024 • 4min
Curzio Malaparte – Die Haut
Neapel ist die erste große europäische Stadt, die vom Faschismus befreit wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein. Und bringen die „Pest“. Es ist eine Krankheit, die nicht den Körper, sondern die Seele zersetzt.
Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen „ruhmreich verloren“, wie es höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Neapel verwandelt sich in ein modernes Sodom und Gomorrha.
Jede Frau scheint sich für eine Schachtel Zigaretten zu prostituieren, Väter bieten ihre Töchter für eine Dose corned beef den stämmigen Schwarzen Soldaten feil, die in der vorzüglichen Neuübersetzung von Frank Heibert nun nicht mehr mit dem N-Wort benannt werden. Aber ungeachtet der sprachlichen Korrektur: Es sind grelle, abgeschmackte, aber auch literarisch packende Szenen.
Diese ekelhafte Haut
Der Titel „Die Haut“ steht für die schlichte Tatsache, dass Menschen in Kriegszeiten vor allem eins zu retten versuchen:
‚Heute leidet und foltert man, mordet und stirbt, aber nicht mehr, um die eigene Seele zu retten, sondern nur, um die eigene Haut zu retten. (…) Diese ekelhafte Haut, seht Ihr?‘ Während ich dies sagte, kniff ich mit zwei Fingern die Haut auf dem Handrücken zusammen und zog sie hin und her.
Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut
Irritierend und faszinierend ist der Aggregatzustand des Romans zwischen festen Tatsachen, flüssiger Kriegs-Kolportage und gasförmiger Phantastik. Soll man es denn glauben, dass noch während der Kämpfe die „sehnsüchtigen Scharen“ der Homosexuellen ganz Europas ihren Weg durch die deutschen Linien finden, um in Neapel mit den amerikanischen Soldaten Party zu machen?
Unter dem Vulkan
Soll man es glauben, dass zu allem Übel der Vesuv ausbricht, auch wenn das Inferno so anschaulich beschrieben wird, als wäre Malaparte einst schon in Pompeji dabei gewesen? Man muss wohl, denn im Frühjahr 1944 fand tatsächlich der letzte Ausbruch des Vulkans statt, bei dem achtzig Bomber der US-Air Force zerstört wurden. Und so stellt man es erst gar nicht in Frage, wenn Malaparte den banausischen O-Ton eines amerikanischen Generals wiedergibt, der beim Einmarsch in Rom erstmals das Kolosseum zu Gesicht bekommt:
‚What’s that?‘ schrie General Cork. ‚Das Kolosseum!‘, erwiderte ich. General Cork stand in seinem Jeep auf uns musterte das gigantische Skelett des Kolosseums lange, schweigend. Dann schrie er zu mir, einen Hauch Stolz in der Stimme: ‚Unsere Bomber haben gut gearbeitet, Malaparte!‘
Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut
Der „Clash“ der Zivilisationen wird als große Komödie inszeniert. Neapel, die „geheimnisvollste Stadt Europas“, ist für Malaparte, den mit allen Sümpfen vertrauten Moralisten, jedoch nicht zu begreifen mit hygienischer amerikanischer Vernunft.
Poetik der Verunsicherung
Der Erzähler setzt das europäische Grauen in Szene, etwa in den Beschreibungen erhängter Juden in der Ukraine, gespenstisch wispernd im „schwarzen Wind“, oder bei der Schilderung der Höllenqualen der phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Für Malapartes dunkle Komik steht dagegen das Kapitel über ein Abendessen bei General Cork, wo die Gäste durch die aufgetischte Speise stark verunsichert werden:
Zum ersten Mal sah ich ein gekochtes, ein gesottenes Mädchen: und ich schwieg, von heiliger Ehrfurcht ergriffen. Alle um den Tisch waren bleich vor Entsetzen.
Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut
„In Wahrheit“ handele es sich um einen seltenen, im Aquarium von Neapel gefangenen Sirenenfisch. Die Poetik der Verunsicherung hat Malaparte in dieser genialen Szene allegorisch verdichtet: Ist es ein Fisch? Ist es ein Mädchen? „Die Haut“ wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute liest man das fesselnde Buch als düstere Zeitdiagnose und Meisterwerk wahrhaftiger Übertreibungskunst.

Oct 14, 2024 • 4min
Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens
Seit fast drei Jahren schienen die Europäer von allen guten Geistern verlassen: Zu Millionen brachten sie sich gegenseitig um, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Da trat der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ans Rednerpult des Reichstages und warb für den Frieden.
Ich halte es für die Pflicht aller klar und ruhig Denkenden in allen Ländern, dieses Spiel, das da mit Völkerleben gespielt wird, aufzudecken! Den Regierungen aller Länder zuzurufen: Es ist genug!
Quelle: Philipp Scheidemann
Der Frieden spricht selbst
Philipp Scheidemann brachte auf den Punkt, was Erasmus von Rotterdam genau 400 Jahre zuvor geschrieben hatte: in seiner Klage des Friedens. Auf gut 70 Seiten lässt Erasmus den Frieden selbst sprechen, in der ersten Person Singular.
Der Friede argumentiert auf drei Ebenen: Aus Sicht eines kühl berechnenden Menschen sei es unsinnig, Krieg zu führen - denn ein Krieg koste auch den Sieger nur Geld. Aus ethischer Sicht erklärt Erasmus den Krieg für verwerflich – denn nicht einmal Tiere ein und derselben Art brächten sich gegenseitig um. Vor allem aber argumentiert Erasmus auf Basis des Neuen Testaments mit seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Wenn jemand Krieg führe - was habe er dann noch beim Abendmahl zu suchen?
Darf jemand wagen, zu jenem heiligen Tisch heranzutreten, zum Mahle des Friedens, der einen Krieg gegen Christen plant und sich anschickt, die zu vernichten, für deren Rettung Christus gestorben ist?
Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens
Aggressoren rechtzeitig vorbeugen
Ausgewichen ist Erasmus freilich der Frage, warum denn christliche Länder Krieg etwa gegen muslimische führten. Kein Wort dazu – nicht einmal der Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu selbst gegenüber den Menschen, die ihn seinerzeit schroff ablehnten. Wie sich ein Land verhalten solle, das von einem anderen angegriffen wird – dazu bleibt Erasmus schmallippig: er wünscht sich, der Aggressor möge in die Schranken gewiesen werden. Noch besser aber, wenn man frühzeitig vorbeugt:
Die höchste Ehre erweise man denen, die einen Krieg verhindert und die Eintracht wiederhergestellt haben – schließlich auch dem, der alle Hebel in Bewegung setzt nicht dafür, daß er eine riesige Streitmacht auf die Beine stellt, sondern dafür, daß er ihrer gar nicht bedarf.
Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens
Krieg sei also zu verhindern, konstatiert Erasmus, indem man zwei, drei Schritte vorausdenke: Wo könnte sich künftig Konfliktpotential zusammenbrauen – und wie macht man diesen Zündstoff möglichst schnell unschädlich?
Auf Gegenwart übertragbar
Auf heutige Denkansätze der internationalen Politik übertragen, redet der ziemlich pragmatische Erasmus gerade nicht einem blinden Idealismus das Wort – der würde im Interesse seiner hehren Grundsätze mit dem Kopf durch die Wand wollen. An solche Staatslenker, die sich partout im Recht glauben, wendet sich Erasmus unmittelbar:
Meinst du vielleicht, es falle dir ein Zacken aus deiner Krone, wenn du eine Rechtsverletzung nachsiehst? Nein, im Gegenteil, es gibt keinen zwingenderen Beweis für eine niedere und ganz und gar unkönigliche Gesinnung, als Rache zu üben. Wenn nun der Frieden irgendeinen in deinen Augen ungerechten Punkt zu enthalten scheint, so denke ja nicht gleich: Das und das verliere ich, sondern: Um diesen Preis erkaufe ich den Frieden.
Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens
Erasmus' Ansatz lässt sich also bis in die Gegenwart weiterspinnen: hin zum Neorealismus - einer Denkrichtung, die unter dem Eindruck der beiden Weltkriege entstand. Neorealismus kalkuliert ein, dass Staaten nun einmal gegensätzliche Interessen haben. Er versucht, sie auszubalancieren, bevor es zu spät ist. Wohl der beste Weg, um die unübersichtliche Welt von heute zu befrieden. Und da erscheint die Klage des Friedens des Erasmus von Rotterdam in dieser modern übersetzten Neuedition vielleicht genau zur richtigen Zeit.

Oct 13, 2024 • 5min
Richard Powers – Das große Spiel
Wird die kleine Insel noch einmal zum Spielfeld internationaler Investoren? Vor dieser Frage stehen die 80 Bewohner von Makatea, mitten im Pazifischen Ozean. Bis in die 1960er-Jahre wurde dort rücksichtslos Phosphat abgebaut. Nun könnte eine Basis für ein gigantisches Wohnprojekt auf dem Meer entstehen: Es kann der Insel einerseits Wohlstand bringen, sie gleichzeitig aber tiefgreifend verändern. Die Bewohner sollen über das sogenannte „Seasteading“, den Bau von schwimmenden Wohn- und Lebensstätten auf dem Meer, abstimmen.
Fragen für den gesamten Globus
Das ist die Rahmenhandlung von Richard Powers‘ Roman „Das große Spiel“.
What do you choose? … Of course, Makatea’s political crisis is our political crisis. It is the question of the entire globe.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Wofür entscheidest du dich? Für ein Krankenhaus und eine Schule? Für ein komfortableres Leben? Oder möchtest du, dass die Insel sich weiterhin erholt von den Folgen des früheren Rohstoffabbaus? Das ist die politische Herausforderung. Makateas politische Krise ist unsere Krise. Es die Frage für den gesamten Globus.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Das Monster Kapitalismus zeigt sich in Richard Powers Roman in verschiedener Gestalt: In den „Seasteading“-Plänen, in den verlassenen Minen auf der Insel, im Plastik-Müll, der an den Stränden von Makatea liegt. Und ebenso in der Welt, aus der Todd Keane, eine der Hauptfiguren, stammt. Er ist ein Pionier der Computer-Technologie und mit der Entwicklung von Software stinkreich geworden. An einer unheilbaren Krankheit leidend diktiert er einer KI die Lebensgeschichte – eine Erzählebene im Roman.
Faszination fürs Programmieren
Richard Powers sagt, Todd Keane sei in vieler Hinsicht ein Alter Ego. Wie er stammt auch diese Figur aus der North Side von Chicago.
His family is much wealthier than my family… We see it as something holy new meaning of the world.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Seine Familie ist viel wohlhabender als meine. Wir waren eher Eindringlinge in der North Side. Ich habe mich immer wie ein Spion gefühlt. Wir beide teilen aber auch den frühen Traum, dass wir die Welt unter Wasser erforschen können. Und es gibt eine Verbindung, die mit dem Beginn der digitalen Revolution zusammenhängt. Wie ich war Keane total fasziniert vom Programmieren. Für uns war das eine komplett neue Bedeutung der Welt.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Später studiert Todd Keane – wie Richard Powers – an der University of Illinois, in Downstate. Ebenso Rafi Young, die zweite Hauptfigur. Er ist Schwarz und stammt aus dem Süden Chicagos, aus einer prekären Welt. Als kleiner Junge wird er von seinem Vater zum Lesen gedrillt, daraus erwächst aber eine große Liebe zur Literatur.
Rafi besucht, keineswegs selbstverständlich für ein Kind seiner Herkunft, eine private katholische Schule und lernt dort Todd kennen. Sie werden Freunde und fanatische Schach- und Go-Spieler. „Das große Spiel“ erzählt auch von der Faszination des Spielens.
In some ways their intellects are very different… the embrace of an irrational and unconscious that Rafi becomes dedicated to.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Vom Intellekt her unterscheiden sie sich in einigen Punkten. Todd tendiert zum Technologischen, er profiliert sich in der Informatik. Rafi ist zuallererst ein Humanist. Es ist auch ein Wettstreit zwischen zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt. Hier die technologische und rationale Ordnung. Und dort die Welt der Gefühle, der Selbstbeobachtung, der Kunst. Rafi widmet sich dem Irrationalen und Unbewussten.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Die Freundschaft zwischen Rafi und Todd zerbricht eines Tages, das Spiel der beiden gegeneinander geht derweil weiter und führt zu den „Seasteading“-Plänen.
Pionierin der Ozeanologie
Zwei weitere Figuren – und ihre Lebensgeschichten – sind mit diesem Duo verbunden: Ina Aroita, Bildhauerin, Rafis Frau, sie und ihre Kinder leben auf Makatea. Und Evelyne Beaulieu, seit der Kindheit begeisterte Taucherin. Sie zählt zu den Pionierinnen der Ozeanologie und war an den berühmten Tektite-Forschungsmissionen 1969 und 1970 beteiligt.
We, humans, live in just the tiniest fraction of the biosphere… If we really want to understand what life on earth is like, we have to say: it is an ocean planet.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Wir Menschen leben im kleinsten Teil der Biosphäre. Die Geschichte, deren Teil wir sind, seit unvorstellbar langer Zeit, ist zum größten Teil eine Geschichte der Ozeane. Wenn wir wirklich verstehen wollen, was das Leben auf der Erde bedeutet, müssen wir sagen: Es ist ein Ozean-Planet.
Quelle: Richard Powers im Gespräch
Evelyne Beaulieu, 92 Jahre alt, lebt auf Makatea. Auch sie soll abstimmen über die Zukunft der Insel. Mit ihrer Geschichte, inspiriert durch die Biographie der amerikanischen Ozeanographin Sylvia Earle, führt Richard Powers seine Leserinnen und Leser hinab in die Tiefe des Meeres, ins Herz der großen Ozeanmaschine, auf die Hauptbühne des Lebens, wie es heißt in „Das große Spiel“.
Ein vielschichtiger Roman, der daran erinnert, wie beeindruckend dieses Reich unter Wasser ist. Und ebenso daran, dass wir uns sorgen müssen um die Zukunft dieses übergroßen Teils der Erde.

Oct 13, 2024 • 4min
Sibylle Berg – Try Praying. Gedichte gegen den Weltuntergang | Buchkritik
Ja – try praying – versuch doch, zu beten, spottet Sibylle Berg. Es ist sozusagen das Letzte, was wir noch tun können im Endzeitmodus, den sie seit Jahren schon in ihren Werken nachzeichnet: Klimakatastrophe, Terror, Wirtschaftskrise, digitale Überwachung. Ihre Gebete dieses Mal: Gedichte.
Ein freier Tag, ein leerer Tag, die Straßen, die Häuser tot, das Leben klein, das Licht zu hell, die Angst so groß, allein, allein in der Stadt an einem Tag wie feuchte Watte
Quelle: Sibylle Berg – Try Praying
Wir kennen das: Bei Frau Berg wird gegähnt, geschuftet, gehasst, gestorben, getötet – in den dunkelsten Farben, die die Sprache in petto hat.
Für ihren fiesen Ton kann man sie lieben
Mit ihren Figuren hat sie kein Erbarmen. Das ist auch in ihrer Lyrik nicht anders. Da überfährt die Tram die trauernde Witwe, der Freund wird im Schrank gefesselt
nicht dass er von dem Glück wegrennt
Quelle: Sibylle Berg – Try Praying
oder eine frustrierte Person gibt sich Gewaltfantasien hin:
Ich säble euch die Knie ab. Ich steppe froh auf eurem Darm. Ich press euch das Gesicht ins Grab. Weil ich dann gute Laune hab.
Quelle: Sibylle Berg – Try Praying
Für ihren fiesen Ton kann man Sibylle Berg lieben. Der hat etwas Schroffes, Echtes, auch erschreckend Welterkennendes. Die erzählerische Wucht, die ihr auf Romanlänge gelingt, funktioniert in ihrer Lyrik allerdings mäßig. Hier fehlt ihr offenbar der Raum, entscheidenden Kontext oder Atmosphäre mitzuliefern, was uns beim Lesen helfen könnte, ihr zu folgen. Vielleicht ist auch das formale Korsett schlichtweg zu eng für sie. Das liest sich wie eine ereignislose Fahrt im Pointen-Karussell. Nur manchmal springt ein Funke über. Etwa beim „Trennungsgedicht“:
Der Durst ist nicht mit Tee zu stillen, wir sitzen fern – dazwischen leer. Da könnte man nicht drüber schwimmen, wir sind uns keine Insel mehr
Quelle: Sibylle Berg – Try Praying
Im Kreis der liebenswerten Looser
Es sind gescheiterte, durchweg einsame Gestalten, die diese Gedichte bewohnen. Vom abgestumpften Pflegepersonal, über ausgebrannte Mitarbeiter digitaler Großkonzerne, bis hin zum vergessenen Angelshop-Verkäufer. Einmal bringt Berg es einfach, aber treffend auf den Punkt: „Menschen mit dem Menschenmist“.
Und das könnte eine wunderbare Erkenntnis aus dieser Lektüre sein – im Prinzip ohnehin der Schlüssel zum Werk Sibylle Bergs: Wir alle fühlen uns mitgemeint in diesem Kreis der liebenswerten Loser. Doch die Gedichte lassen einen bedauerlicherweise eher kalt. Und so wirkt der letzte Eintrag, der Hidden Track, dann auch eher wie eine Selbstoffenbarung mit Mittelfinger:
Muss Sieger sein, mit aller Macht – nicht angerührt, nicht ausgelacht, auch nicht bedrängt und kleingemacht. Ich werde meinen Körper stählen, fickt euch ins Knie und gute Nacht!
Quelle: Sibylle Berg – Try Praying
Sprachlich überzeugt nur ein Teil der Gedichte
Die Ausbeute ist mau: Unter den 40 Gedichten sind höchstens eine Hand voll wirklich gelungen. Mitunter sind die Beiträge sprachlich so gar nicht auf Bergs eigentlichem Niveau: ungelenke Sätze, schiefe Reime, eintöniges Vokabular. Fast könnte man meinen, sie will die Gattung Lyrik als solche ironisieren. Schade eigentlich.

Oct 10, 2024 • 4min
Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Schon das Eröffnungsbild von Markus Thielemanns Roman hat etwas Verwunschenes, beinahe Biblisches:
Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte.
Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Der Mann, hinter dem sich eine große Schafherde versammelt hat, ist in Wahrheit gerade einmal 19 Jahre alt. Jannes heißt er. Kurz darauf rollt tatsächlich von Norden her der Donner über die Landschaft. Doch weder der Hirte noch seine Herde reagieren nervös auf das bedrohliche Geräusch, weil sie es kennen: Es ist das Explodieren der Panzermunition, die auf dem nahe gelegenen Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, seit vielen Jahrzehnten bereits.
Idylle mit Rissen
Dieser Auftakt steht sinnbildlich für den gesamten Roman, in dem alles mindestens doppelt codiert ist und in dem der donnernde Wagner‘sche Götterzorn, die Ästhetik von schauerromantischen Caspar David Friedrich-Szenen und nächtens durch die Landschaft geisternde Frauengestalten bis zur Unkenntlichkeit mit der Gegenwart verschmelzen. Das macht den Reiz von Markus Thielemanns Roman aus – dass er Mythos und Realität nicht als Gegensatzpaar darstellt, sondern das eine als folgerichtige Konsequenz des anderen atmosphärisch stimmig inszeniert.
Jannes lebt auf einem Drei-Generationen-Hof in der Lüneburger Heide. Dem Großvater Wilhelm gehört das Land; die Großmutter ist dement und im Heim; auch Jannes‘ Vater Friedrich zeigt erste Ausfallerscheinungen. Der traditionelle Familienverbund zeigt Risse, wie auch die vermeintliche Landschaftsidylle. Thielemann hat seinen Roman geografisch exakt lokalisiert: Der Hof der Familie liegt zwischen Unterlüß und Faßberg. Faßberg ist eine NS-Siedlung. Das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen ist 25 Kilometer entfernt. Das gesamte Terrain ist durchzogen von Sperrgebieten und Truppenübungsplätzen. Vermintes Gelände in jeder Hinsicht. Zugleich aber ist die Heide ein großes touristisches Geschäft; ein deutsch aufgeladener Sehnsuchtsort, den Großvater Wilhelm in einem Interview mit einer NDR-Journalistin entzaubert:
Wir sind am Ende auch nichts anderes wie einfache Bauern. Unsere Ernte im Sommer sind die reichen Knacker aus den Städten. Abgerechnet wird hier doch in Kaffeefahrten.
Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Wölfe und Heimatschützer
Markus Thielemann hat sich ungeheuer viel vorgenommen für einen noch nicht einmal 300 Seiten dicken Roman – und das meiste davon funktioniert. Er beschreibt Strukturwandel und den inneren Konflikt eines jungen Menschen zwischen Bindungen und Aufbruch. Er zeigt in seinem an Zeichen und Spuren reichen Buch, wie fortgeschriebene deutsche Mythen in die Gegenwart hineinwirken: Der Wolf ist in der Gegend unterwegs. So genannte Heimatschützer rüsten auf, um die Scholle zu verteidigen. Das von den Neonazis genutzte Wolfsangel-Symbol taucht da und dort auf.
Es erstarkt, wir schreiben das Jahr 2015, eine so genannte Professorenpartei, die die Stimmung in der Bevölkerung erspürt – heute weiß man, wohin das geführt hat. Und nicht zuletzt hat Jannes selbst Visionen von einer Frau; einem Gespenst, das ihm immer wieder in Nächten auf der Heide begegnet und das mit einem lange verschwiegenen Familiengeheiminis zu tun hat. Als eines seiner Tiere eine Fehlgeburt hat, wittert Jannes den Einfluss höherer Mächte:
Spuk, denkt Jannes, und erschaudert, betrachtet die verformten Wesen im Stroh. Hier stimmt etwas nicht. Eine tiefe Gewissheit überkommt ihn. Es hat mit ihr zu tun. Sie hat ihn verflucht.
Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Hin und wieder verfängt Thielemann sich in seinen Ambitionen. Dann verschwimmen in diesem Roman die Grenzen zwischen moderner Spukgeschichte und Geisterbahn. Trotzdem: „Von Norden rollte ein Donner“ ist ein ungewöhnliches, kluges und literarisch hoch interessantes Buch.

Oct 9, 2024 • 4min
Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Sie sind ein mythisch vorbelastetes Paar, wie es gegensätzlicher nicht scheinen könnte. Jupiter ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt und auf Rollstuhl und Pflegebett angewiesen; der Radius seiner Bewegungen wird immer kleiner.
Juno dagegen ist der verkörperte Bewegungsdrang. Tanzperformance und Ballett sind ihr Lebenselixier. Während Jupiter im Nebenzimmer der ramponierten Leipziger Altbauwohnung starr liegt, macht Juno auf der Matte unermüdlich ihre Dehn- und Kraftübungen, und noch immer könnte sie die Nächte in Clubs durchtanzen, wenn sie als Frau über Fünfzig dabei nicht merkwürdig angesehen würde.
Frauen über Fünfzig und ihre Sehnsüchte – das ist wiederum das Geschäftsmodell von Benu. Er ist einer jener Love-Scammer in afrikanischen Internet-Cafés, die sich über die sozialen Medien mit blumigen Komplimenten und falschen Identitäten in die Herzen und Konten liebebedürftiger Europäerinnen schleichen.
Den Lügner belügen
Auf Instagram bekommt Juno ständig solche Kontaktanbahnungsversuche. Sie fühlt sich provoziert von der billigen Masche der emotionalen Kaperfahrer und macht sich in ihren schlaflosen Nächten einen Spaß daraus, sie mit ebenso verlogenen Antworten zu irritieren, bis die Scammer abtauchen. Benu aber ist anders. Er führt den Kontakt weiter, auch nachdem die Illusion geplatzt ist.
Wie hast du das gemerkt mit dem Scammen? Wer kann so etwas ernst nehmen. Owen Wilson aus der Ukraine, und dein albernes Profilbild. Das ganze Geschnulze auch noch.
Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Es ergibt sich ein intensives Zwiegespräch, bei dem Junos Misstrauen langsam aufweicht. Bald wechseln die beiden zu Whatsapp und Videotelefonaten. Benu sitzt dabei oft im Kerzenschein, weil in seiner nigerianischen Stadt ständig der Strom ausfällt. Und irgendwann bekennt er seine Liebe; echt jetzt. Juno ist fassungslos.
Eine Dreiecksgeschichte anderer Art
„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist ein zeitgemäßer Text für das Instagram-Zeitalter. Und zugleich liegt diesem Roman eines der ältesten Erzählmuster überhaupt zugrunde, allerdings auf ganz neue Weise interpretiert: die Dreiecksgeschichte. Eine Frau zwischen zwei Männern, was hier heißt: zwischen dem fernen Scammer und dem nahen Sklerotiker. Bei letzterem ist aber weniger von Beziehung als von Betreuung die Rede. Jupiter hätte Grund, sich zu beschweren:
Dass Juno mit einem fremden Menschen ausgiebig chattete, mit ihm aber oft nur ein paar hastige Sätze tauschte.
Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Aber Jupiter weiß nichts von Benu. Und dann ist da noch eine dritte Liebe, nämlich die zu sich selbst und zum eigenen Körper, dessen lange, schöne Beine mehr als einmal hervorgehoben werden. Nur im narzisstischen Genuss des Tanzes ist Juno ganz bei sich selbst:
Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. Da spielte sie, ein normaler Mensch zu sein.
Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Der Text als Performance
Die Erzählerin greift nach den Sternen und hadert mit der Schwerkraft der Verhältnisse. Es ist ein kleines Wunder, dass sich das alles zu einer plausiblen Konstellation zusammenfügt: Beschreibungen des oft nicht barrierefreien Alltags mit einem schwerkranken Partner, Reflexionen über Tanzprojekte, Tätowierungen oder Lars von Triers Film „Melancholia“, Erinnerungen an die eigene Kindheit in den Bergen, frühe Erfahrungen von Ausgrenzung sowie ein bisweilen allerdings plakatives Nachdenken über Postkolonialismus, Rassismus, Ausbeutung.
ChatGPT wäre überfordert, all diese Zutaten zu einer halbwegs stimmigen Romanhandlung zu verknüpfen, aber Martina Hefter gelingt es, und zwar deshalb, weil sie eben nicht an einem Plot entlangschreibt, sondern den Text selbst als eine Art Performance entwickelt. Als Tanz der Themen und Motive, mit Anmut und Würde und Humor auch in den heiklen Momenten. Man ist gefesselt von dieser eigenwillig welthaltigen Autofiktion bis zur letzten Seite.

Oct 9, 2024 • 4min
Sebastian Moll – Das Würfelhaus
„Verdrängung“ ist einer der zentralen Begriffe in Sigmund Freuds Psychoanalyse: ein Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken und Gefühle, die wir als schmerzhaft oder unangenehm empfinden, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. Darauf bezieht sich Sebastian Moll mit seinem Begriff einer „Architektur der Verdrängung” - auch auf Freuds Diktum „der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus“.
Zum anderen meint „Architektur der Verdrängung“ den Wiederaufbau der Stadt Frankfurt am Main nach dem Prinzip tabula rasa. Es wurde so ziemlich alles gesprengt und abgerissen, was nach dem Krieg noch stand.
Für die Verarbeitung all dessen, was geschehen war, war das katastrophal. (...) Nur wenn die schmerzhafte Erinnerung Teil eines neuen Lebens, eines neuen Alltags wird, können die seelischen Narben allmählich heilen.
Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus
Gefühle im Keller
Sebastian Moll beschreibt auch das Reihenhaus, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, das titelgebende Würfelhaus in Langen bei Frankfurt. Es ist neu, nüchtern, äußerlich ohne jede Spur der Vergangenheit. Aber aus dem Keller dringt die Nazi-Nostalgie des Vaters bis ins vorzeigbare Wohnzimmer, dessen Bücherregal mit Werken von Böll und Grass zeitgemäß bestückt ist.
Heinz Moll, in seiner Jugend Flakhelfer und glühender Hitlerverehrer, später leitender Angestellter bei einer Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaft, hat sich unter der Erde eine Art Kriegsdevotionalienaltar eingerichtet, darauf Kameradenbriefe, Landser-Heftchen, Pornomagazine. Die Fotos früherer Freundinnen hängen ordentlich gerahmt an der Wand. Sebastian Moll:
Und das hat mich dann eben anhand unseres Reihenhauses interessiert, weil ich da ja an der eigenen Person erlebt habe, wie sich trotz dieser rationalen Oberfläche das Unterbewusste sein Recht sucht.
Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll
Die Wiederauferstehung eines Gespensts
Das Psychoanalytiker-Paar Margarete und Alexander Mitscherlich, das Sebastian Moll häufiger zitiert, hatte 1967 das epochemachende Buch über die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“ veröffentlicht. Nur Verdrängung war möglich.
Es gibt viele Bücher über die Bürde der Generation der Kriegsenkel, der Boomer, zu denen auch der Autor gehört. Aber dieses hat einen neuen Ton: Es ist ehrlich, offenherzig, ratlos, traurig. Im Grunde kann Sebastian Moll nicht begreifen, wer sein Vater war.
Als Kind genießt er es, mit ihm zusammen sportliche Männerabenteuer zu bestehen. Aber Sebastian war erst zwölf, da führt der Vater seine junge Geliebte zum ersten Mal ins Haus der Familie und befiehlt seinem Sohn, sie vor den Augen der Mutter zu entkleiden. Die Mutter beginnt zu trinken.
Es ist die totale Erniedrigung meiner Mutter, in die ich als Komplize eingespannt werde. (...) Die Szene war zweifellos nur ein Ausschnitt aus einer andauernden sadomasochistischen Vierecksbeziehung, die meine Mutter immer tiefer in Alkohol und Verzweiflung trieb (...) Weitere Szenen geistern noch diffus und verschwommen in meinem Unterbewusstsein herum. Sie zu bergen und zu schärfen, habe ich jedoch weder den Mut noch die Kraft. Es bleibt zu viel, eine lebenslange Überforderung, eine Monstrosität, die verdaubar, Teil meines bewussten Ich zu machen, mich kapitulieren lässt.
Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus
Als Sebastian sich allmählich aus der Familie „extrahiert“ – wie er es nennt – verstößt ihn der Vater. 30 Jahre nach dessen Tod will Sebastian Moll „Das Würfelhaus“ verkaufen. Die Auflösung führt ihn erneut in den Vaterkeller.
Er schaut noch einmal ganz genau, ob er vielleicht doch etwas übersehen hat, ob er etwas findet, was die Leerstelle füllen könnte. Das Ergebnis ist dieses kluge, traurige, anrührende Buch. Sebastian Moll hat es geschrieben im Wissen, nicht allein zu sein mit seiner Vatersuche.
Ich glaub, die Suche, die hört nie auf und die Auseinandersetzung damit. Das ist vielleicht auch ein bisschen der Fluch unserer Generation.
Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll

Oct 8, 2024 • 4min
Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt
Samar Yazbek, geboren in eine wohlhabende alawitische Familie, widmet ihr Leben und ihr Schreiben schon lange dem Leiden des syrischen Volks. Beharrlich dokumentiert sie dessen Unterdrückung und die Gräueltaten durch das Assad-Regime. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Wo der Wind wohnt“, der uns in die letzten Stunden eines 19-jährigen Soldaten namens Ali versetzt.
Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine verklebten Wimpern kann er es unter der Mittagssonne nicht sehen. Nur das Blatt eines Baumes, nichts weiter. Grün und an den Rändern ausgebuchtet, liegt es wie ein Vorhang über seinen Augen, wenn er langsam und unter großer Anstrengung die Lider bewegt.
Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt
Zwischen Leben und Tod, Traum und Realität
Es sind die ersten Jahre des syrischen Bürgerkriegs, und Alis Patrouille ist soeben in den Bergen von Latakia bombardiert worden. Nun schwebt er zwischen Leben und Tod – und erinnert sich an Menschen und Momente, die sein bisheriges Leben geprägt haben.
Yazbek verwischt dafür in ihrem Roman gekonnt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Traum und Realität. Denn wir sind quasi in Alis Kopf gefangen und gleiten mit ihm durch all die Fantasien und Erinnerungen, die wie fieberhafte Halluzinationen in ihm auftauchen. So wird er etwa Zeuge einer Beerdigung.
Er hört Weinen, und er nimmt die Schemen einer Frau wahr. Aus der Art, sich seltsam hüpfend fortzubewegen, als wäre sie verärgert, schließt er, dass es seine Mutter ist. Die aufgeregten Stimmen, die er dann vernimmt, scheinen ihm von anderer Art zu sein. Das da ist sein Vater. Und seine verwitwete Schwester mit ihrem dicken Bauch.
Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt
Erst allmählich wird klar, dass Ali sich an das Begräbnis seines älteren Bruders erinnert. Freiwillig hatte dieser sich zum Militär gemeldet – ganz im Gegensatz zu Ali, der von Natur aus und zum Missfallen seines Vaters ein Träumer war. Schon als Kind verbrachte er die Zeit am liebsten zwischen den Bäumen seines Dorfes. Humairuna, eine rätselhafte Weise, die in Alis Dorf lebte, lehrte ihn früh ihren mystischen Glauben, vor allem den an die Kraft der Bäume. Und doch kann Ali den bedrohlich anwachsenden Schatten im politischen Klima Syriens nicht entkommen: Eines Tages wird auch er zwangsrekrutiert.
Ein Manifest gegen den Krieg – und für das Leben
Geschickt beleuchtet Samar Yazbek anhand der Vignetten aus Alis Leben knapp, poetisch und doch präzise zum einen die reiche Tradition der alawitischen Kultur, vor allem ihre starke Verbundenheit mit der Natur. Zugleich fängt sie wie nebenbei die alles umfassende Militarisierung und Brutalisierung ein, die jeden Winkel des syrischen Alltags durchdrungen hat. Und sie macht Ali – der nach dem tödlichen Beschuss nahe einer riesigen Eiche zu Bewusstsein kam – zum Sprachrohr, um die Sinnhaftigkeit all des Sterbens zu hinterfragen.
Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen.
Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt
Am Ende lässt Samar Yazbek ihren heroischen Antihelden Trost finden in dem, was er am meisten liebt: in der Schönheit der Erde und der Natur. „Wo der Wind wohnt“ ist somit nicht nur ein eindringliches Dokument, das all jenen Stimme verleiht, die für und durch ein mörderisches Regime elend und ungehört sterben. Der Roman – dessen bestechende lyrische Intensität Larissa Bender so behutsam wie kunstvoll ins Deutsche übertragen hat – ist zugleich ein Manifest für das Leben selbst. Und womöglich bis dato Samar Yazbeks bester, ja schönster Roman.

Oct 7, 2024 • 4min
Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober
Am Anfang war… das Wort. Delphine Horvilleur zeigt in ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch, wie die Sprache wiederzugewinnen ist, wenn etwas einem die Sprache verschlagen hat. Etwas – das ist der größte und brutalste Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah am 7. Oktober des vergangenen Jahres.
Es sind indes nicht nur die Ereignisse an diesem schrecklichen Tag, die der Autorin die Sprache zu nehmen drohten. Unmissverständlich geht die Pariser Rabbinerin, die als Repräsentantin des liberalen Judentums in Frankreich gilt, auf das ein, was nach dem 7. Oktober passierte – und immer noch passiert: Den einen verschlägt es vor Entsetzen die Sprache – den anderen wird ihre Sprache zu einem wohlfeilen Mittel der Relativierung:
Am 7. Oktober sind verabscheuungswürdige Taten begangen worden, ABER… – Jüdische Frauen sind vergewaltigt worden, ABER… – Das Schicksal der Kinder im Gazastreifen ist furchtbar, ABER…
Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober
Durch dieses ABER und unter dem Vorwand einer Kontextualisierung wird das Grauenhafte relativiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Dabei lässt die Autorin keinerlei Zweifel daran, dass sie seit Jahren für die Rechte der Palästinenser und für eine Zweistaatenlösung eintritt. Und genauso unmissverständlich macht sie im Kapitel ‚Gespräch mit Israel‘ ihre Kritik an der Politik der Machthybris der amtierenden israelischen Regierung deutlich.
Ein Land, das Sicherheit verspricht
Aber an solchen Differenzierungen seien notorische Antisemiten gar nicht interessiert; das Muster, nach dem ‚der Jude‘ an allem Übel dieser Welt schuld sei, wiederhole sich immer wieder aufs Neue – wie ihre Großmutter im erinnerten ‚Gespräch mit den Großeltern‘ resigniert feststellt: „Was geschehen ist, wird immer wieder geschehen. Die Vergangenheit vergeht nie.“
Die Vergangenheit, das ist die Jahrhunderte und Jahrtausende alte Verfolgung der Jüdinnen und Juden, vor der sie nichts schützt – auch nicht die Integration in ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, und das man deshalb liebt: Hier spricht Delphine Horvilleur mit und von ihrem Großvater, diesem perfekt assimilierten Juden, der Frankreich unendlich dankbar war.
Die extreme Dankbarkeit war das leuchtende Gewand, das elegant typisch jüdische Ängste und Schmerzen umhüllte: die Angst, nicht genauso geliebt zu werden wie man selbst liebt.
Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober
Antisemitismus und Antirassismus
Eine Angst, die sich in der Geschichte allzu oft als berechtigt erwies.
So tastend Delphine Horvilleur aus der Sprachlosigkeit in die Sprache zurückzufinden sucht, so analytisch klar ist sie im Kapitel ‚Gespräch mit einem Antirassisten‘; dessen Haltung lasse sich – und das sei das Neue nach dem 7. Oktober – perfekt mit dem Antisemitismus kombinieren: Judenhass, der alles durcheinanderwirft – jüdische Geschichte, jüdische Religion, Israel und seine derzeitige Regierung – Judenhass könne sich antirassistisch gerieren und als Engagement für die Seite der Schwachen, der Opfer und Verwundbaren.
Nur die Verwundbarkeit der Jüdinnen und Juden bleibt im Denken der antirassistischen Antisemiten stets einen Nachweis schuldig.
Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober
Oder ist der Antisemitismus ein Aufstand gegen die Ursprünge, gegen die Anfänge der eigenen Religion, ja Kultur, die sich der älteren verdankt – und dies nicht will?
Es ist deutlich einfacher, sich seiner Herkunft zu stellen, wenn die, die diese Herkunft verkörpern, elegant genug gewesen sind, sich aus dem Staub zu machen
Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober
So kommentiert Delphine Horvilleur mit einer Prise Sarkasmus.
Im Kapitel ‚Gespräch mit denen, die mir guttun‘ schildert sie ihre Begegnungen mit dem libanesischen Autor und Filmemacher Wajdi Mouawad, die zeigen, dass Brücken und Verständigung zwischen Juden und Moslems möglich und bereichernd sind.
„Weißt Du, dass man da, wo ich aufgewachsen bin, alle Araber, die eigenständig denken wollen, als Juden bezeichnet?“, sagt ihr in einem anderen Gespräch der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud.
Sprechen in Zeiten des Krieges
Die zehn Kapitel dieses Buchs tragen jeweils die Überschrift ‚Gespräch mit…‘ und weisen auf den Weg zurück in die Sprache, die am 7. Oktober des vergangenen Jahres verloren zu gehen drohte. In ihrem Buch zeigt Delphine Horvilleur, wie wichtig die Sprache in Zeiten des Krieges der Waffen und Worte ist: Am Anfang, berichtet die Bibel, wurde die Menschheit gleichzeitig mit dem Tierreich erschaffen. Und dahin kehrt sie wieder zurück, sobald sie nicht mehr benennen kann, was ihr widerfährt.

Oct 2, 2024 • 4min
Robert Macfarlane – Alte Wege | Buchkritik
Kann man, so man auf alten Pfaden in Schottland, England oder anderswo unterwegs ist, beim Gehen auf Gedanken kommen, welche nur in einer ganz bestimmten Gegend möglich sind? Jeder Mensch verfügt über erinnerte Landschaften, in die er gedanklich immer wieder zurückkehrt. Gibt es Orte an denen wir „spürbar anders denken und fühlen?“
Robert Macfarlane, ausdauernder Wanderer und intimer Kenner der Reiseliteratur voriger Jahrhunderte, stellt sich diese Frage. Sie hat auch schon einen seiner Vorgänger umgetrieben, den Schriftsteller Edward Thomas, auf dessen Wegen Macfarlane oft unterwegs ist.
Schreiben und Gehen
Die beiden verbindet nicht nur die Lust, alte Pfade und ihre Geschichte zu erkunden, sondern auch die Freude Botanik, Mineralien und Erdgeschichte so kenntnisreich wie poetisch vor dem Auge des Lesers zu entfalten:
Der Schnee war dicht überzogen mit den Spuren von Vögeln und Tieren – ein Archiv Hunderter Wegstrecken, aufgezeichnet seit dem Ende des jüngsten Schneefalls. (…) Auf der schrägen Feldfläche vertiefte das Mondlicht die näher gelegenen Abdrücke noch, sodass sie wie gefüllte Tintenfässer wirkten. Zu all diesen Spuren fügte ich noch meine hinzu
Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege
schreibt Macfarlane. Schreiben und Gehen – diese Verbindung treibt Macfarlane an. Beide Wörter haben zumindest im Englischen eine gemeinsame Wurzel. Der Wanderer findet temporäre Begleitung oder besucht gezielt Ortskundige, manch einer seiner Gesprächspartner sammelt systematisch, was er am Wegesrand findet.
Natur kann heilen, aber auch, wie Macfarlane schreibt „brutal schweigen und durch ihre Gleichgültigkeit erschüttern“, oft sind depressive Menschen wie Edward Thomas manische Wanderer. Je älter Macfarlane wird, desto weniger interessiert es ihn, unerforschtes Land zu betreten und desto spannender wird es für ihn, Pfaden zu folgen, die vor langer Zeit von unseren Vorfahren hinterlassen wurden.
Orientierung ohne Instrumente
Bereits dreitausend Jahre vor dem römischen Wegenetz orientierte man sich auf See mit Hilfe des Polarsterns, am Zug der Vögel oder an Wolken, die Land anzeigen. Das Wissen über den Küstenverlauf wird in Erzählungen und über Lieder weitergegeben. Gefährliche Wege durch das Watt wurden oft phantasievoll markiert, so der „Broomway“ in Essex.
Besenstiele sind in den Boden gerammt, an denen ein Stein festgebunden ist. Der Wanderer nimmt den Stein und führt ihn an der sechzig Meter langen Schnur bis zum nächsten Stecken bei sich. Hat er sich verlaufen, findet er anhand der Schnur wieder zurück. Auf alten Pfaden zu wandern, bedeutet also immer auch eine Zeitreise:
Der Pfad lockt das Auge, das äußere wie das innere. Der Kopf kann nicht umhin, dieser Linie über das Land zu folgen – nicht nur voran durch den Raum, sondern auch zurück durch die Zeit, hinein in die Geschichte des Weges und all derer, die ihn genutzt haben.
Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege
Historische Fußwege sind in England vom Wegerecht geschützt und werden durch Benutzung erhalten: Im neunzehnten Jahrhundert hingen Sicheln am Rand von Trampelpfaden, die Benutzer schnitten die überhängenden Äste auf dem Weg ab und hingen die Sichel am Ende des Pfades wieder auf. Alte Pfade sind oft ehemalige Viehtriften, so zogen die Siedler in den USA auf den Spuren der Bisons gen Westen und auch Spanien kann ein riesiges Wegenetz ehemaliger Viehpfade aufweisen.
MacFarlanes Buch, in all seiner Schönheit der Beschreibungen rauher und für den Ungeübten unwegsamer Landschaften, ist ein Lesegenuss, gerade auch für diejenigen die kaum selbst wandern, aber Landschaftsbeschreibungen lieben. Es weckt ebenso die Lust aufs Schauen wie auf Literatur.


