

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Oct 22, 2024 • 4min
Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte
Judith Kohlenbergers Domäne ist die Migrationsforschung. Die „neue Härte“, die sie konstatiert, manifestiert sich in ihren Augen vor allem im Umgang mit geflüchteten Menschen:
An den EU-Außengrenzen herrscht mittlerweile eine quasi rechtsfreie Zone. Durch Bürgermilizen, (vermummte) Grenzpolizei und die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die allesamt in Verdacht stehen, Treibjagden mit Hunden auf Geflüchtete zu veranstalten konnte sich entlang Europas Peripherie ein ,Gürtel der Gewalt‘ etablieren, der alles fernhalten soll, wovon die kontinentale Gesellschaft nicht berührt werden will.
Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte
Abschottung funktioniert nicht
Diese Brutalität, mit der sich das saturierte Europa das Elend der Welt vom Leib zu halten versucht, bringt gravierende Probleme mit sich, stellt Judith Kohlenberger fest. Zum einen funktioniert die Abschottung nicht – die Ankunftszahlen gehen nicht zurück – zum anderen verändert der offensive Mut zur Gefühllosigkeit auch die europäischen Gesellschaften selbst, so Kohlenberger, und zwar zu deren Nachteil:
Was hat denn diese anhaltende, zunehmende Grenzgewalt vor allem der letzten zehn Jahre mit der Gesellschaft im Inneren gemacht? In der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben gestalten, nehme ich eine immer stärkere Verhärtung, einen stärkeren Rückzug ins Eigene bei gleichzeitiger Abwendung vom Anderen wahr. Und diese Abwendung vom Anderen, diese Abschottung und Härte gegenüber dem Anderen, die wurde an den Grenzen erprobt, eingeübt, kann man sagen – aber die hat sich fortgesetzt in andere Dimensionen unserer Gesellschaft.
Quelle: Judith Kohlenberger
Absolute Grenzenlosigkeit ist keine gute Idee
Judith Kohlenbergers Buch ist ein Plädoyer für menschliche Zugewandtheit, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neoliberalen Egozentrismus lehnt sie ebenso ab wie den neurechten Trend zur allumfassenden Fortifikation. Aber: Weichheit und grenzenlose Durchlässigkeit allein seien auch keine tauglichen Alternativen, betont die Kulturwissenschafterin:
Dieses Buch ist weder ein Plädoyer für endlose Weichheit noch für grenzenlose Offenheit. Grenzenlosigkeit ist im Persönlichen wie im Politischen selten eine gute und nie eine gefahrlose Idee. Statt grenzenloser Offenheit braucht es ein realistischeres Konzept, um der neuen Härte zu begegnen. Die Eigenschaft, zugänglich zu sein, aber ohne dabei das Eigene über das andere oder das andere über das Eigene zu stellen. Offen und durchdringbar zu sein.
Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte
Judith Kohlenberger formuliert in ihrem Buch ein demokratisches Grenz-Konzept. Statt Europa zur „Festung“ auszubauen, mehr noch als bisher, sollten die EU-Außengrenzen zum einen stabil sein, zum anderen aber Austausch und Fluktuation ermöglichen, etwa durch die Schaffung legaler Flucht- und Migrationsrouten:
Ich sage immer, es braucht Durchlässigkeit an den Grenzen nach klaren Kriterien, wer kommen darf, wer bleiben darf – Kriterien, die gemeinsam erschlossen werden müssen, die gemeinsam auch aufrechterhalten werden müssen. Und wo klar nachvollziehbar ist für beide Seiten, wie denn Einreise und Ausreise gestaltet sind.
Quelle: Judith Kohlenberger
Weder starr noch nachgiebig
Judith Kohlenberger ist überzeugt davon, dass sich Flucht und Migration deutlich besser managen lassen, als es die EU derzeit tut. Voraussetzung dafür sei allerdings eine „universalistische Empathie“. Von Abschottung und der aggressiven Abwehr von äußeren Einflüssen, wie es die Rechten und Rechtsradikalen fordern, hält Kohlenberger nichts.
Übrigens auch auf individueller Ebene nicht. Leben heißt durchlässig sein. Weder starr noch grenzenlos nachgiebig, sondern beides gleichermaßen: hart und weich zugleich.

Oct 20, 2024 • 10min
Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt. Debatten von draußen bleiben auf der Frankfurter Buchmesse außen vor
Auch SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte beobachtet auf dieser Frankfurter Buchmesse, dass zunehmend weniger Journalisten und Medien sich für den Stand der Ukraine und deren Veranstaltungen während der Messe interessieren:
„Das ist zwar verständlich aufgrund all der anderen Konflikte. Aber es ist auch grauenhaft. Denn wir haben es hier nicht nur mit einem blutigen Konflikt zu tun, sondern auch mit einem Angriff auf eine Sprache, eine Kultur.“
Ein Roman, der mit literarischen Mitteln dagegen ankämpft, sei der dritte Teil des „Amadoka-Epos“ von Sofia Andruchowytsch, den Carsten Otte begeistert empfiehlt.

Oct 20, 2024 • 6min
Anne Applebaum: „Um zu verhindern, dass Rußland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen – und zwar nicht nur für die Ukraine“
Eine illusionsfreie Sicht auf Rußland nach der Krimannexion 2014 hätte vielleicht den Krieg 2022 verhindern können.Ein „Nie wieder“ bedeutet gerade nicht einen Frieden um jeden Preis, sondern einen Einsatz für Friede und Freiheit.

Oct 20, 2024 • 55min
Hey Italien, wie geht es Dir? – Das war die Frankfurter Buchmesse
Selten wurde so viel über ein Gastland vor Beginn der Frankfurter Buchmesse diskutiert wie dieses Jahr: Italien präsentiert sich unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“. Prominente Autoren wie den Mafia-Experten Roberto Saviano gehörten allerdings nicht zur offiziellen Delegation. Saviano war aber trotzdem da, eingeladen von seinem deutschen Verlag Hanser. Mit dem SWR Kultur lesenswert Magazin hat er exklusiv gesprochen. Roberto Saviano betont: „Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten.“ Denn es könne durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so werde wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssten sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gingen.
Wie politisch aufgeladen war der Messe-Auftritt Italiens? Darüber sprechen wir mit der Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karen Krüger.
Und Italien ist nicht nur das Land großer Romane, sondern hat auch eine ganz eigene Comic-Kultur. Gerade erschienen ist der Band „Die große Illusion“ von Alessandro Tota, der in Comicbildern die Comicgeschichte erzählt. Unser Buchtipp.
Friedenspreis an Anne Applebaum
Beendet wurde die Buchmesse am Sonntag mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Der geht dieses Jahr an die amerikanische Philosophin Anne Applebaum. Wofür sie steht, darüber sprechen wir mit SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck.
Deutscher Buchpreis an Martina Hefter
Den Auftakt zur Buchmessen-Woche bildete die Verleihung des Deutschen Buchpreises. Der geht dieses Jahr an die Leipziger Autorin Martina Hefter und ihr Buch „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“. Laut der Buchpreis-Jury ein „klug choreografierter Roman“ über moderne Heiratsschwindler. Wir sprechen mit der Preisträgerin.
Neu auf der Messe: eine ganze Halle für New Adult
New Adult-Bücher – also Bücher für junge Erwachsene, meist über pikante Themen wie Liebe und Sex – sind der Renner unter jungen Leser*innen. Besonders auf TikTok sprechen sie begeistert über Romanfiguren und Plots. Und dekorieren ihre Zimmer mit den farbenfrohen Covern. Ein großer Markt, das haben die Verlage erkannt und jetzt auch die Frankfurter Buchmesse. Die stellt zum ersten Mal der jungen Literatur eine eigene Halle zur Verfügung. Nina Wolf schaut sich dort um.
Fazit nach der Messe-Woche
Wie war sie nun, die 76. Frankfurter Buchmesse? Wir ziehen Bilanz mit SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte. Und wir fragen die Besucher*innen: Wann und wo lest ihr am liebsten? Denn eine neue Studie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass wir uns weniger Zeit zum Lesen nehmen als noch vor zehn Jahren. Durchschnittlich 27 Minuten in Deutschland pro Tag. Was hingegen stieg, ist die Fernsehzeit. Die beträgt durchschnittlich zwei Stunden und vier Minuten. Das muss sich ändern, finden die Besucher*innen der Buchmesse.

Oct 20, 2024 • 7min
Neue New Adult Halle auf der Frankfurter Buchmesse
New Adult auf 8000 Quadratmetern
Freitagnachmittag, viele junge New Adult Fans warten vor der Halle 1.2. Im Vorjahr brachte die Menge die Messehallen regelrecht zum Überlaufen, meint Dr. Torsten Casimir, Pressesprecher der Frankfurter Buchmesse: „Wir haben im vergangenen Jahr schon gemerkt, dass an denjenigen Verlagsständen, die für diese Zielgruppe auch Angebote haben, der Andrang so groß war, dass wir auf der verfügbaren Hallenfläche kaum noch gut organisieren und abbilden konnten.“
Nach den Besuchertagen im vergangenen Jahr sah sich die Frankfurter Buchmesse mit scharfer Kritik konfrontiert. Nun soll mit der neuen New Adult Halle ein Raum für die junge Leserschaft geschaffen werden, der auch eine Bühne für Diskussionen, Lesungen, Signierstunden und interaktive Fan-Aktionen bietet.
Große Wartebereiche, Platz für Signierstunden und lange Warteschlangen
Das sei zielgruppengerecht gedacht, so Casimir: „Was man da beobachtet, ist eine junge Leserschaft, die sich nicht nur verhält wie Lesende, sondern wie Fans. Die suchen die Nähe zu denjenigen Autorinnen und Autoren, die sie gerne lesen und die sie bewundern. Und diese Bewegung, die den Buchmarkt in Deutschland, aber auch in vielen anderen Buchmärkten stark wachsen lässt und stark belebt, geben wir einen großen Raum.“
Groß ist das Stichwort: Im Vergleich mit dem Angebot in den anderen Messehallen fällt auf, dass die Gänge im neuen New Adult Bereich extra breit gehalten wurden. Es gibt ausladende Relax-Zonen und Sitzareale. Vieles läuft online: Für Signierstunden und Fantreffen gibt es ein neues digitales Warteschlangen-Konzept. Publikumstickets gibt es nur vorab im Netz zu kaufen.
Erfolg mit Dark Romance: Jane S. Wonda und das „Wondaversum“
Um die Stände, die einen besonders großen Andrang erwarten, ist viel Platz für das Schlangestehen eingeplant. Einer davon ist das „Wondaversum“. Die Münchnerin Jane S. Wonda ist Dark-Romance-Autorin, Verlagsgründerin und eine Größe in der Szene. Das „Wondaversum“ betreut am Messewochenende ein 20-köpfiges Team. Wonda selbst ist gespannt, wie ihre Fans das neue Konzept aufnehmen: „Man wird dann bei TikTok diese Videos dazu anschauen können, was denn die Blogger für die Fachbesuchertage sagen und was die Leser vom Wochenende sagen.“
Die gigantischen Dimensionen sind symbolisch für den Erfolg des New Adult Genres. Ob Romance, Fantasy, Dark Romance, queere Liebesromane oder Romantasy – die Nachfrage ist riesig.
Die New Adult Community ist nicht nur auf der Suche nach Begegnungen mit ihren Lieblingsschriftstellerinnen, sondern auch nach den neuesten Trends. In vielen neuen Verlagsprogrammen vertreten: „Sports Romance“ – Liebesromane mit sportlichen Protagonisten. Besonders beliebt: Eishockey-Spieler als Love Interests.
Viele schöne Bücher, Messeeditionen und schicke Farbschnittausgaben
Die kaufkräftige Leserschaft legt Wert auf besondere Messeeditionen ihrer Lieblingsromane oder auf schicke Farbschnittausgaben. Im New-Adult-Kosmos ist vieles auch eine Frage des geschickten Marketings.
Das weiß auch Jane S. Wonda, es ist Teil ihres Erfolgskonzepts: „Man muss natürlich als Selfpublisher auch schauen: Was sind die Trends? Was ist das Marketing? Gerade wenn man mit Social Media arbeitet. Jeder Influencer schaut, was passiert da eigentlich. Und das kann ich, denke ich, schon relativ gut in meinen Alltag so integrieren, so dass ich da immer up to date bin. Das war also auch ein bisschen Glück, weil auch dieses Genre von Amerika kommend verlangt wurde, sozusagen dieser Strom und das in Deutschland niemand bedient hat. Und dann konnte ich da Fuß fassen, sozusagen.“
Eine neue, junge Zielgruppe für die Frankfurter Buchmesse
Mit der neuen Halle will die Frankfurter Buchmesse auch eine neue und jüngere Zielgruppe für den Buchmarkt gewinnen.
So sagt Torsten Casimir: „Man kann ja nicht mit dem Publikum, das schon seit 20, 30 und noch mehr Jahren zur Buchmesse kommt und treu jedes Jahr wieder da ist, gemeinsam alt werden und dann war es eine schöne Zeit. Sondern man muss ja eben auch schauen, dass Buchmärkte auch nachwachsende Leserinnen-Generationen ansprechen. Und dabei müssen auch wir als Frankfurter Buchmesse - und wollen auch - behilflich sein. Das gehört eigentlich zur DNA der Frankfurter Buchmesse, das keine der anderen gleicht. Es passiert jedes Jahr irgendetwas Neues.“
Die drei Säulen der Messe: Publikumsveranstaltung, Fachmesse und Plattform für demokratischen Austausch
Trotzdem: Ganz zur Publikumsveranstaltung möchte die Frankfurter Buchmesse nicht werden. Das sei nur eine der Säulen, die die Messe ausmachen. Auch ein wichtiges Element: Das Literaturagenten Zentrum in dem mit Buchrechten gehandelt wird.
„Und unsere dritte Säule, über die wir bislang noch nicht gesprochen haben, bleibt ebenfalls ganz wichtig. Wir werden sie nicht kleiner werden lassen. Wir sind eine Plattform für den demokratischen, freien Austausch, für Freedom of Speech, Freedom of Publishing. Hier werden die Debatten geführt, auch die aktuellen Debatten, die uns weltweit beschäftigen,“ betont der Pressesprecher.
Studiengänge rund ums Buch
Zurück in Halle 1.2.
In der Mitte der Halle ändert sich das räumliche Erscheinungsbild: Keine mit Blumen dekorierten Stände. Keine rosaroten Bücherwände. Keine New Adult Bühne. Keine Drachen, keine Romantik. Ein großer Bereich für die schnörkellose Wissenschaft: Aussteller präsentieren hier Ausbildungsberufe und Studiengänge rund ums Buch. Die Betriebe nutzen den New Adult Hype, um die neuen Buchbegeisterten in der Branche zu professionalisieren.
Torsten Casimir weiß: „Wir möchten sie natürlich auch auf mittlere Frist an uns binden und als Kolleginnen und Kollegen bei uns haben, weil wir glauben, dass hier die alten Frauen und Männer, die eher zur Boomer-Generation gehören, anders als diese Millennials und die Jüngeren, die Dinge, die da draußen passieren, nicht mehr gut genug verstehen und nicht mehr schnell genug darauf reagieren.“
New Adult auch in Halle drei
Die räumliche Abspaltung des New Adult Angebots ist also nur rein praktisch gedacht. Im Geiste möchte die Frankfurter Buchmesse die verschiedenen Lesegenerationen näherbringen. Trotzdem, einige Romance-Big-Player wie der LYX Verlag der Bastei Lübbe sind weiter in Halle drei untergebracht. Egal wo auf dem Messegelände: Um die New-Adult-Community führt kein Weg vorbei.

Oct 20, 2024 • 8min
„Die Autorinnen lassen sich keinen Maulkorb verpassen“. FAZ-Journalistin Karen Krüger über Gastland Italien auf der Buchmesse
Italien ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und man würde wirklich gern über italienische Literatur sprechen und über die vielen Bücher, die zur Buchmesse auf Deutsch erschienen sind. Das Problem ist nur: Die italienische Kulturpolitik, die ganz im Zeichen der neofaschistischen Regierung von Giorgia Meloni steht.
Karen Krüger, Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, moderierte einige Veranstaltungen mit italienischen Autor*innen auf der Buchmesse.
Der Faschismus ist nicht vergessen
Sie sagt, nur weil einige der Autor*innen auf der offiziellen Gastland-Bühne saßen, hätten sie sich „keinen Maulkorb“ verpassen lassen. Was viele aber schon beunruhige, sei das Motto das Gastlandes: „Verwurzelt in der Zukunft“. „Viele hatten das Gefühl, vielleicht soll uns da doch irgendwie gesagt werden, dass der Faschismus nicht doch so vergessen ist, wie man uns das Glauben machen möchte“, so Krüger.

Oct 20, 2024 • 12min
Deutscher Buchpreis 2024 | Martina Hefter: „Ich möchte etwas weitergeben“
Die Autorin und Performancekünstlerin aus Leipzig habe einen »klug choreografierter Roman«, geschrieben, so das Urteil der Buchpreis-Jury.
Chats mit Love Scammern
Es geht in dem Buch um eine Performancekünstlerin und Tänzerin aus Leipzig, die tagsüber ihren an Multiple Sklerose erkrankten Partner pflegt und nachts mit Liebesschwindlern, sogenannten Love Scammern, chattet.
Wir haben die Preisträgerin auf der Frankfurter Buchmesse getroffen und erfahren, wie sie mit der neuen Aufmerksamkeit umgeht und für was sie das Preisgeld einsetzen möchte.

Oct 20, 2024 • 4min
Roberto Saviano: Regierung Meloni ist rechtsextrem – Europa sollte sie nicht unterschätzen
SWR Kultur: Welche Eigenschaft, welche Charakteristik der Regierung Giorgia Meloni ist aus Ihrer Sicht die größte Gefahr für die italienische Demokratie?
Roberto Saviano: Viele Dinge. Es ist so, dass diese Regierung systematisch Leute angreift und attackiert und es so unmöglich macht, noch frei zu sprechen. Die Situation entwickelt sich hin zu einer autoritären Verwaltung innerhalb eines demokratischen Staates. Das Sicherheitspaket, das die Regierung ausprobiert hat, erschwert es beispielsweise zu protestieren und verhindert, dass man frei sprechen kann. Was die Intellektuellen betrifft, hat Meloni mich zum Beispiel vor Gericht gestellt. Da zeigt sich ein systematischer Angriff auf Intellektuelle, die sich exponieren, indem sie Stellung beziehen. Das versetzt die italienische Demokratie in Alarmbereitschaft.
SWR Kultur: Sie haben auf der Buchmesse gesagt, dass sich die Deutschen auch für die Schattenseiten Italiens interessieren. Interessieren sie sich denn auch für die Schattenseiten Melonis?
Roberto Saviano: Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten. Denn es kann durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so wird wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssen sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gehen. Europa unterschätzt die Regierung Meloni. Sie halten sie für eine einfache konservative Regierung. Dabei ist es eine rechtsextreme Regierung, die die Institutionen manipuliert. Europa muss also aufpassen, dass das nicht zu anderen herüber schwappt. Im Moment hat Europa noch eine Zukunft, denn Italien zeigt, wozu die extreme Rechte fähig ist.
SWR Kultur: Die italienische Kultur und vor allem die italienische Literatur hat nach 1945 eine klare antifaschistische Tradition. Wie gefährdet ist diese Tradition?
Roberto Saviano: Sie ist sehr in Gefahr. Denn die Strategie dieser Regierung ist es, nicht den Faschismus in seiner Gesamtheit neu zu bewerten. Sie will antifaschistisch sein. Und antifaschistisch zu sein bedeutet, bestimmte Elemente aus der faschistischen Erfahrung zurückgewinnen zu können, ohne der Komplizenschaft bezichtigt zu werden. Sie nehmen einige Elemente des Faschismus und führen diese in die jetzige Gesellschaft, aber eben, ohne dass es dabei auffällt, dass sie faschistisch sind.
SWR Kultur: Der Jurist und Mafiajäger Giovanni Falcone wurde 1992 ermordet. Das war eine Zeit großer politischer Umwälzungen in Italien, und 1994 war dann Silvio Berlusconi an der Macht. Hat damals etwas begonnen, dessen Ergebnis wir heute erleben?
Roberto Saviano: Falcone hat die Welt verändert und das ist keine Übertreibung. Denn wenn heute irgendwo in der Welt Strukturen von organisierter Kriminalität bekämpft werden, dann nach seiner Methode. Nur leider haben seine Methode und seine demokratische Strenge auch in der Justiz heute in Italien nicht sehr viele Erben.
SWR Kultur: Danke für ihre Zeit!
Roberto Saviano: Ich danke Ihnen!

Oct 17, 2024 • 4min
Thomas Hüetlin – „Man lebt sein Leben nur einmal“
Marlene Dietrich sitzt vor dem Grand Hotel Excelsior am Lido in Venedig – in Gesellschaft ihres Entdeckers, Förderers und Liebhabers Josef von Sternberg. „Der Blaue Engel“ hatte Dietrich den Weg nach Hollywood geebnet, und als die Nazis um sie warben, blieb sie standhaft und kehrte nicht zurück nach Deutschland, obwohl ihr Stern in den USA schon zu sinken begann. Sie hatte nicht die geringste Lust, eine zweite Leni Riefenstahl und eine Trophäe von Reichsminister Goebbels zu werden. Es ist das Jahr 1937. Und da geschieht etwas, das ihr Leben in den darauffolgenden Jahren prägen wird:
Ein gut aussehender Mann trat an den Tisch der beiden. Die Haare streng zurückgekämmt, leuchteten unter einer hohen Stirn zwei blaue Augen. Lebhaft, mit einem Schuss Melancholie, strahlten sie die Weltläufigkeit und Empfindsamkeit eines Gentlemans aus, der nicht durch ein Erbe, sondern eigene Arbeit zu Wohlstand gekommen war.
Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal
Der Hass auf die Nazis verbindet
Der schmucke Mann heißt Erich Maria Remarque. Mit „Im Westen nichts Neues“ hat er einen Weltbestseller gelandet. Auch wenn er sich nicht als politischen Autor begreift und sich nicht engagiert, hasst er die Nazis und wird von diesen gehasst. Marlene Dietrich ist fasziniert von Männern, die etwas hermachen. Ihre Liste mit Liebhaberinnen und Liebhabern ist lang, aber mit Remarque verbindet sie mehr.
Es war ein anderes Deutschland, das dieser Mann verkörperte. Ein Deutschland der Großzügigkeit. Nicht des Größenwahns.
Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal
Eine Amour fou, die sich gewaschen hat
Was nun in diesem Jahr 1937 beginnt, ist eine Amour fou, die sich gewaschen hat. Der Autor und Journalist Thomas Hüetlin erzählt davon, als wäre er seinerzeit bei den Champagnerorgien oder den Schlafzimmergefechten dabei gewesen. Die Diva und der Intellektuelle sind beide getrieben. Billy Wilder attestierte Dietrich die „romantische Unreife einer 16-Jährigen“, die zuweilen „seelische Leberwurstbrote“ brauchte, wie sie selbst schrieb.
Weder Dietrich noch Remarque scheren sich um Konventionen, alles Bürgerliche ist ihnen ein Graus. Sie lieben und fetzen sich. Mal bekocht sie ihn mütterlich mit deftigem Gulasch, mal ignoriert sie seine Liebesbotschaften wochenlang. Marlene verschleißt einen Liebhaber nach dem nächsten, aber auch Remarque hält nichts von Monogamie. Untreue gebe es gar nicht, konstatiert er. Marlenes Ehemann Rudi kümmert sich um die Organisation der komplizierten Liebesarrangements der Schauspielerin; er ist meist mit von der Partie, wenn sie zwischen Amerika und Europa hin- und herreist und neue Intimitäten sich anbahnen.
Remarque, der am Hochstaplersyndrom leidet und zugleich selbstbewusst das Glamouröse sucht, zieht sich immer wieder ins Tessin zurück – um zu schreiben oder schmachtende Liebesbriefe nach Hollywood zu senden. Das kann alles nicht gut gehen. Tut es auch nicht. Leidenschaft und Beziehungsschlacht sind immer nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt.
Er nannte sie ein ‚ekelhaftes Biest‘, sie schimpfte ihn einen ‚Provinztölpel‘.
Quelle: Thomas Hüetlin – »Man lebt sein Leben nur einmal«
Ein lohnender Blick durchs Schlüsselloch
Die Geschichte dieses berühmten Liebespaares, das nach dem Krieg auch räumlichen Abstand voneinander nimmt, ist nicht unbekannt. Thomas Hüetlin erzählt sie anhand von Tagebucheinträgen und Briefen noch einmal neu und vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Nazideutschland. Der dräuende Krieg und der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Nachbarn – das alles bildet die Folie, auf der die beiden ihre dramatisch-amourösen Szenen aufführen.
Sie sind sich der politischen Umstände sehr bewusst – zugleich leben sie privilegiert in einem parallelen Kosmos, in dem das Ringen um Glück, die Schönheit der Melancholie und das Suhlen im Kummer mindestens ebenso viel Raum einnehmen wie die Verzweiflung über die Weltlage. Ob die Komposition des Buches – Hüetlin springt zwischen den Jahren und Schauplätzen munter hin und her – nicht nur originell, sondern zwingend ist, sei dahingestellt.
Manchmal meint es Hüetlin ein wenig zu gut mit seiner Innensicht. Wenn er auf der Bettkante Platz nimmt, geht auch schon mal der Schmonzetten-Autor mit ihm durch. Aber fesselnd ist die Lektüre zweifellos, man sieht schon die Verfilmung vor sich.

Oct 16, 2024 • 4min
Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi | Buchkritik
Bunt und schwungvoll gezeichnet nimmt „Die Adoption“ die Lesenden in Empfang. Zusammen mit den beiden Hauptfiguren Wajdi und seiner neuen Mutter Gaëlle betreten wir ein Haus mit großem Garten. Am Eingang der Junge aus dem Jemen, klein, dünn, immer Angst und Misstrauen im Blick. Drinnen die Mittelschichts-Familie, gut gekleidet, selbstsicher, geborgen in ihrem Idyll. Bilder und Dialoge verströmen die für franco-belgische Unterhaltungs-Comics typische Munterkeit.
Auch im zweiten Band ihrer Reihe über Auslandsadoptionen lassen der Autor Zidrou und der Zeichner Arno Monin Welten aufeinanderprallen. Diesmal sind die Farben blasser, die Linien etwas schärfer gezogen als im ersten Teil. Denn ihre Hauptfigur, der zehnjährige Wajdi, ist tief traumatisiert. Er hat seine Familie verloren und Tausende Kilometer Flucht hinter sich. Seine neuen Eltern Gaëlle und Romain wollen ihm Gutes tun. Und freuen sich über ein drittes Kind. Doch Wajdi bleibt auf Distanz. Was seine neue Mutter nur schwer erträgt.
Yusra: Und sonst ... Läuft alles gut? Hat sich Ihr Sohn schon ein bisschen eingewöhnt? Gaëlle: Mein S... Ach ja, Wajdi! (zögerlich:) Wie Sie sehen, hat er eine recht ausgeprägt Neigung, sein Revier zu markieren! Er ist mitunter etwas wild. Aber mit der Zeit wird sich das geben. Ich vermute, dass das Leben in den Flüchtlingslagern, wo er die letzten zwei Jahre verbracht hat, nicht immer leicht war.
Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi
Ein traumatisiertes Kind in einer Mittelschichts-Idylle
Wie einsam Wajdi sich fühlt, zeigen Autor und Zeichner in Szenen, die in der Nacht spielen, getaucht in kühles Blau. Wajdi ist schlaflos, er streift durchs Haus, während seine tote Mutter und seine Schwester als Geister durchs Fenster zu ihm hereinblicken. Oder er wälzt sich im Bett, eine winzige Gestalt im Panorama seines großen Zimmers.
Solche Bilder, die ohne Worte viel erzählen, wechseln sich ab mit Episoden aus Wajdis Alltag. Er wird neu eingekleidet, lernt das Umfeld der Familie kennen. Doch immer wieder zeigt die Normalität Brüche. Wajdi reagiert auf Verhalten, das für seine französische Umgebung zum Alltag gehört, mit Gewalt. Bis hin zur Eskalation, als er rassistisch beleidigt wird.
Es waren zwei Erwachsene nötig, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf diesen armen Jungen einschlägt. Das war keine Prügelei, (...), das war Krieg. (...) Wir haben diesen Jungen aufgenommen, wir schenken ihm ein Zuhause, wir schenken ihm all unsere Liebe ... und wie bedankt er sich dafür... ‚Er hat sein halbes Leben in der Hölle verbracht?‘ Tja, also seine Hölle hat er jetzt mit zu uns gebracht.
Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi
Hier klingt der zentrale Konflikt an. Gaëlle sieht sich in ihren Erwartungen ans harmonische Familienleben enttäuscht. Da erstaunt es nicht, dass sie ein paar Seiten später die Adoption rückgängig machen will. Zidrou und Monin entlarven ihre Zuwendung als Bedürfnis, sich selbst aufzuwerten. Die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf, als Wajdi aus seinem neuen Zuhause flieht.
Die Adoption als Versuch, sich selbst aufzuwerten
Spätestens hier entgleitet Autor und Zeichner ihre Geschichte. Sie erzählen von Fremdheit und den Erwartungen wohlhabender Europäer, von Alltags-Rassismus und gleich von mehreren Generationenkonflikten - immer im Bemühen, auch Momente von Komik und Rührung einzuflechten. Dabei bleiben die Bilder glatt und realistisch, nirgends findet sich eine optische Überraschung. Allein, dass Wajdi immer wieder seine tote Familie wie Figuren auf Porträt-Fotografien sieht, erinnert daran, was ein Comic mit nur einem Bild auszudrücken vermag.
Aber die Frage, ob oder wie es dem Jungen vielleicht gelingt, trotz seiner Wut und Trauer in die neue Familie hineinzufinden, gerät Autor und Zeichner aus dem Blick. Am Ende geht es vor allem um Gaëlle und ihre Suche nach Wajdi, um ihr Verständnis von Mutterschaft. So flüssig sich „Die Adoption“ liest und so sehr man sich für Wajdi ein Happy End wünscht - es ist etwas zu glücklich und kommt nach all den Konflikten zu schnell. Die vielen kleinen Herzen, die sich über das letzte Bild ziehen, decken zu, was noch lange nicht gelöst ist.


