

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Oct 27, 2024 • 4min
Schweigen erwünscht – „The Silent Book Club“ in Heidelberg
Immer mehr Menschen fällt es anscheinend schwer, sich längere Zeit auf ein Buch zu konzentrieren – ohne zwischendrin immer wieder aufs Handy zu schauen oder aufzuspringen, um etwas zu essen oder trinken zu holen. Deswegen gibt es jetzt weltweit immer mehr Angebote von Buchhandlungen und Bibliotheken, bei denen Menschen zusammenkommen, um - jede und jeder für sich - eine Stunde lang konzentriert zu lesen, ohne Ablenkungsmöglichkeit und danach miteinander ins Gespräch kommen können.
Leseclub in Heidelberg
Natürlich kommt dieser Trend aus den USA und nennt sich „Silent Book Club“. Auch in Heidelberg am Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) gibt es einen solchen Leseclub. Die Bibliothek des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Heidelberg hat hohe helle Räume mit Bücherregalen bis unter die Decke. Noch sind ein paar Kinder mit ihren Eltern da und einige Studierende, die sich noch schnell vor der Schließzeit ein paar Bücher ausleihen.
Aber heute gehen hier um 18 Uhr noch nicht die Lichter aus, sondern – wie jeden zweiten Donnerstag – treffen sich Lesebegeisterte zum „Silent Book Club“. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen schon in kleinen Grüppchen beisammen, andere stöbern noch in den Bücherregalen. Dann begrüßt Mitarbeiter Craig McSkimming alle Gäste: „So, welcome everybody to ,The Silent Book Club'!"
Nicht nur das Buch ist spannend, auch die anderen Leser*innen
An diesem Abend sind vier Männer und sechs Frauen gekommen, jüngere und ältere. Sie verteilen sich in dem großen Lesesaal. Manche machen es sich in den tiefen Ledersesseln bequem, andere setzen sich um die zwei großen Tische herum.
Die meisten haben sich ihre eigenen Bücher mitgebracht. Ich nutze die Gelegenheit und greife zu einem Buch des amerikanischen Politologen Yasha Mounk. Doch es dauert eine Weile, bis ich mich konzentrieren kann. Ich bin neugierig, versuche, einen Blick auf die Buchcover zu erhaschen, möchte sehen, was die anderen so lesen.
Und wie sie lesen: Hat die Frau neben mir etwa schon wieder eine Seite umgeblättert? Wie schnell liest sie denn! Rechts von mir schaltet eine jüngere Frau ihr E-Book an – eine andere Frau am Tisch steckt sich ihre Kopfhörer ins Ohr und lauscht ihrem Hörbuch.
Der DAI-Mitarbeiter Craig bringt ein paar Kekse und Salzstangen an die Tische – ansonsten ist es ruhig, nur der Straßenlärm dringt in die Bibliothek. Ich vertiefe mich in mein Buch. Die Stunde geht viel zu schnell rum. Craig bittet alle, sich um den einen großen Tisch zu versammeln, er bringt Wein und Käse. Wer möchte, kann jetzt sein Buch vorstellen und seine Meinung dazu äußern.
Nach dem Lesen wird geplaudert
Nicht alle wollen gleich mitreden, aber am Schluss haben doch alle ihr Buch vorgestellt – die Bandbreite ist groß: ein Sachbuch zur eigenen Fortbildung, der Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises, weil überall darüber gesprochen wird und ein eher leichtes, lustiges Buch, was man im Urlaub nicht fertig lesen konnte.
Manche lesen auf englisch, andere auf deutsch. Und auch bei der anschließenden Gesprächsrunde spricht jeder in der Sprache seiner Wahl.
Immer wieder fragen Teilnehmer*innen nochmal nach einem Titel oder Autor – der „Silent Book Club“ ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich Lektüre-Anregungen zu holen. Aus dem „Stillen Lese“-Kreis ist eine muntere Gesprächsrunde geworden.
Ein Treffpunkt auch für schüchterne Lesende
Seit dem Frühjahr gibt es am DAI in HD den „Silent Book Club“. Bibliotheksmitarbeiterin Ingrid Stolz war am Anfang eher skeptisch als sie von diesem neuen Trend aus den USA gehört hat: „Ich fand es am Anfang gar nicht interessant. Ich habe gar nicht eingesehen, warum man sich treffen sollte, um sein eigenes Buch zu lesen. Aber wir hatten dann eine Praktikantin, die sehr schüchtern war, und die sagte: ,Doch, das ist für die Schüchternen Leute und nicht jeder möchte im Book Club so viel reden und das ist in den USA der ganz große Hype!' Und dann hab ich gedacht, wir probieren es mal aus und das wird gut angenommen. Und es kommen ganz neue Leute, die sonst nicht unbedingt zu den anderen Sachen kommen."
Inzwischen hat sich ein harter Kern aus Literaturbegeisterten gebildet, der regelmäßig teilnimmt. Aber es kommen auch immer wieder neue Interessierte dazu, wie Monika, die schon nach einem Abend ein echter Fan des „Silent Book Clubs“ geworden ist:
„Ich fand’s super und der erste Gedanke war, endlich eine Stunde ungestört lesen. Ich merk einfach selber, dass ich mich zuhause oft schwer tute, nicht dann irgendwohin zu gucken, den Tee zu machen. Es ist vor allem interessant, was andere Menschen lesen, wie man sich wieder verbindet, wer welche Bücher kennt, die na mir völlig vorbeigegangen sind. Ich werde gern wiederkommen."

Oct 27, 2024 • 2min
Georg Trakl – Dichtungen und Briefe
Mein Name ist Frank Hertweck, ich bin Leiter der Literatur im SWR. Und das Buch, das ich zur Lektüre, genauer zum Wiederlesen mitgebracht habe, sind die Dichtungen und Briefe von Georg Trakl. Wiederlesen, weil sicher die meisten im Deutschunterricht der Schule Georg Trakl gelesen haben, eben und vor allem seine Herbstgedichte.
„Gewaltig endet so das Jahr“ heißt es im berühmtesten: Verklärter Herbst“. Trakl ist neben Rainer Maria Rilke sozusagen DER Herbstdichter. Bei ihm ist das, was den Herbst auszeichnet, der langsame Übergang, das Ineinanderfließen der Farben, das Nebulöse, nicht ganz scharf gezeichnete, immer mehr zum Prinzip seiner Dichtung geworden, weil er die Farben und Dinge so kombiniert, dass einem die Wirklichkeit entgleitet.
Inwieweit seine Drogenabhängigkeit, die regelmäßige Einnahme von Opium, Veronal, Kokain, er betäubte sich mit Chloroform, alles Drogen oder Medikamente, an die der ausgebildete Apotheker leicht herankam, damit zusammenhängen, lässt sich schwer bestimmen.
Eines ist sicher: Der Herbst ist in seinem lyrischen Schaffen gar keine Jahreszeit, sondern eine Lebenshaltung. Kurz: Es kann auch in seinem Sommer herbsteln. Diese Gedichte zu lesen und wieder zu lesen, dafür bieten sich die dunklen Abende an. Um auf Zeilen zu treffen wie:
Leise verfallen die Lüfte am einsamen Hügel, Die kahlen Mauern des herbstlichen Hains.Unter DornenbogenO mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.
Quelle: Georg Trakl – Dichtungen und Briefe

Oct 27, 2024 • 2min
Colm Tóibín – Der Zauberer
Ich bin Anja Brockert, und auf meinem Herbst-Stapel liegt „Der Zauberer“ vom Colm Tóibín. Der irische Autor erzählt das Leben von Thomas Mann als Roman, schon vor drei Jahren erschienen, jetzt werde ich es zur Einstimmung ins Thomas-Mann-Jahr lesen: 2025 wird ja der 150. Geburtstag des „Zauberers“ gefeiert.
So wurde Thomas Mann bekanntlich von seinen Kindern genannt, Zauberer, und Tóibín erzählt natürlich von der ganzen Familie Mann, vor allem aber von der Zerrissenheit des Schriftstellers, zwischen künstlerischer Arbeit und Bürgerlichkeit, zwischen Familie und homosexuellem Begehren.
Ein „großartiger Künstlerroman“, heißt es im Klappentext, manche von Ihnen haben das Buch vielleicht schon gelesen, falls nicht, das sind die ersten 3 Sätze:
Seine Mutter wartete oben, während die Dienstboten den Gästen Mäntel, Shawls und Hüten abnahmen. Bis alle in den Salon geleitet worden waren, blieb Julia Mann in ihrem Zimmer. Thomas und sein älterer Bruder Heinrich und ihre Schwestern Lulu und Carlo sahen vom ersten Treppenabsatz aus zu.
Quelle: Colm Toíbín – Der Zauberer
Da sind wir doch gleich mittendrin im Ambiente der wohlhabenden Lübecker Kaufmannsfamilie, in der Thomas Mann Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen ist, und winken nicht auch leise die „Buddenbrooks“ im Hintergrund?
Am Ende des Romans steht Thomas Mann wieder vor dem Lübecker Haus, das ist jetzt vernagelt. Über das ganze „Dazwischen“ – wie Thomas Mann zum legendären Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger wurde, seine Ehe mit Katia, das Exil, was ihn geprägt, geplagt und auch politisch bewegt hat, das wird mir Colm Tóibín in seinem Roman „Der Zauberer“ noch einmal erzählen, auf seine besondere, einfühlsame Weise. Hoffe ich.

Oct 27, 2024 • 2min
Liz Nugent – Seltsame Sally Diamond
Mysteriöse Kriminalgeschichten und geheimnisvolle Charaktere gehören für Katrin Ackermann genauso zu einem gelungenen Herbst wie Pumpkin Spice und die „Gilmore Girls“. Auf ihrem Stapel ungelesener Bücher liegt passenderweise der Psychothriller „Seltsame Sally Diamond“ der irischen Autorin Liz Nugent.
Psychothriller mit kurioser Hauptfigur
Seltsam – wie der Titel es vorhersagt – soll die Hauptfigur Sally deshalb sein, weil sie ihre Gefühle schlecht zum Ausdruck bringen kann, Ironie nicht versteht und in zwischenmenschlichen Situationen oft überfragt ist. Ihre kuriose Art hängt sicher auch mit ihrer Vergangenheit zusammen. Denn Sallys Vater war ein Kidnapper, der ihre Mutter entführte und in einem Versteck gefangen hielt, in dem Sally auch geboren wurde und die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte.
„Entsorg mich mit dem Müll!“
Jahrzehnte später wird sie verdächtigt, ihren Stiefvater ermordet zu haben. Kurz vor seinem Tod hatte er ihr gesagt: „Entsorg mich mit dem Müll“. Dem geht Sally schließlich nach. Plötzlich interessieren sich jede Menge Menschen für sie – nicht nur die Polizei und die Medien, sondern auch ein mysteriöser fremder Mann, der Sally gut zu kennen scheint.
Für Katrin Ackermann klingt das nach einer fesselnden und geheimnisvollen Geschichte mit einer spannenden Protagonistin. Die „Gilmore Girls“ müssen warten, zuerst geht es mit der Lektüre von „Seltsame Sally Diamond“ von Liz Nugent weiter.

Oct 27, 2024 • 2min
Thomas Mann – Doktor Faustus
Rund um Thomas Mann gibt es derzeit viele Jubiläen: „Der Zauberberg“, sein wohl bedeutendster Roman, ist vor exakt 100 Jahren erschienen. Und am 6. Juni 2025 gilt es dann, den 150. Geburtstag des Zauberers und Literatur-Nobelpreisträgers zu feiern.
Ich muss gleich zwei Geständnisse machen. Erstens: Ich habe die klassische bundesdeutsche Thomas-Mann-Bildungskarriere durchlaufen. Mein Deutschlehrer verehrte Thomas Mann und ließ uns, Lehrplan hin oder her, sämtliche Erzählungen lesen.
Und an der Universität geriet ich dann an den im Februar verstorbenen Germanisten Hermann Kurzke. Zwei enthusiastische Mann-Leser und Lehrer, deren Begeisterung auf mich abgefärbt hat. Geständnis Nummer zwei: Am „Doktor Faustus“ bin ich krachend gescheitert.
Manns 1947 publizierter Roman über den Tonsetzer Adrian Leverkühn hat mich von jeher abgestoßen, von den ersten Zeilen an. Der komplizierte Satzbau, dieses hochtrabende Anheben, all die „Bewandtnisse“ und „Gegenwärtigungen“, der schwere deutsche Stoff – all das erschien mir fast wie eine unfreiwillige Selbstparodie eines großen Autors, ähnlich wie Thomas Bernhards letzter, vollkommen überschätzter Roman „Auslöschung“.
Jetzt versuche ich es noch einmal mit dem „Doktor Faustus“: Der Audio Verlag hat Gert Westphals Lesungen der großen Romane Thomas Manns in einer Jubiläumsausgabe auf den Markt gebracht.
Entstanden sind die Aufnahmen zwischen 1963 und 1993. Westphals intime Textkenntnis und sein feines Gespür für das Timing werden mir diesen Text nun endlich aufschließen. Hoffentlich.
So werde ich in den Herbst und durch den Winter gehen, beim Autofahren, Geschirrspülen und im Fitness-Studio: Mit Gert Westphals Stimme im Ohr.

Oct 27, 2024 • 2min
Erica Jong – Angst vorm Fliegen
Das ändert sich mit der neuen Übersetzung im Ecco Verlag, die SWR Kulturredakteurin Kristine Harthauer durch die kalten Herbstwochen tragen wird.

Oct 27, 2024 • 5min
Liv Strömquist – Das Orakel spricht
Scrollen Sie mal einen Tag durch Instagram oder TikTok! Oder stöbern Sie in dieser einen Ecke der Buchhandlung mit den bunten Covern und den markigen Sätzen, sie kennen sie sicher. Sie werden glücklich sein. Denn offensichtlich ist alles möglich.
Ob das nun Erfolg im Beruf ist, der Traumpartner oder ein langes, gesundes Leben inklusive Marathon mit 87. Mit diesen zwölf Schritten, jenen neun Lebensmitteln – Stichwort Kurkuma! – oder mit ein bisschen Selbstdisziplin, natürlich. Übrigens, klicken Sie mal auf diesen Link, da sind die entsprechenden Tipps zu kaufen. Zum Sonderangebot!
Die Comicautorin Liv Strömquist ist fasziniert von dieser Kultur der Selbstoptimierung. Strömquist meint im Gespräch:
Diese Kultur gibt es schon lange, aber über die letzten Jahre hat sie mehr und mehr Leute erreicht, ist immer mehr zum Mainstream geworden. Und jetzt scheint irgendwie jeder in diese Art zu Denken verwickelt zu sein.
Quelle: Liv Strömquist im SWR Kultur lesenswert Magazin
Kein Drehbuch mehr fürs Leben
In ihrem neuen Comicband „Das Orakel spricht“ geht Liv Strömquist auf knapp 250 Seiten vielen Beispielen nach. Zum Beispiel den Fitness-Tracker, die den Schlaf, das Cholesterin und den Blutdruck messen – und uns damit vorgaukeln, mit den richtigen Werten wären wir unsterblich.
Oder den frauenfeindlichen Influencern der Manosphere, die überzeugt sind, ihre Alpha-Männer-Techniken würden sie unverletzlich in der Liebe machen. All die Dinge also, die uns glauben lassen, Leid, Tod und Schmerzen ließen sich mit ein bisschen Anstrengung und Planung aus dem Leben verbannen. Willkommen in der Postmoderne!
Liv Strömquist sagt: „Die Zeit, in der wir leben, ist eine, die dem Ich viel abverlangt, denn das Ich muss ständig Entscheidungen treffen und die besten Entscheidungen treffen: Wer bin ich? Bin ich glücklich? Gibt es vielleicht etwas anderes, das mich glücklicher macht? Man hat nicht mehr wirklich ein Drehbuch dafür, wie man sein Leben leben soll. Deshalb die ständige Selbstbeobachtung, und das ist etwas, das wir viel mehr tun muss als frühere Generationen."
Doch „Das Orakel spricht“ wäre kein typischer Liv Strömquist-Comic, wenn er bei der Diagnose stehenbliebe. Auf der Suche nach Antworten rührt Strömquist in sieben Kapiteln alle möglichen Ansätze zusammen. Philosophinnen wie Eva Illouz kommen zu Wort oder Soziologen wie Hartmut Rosa.
Aber Strömquist greift auch auf die heilige Katharina von Siena, den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan oder antike Mythen zurück. Wer auch immer etwas zum Thema zu sagen hat. So sagt Strömquist: „Ich arbeite sehr intuitiv, das habe ich schon immer so gemacht. Wenn ich das Gefühl habe: ,Oh mein Gott, das ist so interessant', dann qualifiziert das eine Theorie dafür, in das Buch aufgenommen zu werden. Es muss also etwas Unerwartetes sein. Etwas, das mich aufregt und glücklich macht."
Der Ratschlag wird zur Ware
Wie eben das titelgebende Orakel von Delphi, für die Autorin die Urmutter aller Ratgeber und Influencer. Das Orakel war, soweit lässt sich archäologisch belegen, wohl berauscht von den giftigen Dämpfen aus einer Erdspalte, über der sein Tempel gebaut war.
Strömquist meint: „Das Orakel von Delphi antwortete in einer Art Rätsel, denn es war high. Also sagte sie etwas, das sehr offen für Interpretationen war. Und das kann besser sein als ein Rat, der sehr konkret ist, der ist autoritärer. Die Person, die ihn bekommt, hat nicht viel Spielraum, für ihre eigene Perspektive, also den Rat so umzusetzen, wie es für sie Sinn macht.
Im Ratgeber kreuzen sich bei Strömquist postmoderne Steuerungs-Fantasien und kapitalistische Verwertungslogik. Der Selfhelp-Guru ist die Figur der Stunde, ob es dabei um den richtigen Schlaf, die beste Ernährung oder Erziehung oder das Liebesleben geht. Die vermeintlichen Aufstiegsgeschichten der Gurus sind ihre Ware. Und gleichzeitig, so seziert Strömquist, die moralische Legitimation für den eigenen Reichtum, die eigenen Privilegien.
Denn dass die Welt möglicherweise ungerecht, planlos, willkürlich sein könnte – diesem Horror müssen wir mit Anstrengung und Leistung begegnen. Etwas, von dem Liv Strömquist wundersamerweise verschont geblieben zu sein scheint: „Den Menschen wird oft gesagt, sie sollten sich Ziele setzen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht ein Ziel gehabt. Ich hatte nie das Ziel, Comiczeichnerin oder so etwas zu werden.
Kreativität als Ausbruch
Strömquist unterwandert mit ihren bunten Panels jeden Anspruch auf Wahrheit oder Autorität, den ihre Figuren vermarkten. Text und Bild sind lustvoll skeptisch gegenüber dem, was sie zeigen. Dabei sei sie keine begnadete Zeichnerin, gibt Strömquist unumwunden zu. Auch diese Geschichte erzählt sie mit zweidimensionalen, flächigen Panels, ihrem Stil bleibt sie treu.
Form und Inhalt aber passen in „Das Orakel spricht“ besser zusammen als in ihren anderen Büchern. Nicht perfekt geführt, nicht geradlinig, sondern mäandernd bewegt man sich als Leserin durch den Comic. Und nimmt damit gleichzeitig am kreativen Prozess der Autorin teil – immerhin Widerstand im Kleinen.
Es ist eher wie ein Spaziergang im Wald, bei dem man etwas findet und dann wieder etwas anderes, bei dem man etwas Schönes sieht und versucht, eine gewisse Stimmung zu erzeugen.
Quelle: Liv Strömquist

Oct 27, 2024 • 55min
Bye, bye Lolita – Hello Venus!
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Neue Bücher von Liv Strömquist und Jovana Reisinger, einem Abgesang auf „Lolita“ und dem „Silent Reading“-Lesetrend

Oct 24, 2024 • 4min
Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur | Buchkritik
Mit was sich so alles Zeit verschwenden lässt! Man kann als Alt-Hippie angenehm bekifft und bowlend die Tage vergammeln, in einen Morgenrock gehüllt tagein tagaus auf dem Sofa bzw. Bett liegen oder sieben Jahre lang in einem Schweizer Sanatorium einen ominösen Katarrh pflegen.
Sie haben die Zeittotschläger, von denen hier die Rede ist, möglicherweise schon erkannt. Es handelt sich bei allen um fiktive Figuren aus dem Film und der Literatur – um den „Big Lebowski“ gespielt von Jeff Bridges, um Ivan Gontscharows bettlägerigen Helden „Oblomow“ und um Hans Castorp, der erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs wieder von Thomas Manns „Zauberberg“ heruntersteigt.
Anhand dieser und ein paar Figuren mehr führt uns die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen durch das weite Themenfeld der „Zeitverschwendung“.
(…) was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist.
Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur
„Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur“ lautet der Untertitel ihres umfangreichen Buches, das seinem Gegenstand mit detailgetreuen Nacherzählungen, genauen Analysen und theoretischem Überbau auf den Grund geht.
Jedem Film und jedem Buch, jedem exemplarischen Gammler, jedem erbärmlich Wartenden und haltlosen Drifter stellt sie nämlich einen Theoretiker zur Seite, der nicht nur die jeweilige Figur erläutern helfen soll, sondern auch die spezifischen soziologischen und philosophischen Hintergründe, vor denen sich überhaupt von Zeitverschwendung sprechen lässt.
Die Königin als It-Girl
Um die Komplexität noch ein bisschen zu steigern, betrachtet sie manche Phänomene über Bande: So handelt das Anfangskapitel über Marie Antoinette und die aufwändigen Zeremonien am Hof Ludwigs XVI. nicht von der historischen Tochter Maria Theresias, sondern von jener Pop-Figur, die Sofia Coppola nach dem Vorbild der It-Girls der 2000er Jahre in ihrem Film über die Königin erschaffen hat.
Zu ergründen versucht sie diese mit Norbert Elias‘ Studien zur höfischen Gesellschaft – was fast automatisch überleitet zu ihrem zweiten Gewährsmann, nämlich Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Kultroman „American Psycho“.
Dieser Prototyp eines Yuppies und maßlosen Konsumenten, in dessen rauschhaften Killerfantasien die hyperkapitalistische Ideologie zu sich kommt und der nur noch so tut, als gehe er einer Arbeit nach, wird mit Pierre Bourdieus soziologischem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ als Lupe gelesen.
Zeit entschlüsseln
Vom Vergehen der Zeit und von wechselndem Zeitempfinden zu sprechen, braucht ebenfalls Zeit. Es geht immer auch um Verschiebungen in der Bewertung gesellschaftlicher Aufgaben und Verpflichtungen, um Fortschritt und Beharrung, politischen Aufbruch und Stillstand.
Dabei schweift Krützen immer wieder zu anderen Kunstwerken und sogenannten „Verbindungsfiguren“ ab, um auf eine wesentliche Erkenntnis dieses Buches zusteuern zu können:
Es gibt keine Zeitverschwendung; man kann Zeit lediglich als verschwendet bewerten.
Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur
Ein Mammutwerk, mit dem sich Zeit gewinnbringend verschwenden lässt
Krützens Mammutwerk, mit dem sich Zeit ziemlich gewinnbringend verschwenden lässt, muss übrigens nicht chronologisch gelesen werden. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der Zeitverschwendung oder einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Perspektive darauf; man kann nach Interesse hin- und herspringen.
Ganz in die Gegenwart allerdings wagt sich Krützen nicht vor: Für die unmittelbare Erfahrung einer neuen digitalen Weltordnung von Social Media bis KI fehlen noch wirklich repräsentative Figuren in Literatur und Film.
Möglicherweise aber ist gerade irgendwo eine Autorin oder ein Drehbuchschreiber dabei, eine solche Figur zu erschaffen. Zeitverschwendung hört niemals auf.

Oct 23, 2024 • 4min
Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin | Buchkritik
Plautilla Bricci wurde 1616 in Rom in die Familie eines autodidaktischen Künstlers hineingeboren, der sie in Zeichnen und Malen unterwies und später die Akademie eines berühmten Malers besuchen ließ – zu der Zeit ein seltenes Privileg für eine Frau.
Dass diese Künstlertochter dann nicht nur als Malerin tätig wurde, sondern auch eine Villa und eine Kapelle entwerfen und realisieren durfte, war hingegen unerhört: Plautilla Bricci war die erste Architektin Europas, womöglich die erste der Welt.
Ich war glücklich. Ich dachte, den Höhepunkt meines Lebens erreicht zu haben. Nie hätte ich etwas Derartiges zu hoffen gewagt. Wie auch? Keine Frau vor mir hatte je ein derartiges Gebäude ersonnen. Ich weiß nicht einmal, ob eine Frau jemals gewagt hatte, davon zu träumen.
Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin
… sinniert die Romanheldin beim feierlichen Spatenstich der Villa, die sie im Auftrag des Abtes Elpidio Benedetti entworfen hatte. Dass dieser später behaupten wird, die Villa sei ein Werk von Plautillas Bruder gewesen, konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht ahnen.
Im Roman figuriert Elpidio auch als ihr heimlicher Geliebter und macht dabei eine ziemlich schäbige Figur. Aber nicht nur von ihm wird die Künstlerin zurückgesetzt, weil sie eine Frau ist.
Der Fluch der Herkunft und des Frauseins
Mit welchen Entbehrungen, Rückschlägen und Demütigungen die Laufbahn der realen Plautilla Bricci verbunden war – das können wird uns nur vorstellen. Genau diese Grauzone zwischen Einbildung und Wahrscheinlichkeit lotet Melania Mazzucco aus – offenbar auch auf der Grundlage eingehender Studien über die römische Gesellschaft im 17. Jahrhundert.
Ihre Plautilla ist schon als Kind ein zartfühlendes und neugieriges Wesen, das die Welt um sich genau beäugt. Als sie einmal der Aufsicht der Eltern entkommt und sich in den Gassen Roms verirrt, stellt sie fest:
Bei jedem Schritt laufe ich Gefahr, dass mich eine Kutsche überfährt und mich plattdrückt wie eine Pizza. Denn ich stehe mit offenem Mund da und bestaune die Kutschen. Nur wer eine Kutsche besitzt, ist in Rom wer. Ich habe noch nie in einer gesessen, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, von oben herab die Straße zu betrachten und die Armen, die zu Fuß gehen. Vielleicht gerade so, wie wenn ich die Ameisen betrachte, die am Boden in Reih und Glied marschieren.
Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin
Ihr Lebtag lang wird Plautilla unter einer doppelten Ungerechtigkeit leiden: jener der niederen Herkunft und jener des Frauseins in einer Welt, die für Frauen nur die Rollen der Gebärerin oder der Nonne vorsieht.
Für die Männer, die ihre Zuneigung erwecken, kommt sie als Braut nicht infrage, weil sie keine Mitgift zu bieten hat. Zugleich scheint ihre künstlerische Berufung ein Eheleben auszuschließen.
So umweht diese Romanheldin eine zutiefst melancholische Aura: Ihre Zeit verdammt sie dazu, weder ihre Ambitionen noch ihr Gefühlsleben vollends zu verwirklichen.
Eine Hommage an das barocke Rom
Dennoch: Was wäre Rom ohne jenes Jahrhundert? Ohne Bernini, Borromini und all die anderen Künstler, in deren Umfeld Plautilla Bricci lebte und wirkte? Dieser Umstand gibt der Autorin Gelegenheit, Seitenblicke auf das Leben jener Meister zu werfen, auf den Alltag in Werkstätten, wo Kunstwerke für die Ewigkeit entstanden, auf höfische Intrigen und päpstliche Launen, von denen Aufstieg und Fall eines jeden Künstlers abhingen.
So erschafft sie aus Worten ein vielschichtiges, farbenfrohes Gemälde: eine Hommage an den Barock, seine Genies und an Rom, dessen Schönheit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihr Werk ist.


