

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Nov 3, 2024 • 15min
Eva-Maria Leuenberger: die spinne | Diskussion
Ein Ich in einem abgeschlossenen Zimmer, das an die Decke starrt und dort eine Spinne erblickt, die zur Beobachterin und Begleiterin wird. Ein Szenario, das zunehmend dystopisch wird. Und ein Ich, dessen Position kunstvoll in der Schwebe bleibt.

Oct 31, 2024 • 4min
Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten
„Die Achse der Autokraten“: Das weckt Assoziationen an die Achsenmächte des Zweiten Weltkrieges, die nicht nur militärisch kooperierten, sondern durch eine faschistische Ideologie verbunden waren. Demgegenüber sind die Bündnisse, die heute die Autokratien von Russland, China, Iran, Nordkorea, Syrien usw. miteinander eingehen, schreibt Applebaum, rein pragmatischer Natur: Vereint seien sie in ihrem gemeinsamen Widerstand gegen die westlich-liberale Weltordnung.
Kooperation: Ideologische Unterschiede sind kein Hindernis
Ideologische Unterschiede etwa zwischen dem iranischen Mullah-System, der Diktatur Putins und dem kommunistischen Nordkorea hielten die autokratischen Länder nicht davon ab, miteinander militärisch und politisch zu kooperieren.
Vereint im Hass auf die Demokratie
Verbindend sei ihr „Hass auf die Demokratie“, die Verachtung des Völkerrechts und die Bereitschaft, skrupellos Gewalt einzusetzen, um sich an der Macht zu halten. Besser als der Begriff der „Achse“ passt Applebaums Beschreibung der neuen globalen Bündnisse als internationale „Netzwerke“, die sich im Interesse kleptokratischer Bereicherung und geopolitischer Machtausübung gegenseitig stützen.
Unaufhaltsamer Siegeszug der liberalen Demokratien
Aber wie kam es zu diesen autokratischen Netzwerken? Applebaum macht dafür die westlichen Länder selbst mitverantwortlich, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Weltordnung des Kalten Krieges nicht nur der Illusion vom „Ende der Geschichte“, das heißt dem unaufhaltsamen Siegeszug der liberalen Demokratien anhingen. Darüber hinaus ermöglichte das neoliberale Wirtschaftssystem den Autokratien, ihre krummen Geschäfte im globalen Maßstab abzuwickeln:
Dank der Globalisierung der Finanzwelt, der Vielfalt an Geldverstecken und der gütigen Duldung ausländischer Gaunereien durch Demokratien eröffnen sich Autokratien heute Möglichkeiten, von denen sie vor einigen Jahrzehnten nicht zu träumen gewagt hätten.
Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten
Weit verzweigte Netzwerke internationaler Autokratien
Anne Applebaum belegt diese Diagnose mit einer Vielzahl von Beispielen, indem sie etwa beschreibt, wie russische Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken und einem System von Briefkastenfirmen ihren gestohlenen Reichtum sicherten. Oder indem sie zeigt, wie die korrupte Elite Venezuelas die Gewinne aus der Ölwirtschaft in ihre eigenen Taschen leitete, dabei tatkräftig gefördert nicht nur durch die westliche Finanzindustrie, sondern durch andere autokratische Länder wie zum Beispiel Iran oder Russland, eben jener internationalen Netzwerke, die die regelbasierte Weltordnung untergraben.
Was sie verbindet, sind das Erdöl, der Antiamerikanismus, die Unterdrückung ihrer Demokratiebewegungen und die Notwendigkeit, Sanktionen zu umgehen.
Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten
Detailliert schildert Applebaum den hierzulande wenig bekannten Fall von Simbabwe, dessen despotisches Regime sich mit Hilfe russischer Kampfjets und chinesischer Überwachungstechnologie an der Macht hält und sich dafür revanchiert, indem es seinen Helfershelfern Schürfrechte an Bodenschätzen und diplomatische Unterstützung zum Beispiel für Russlands Krieg gegen die Ukraine gewährt. Auch der Kooperation der Autokratien bei der Herstellung und Verbreitung von antidemokratischer Propaganda und Fakenews widmet Applebaum ein ganzes Kapitel ihres fesselnden Buchs.
Mahnung an Deutschland: Keine Geschäfte mit Autokratien!
Ihre Darstellung überzeugt dabei immer durch die Verbindung von Analyse und Anschaulichkeit. Ihre engagierte Beschreibung der neuen Weltunordnung, in der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte durch die Netzwerke der Autokratien zerstört zu werden drohen, führt zur nachvollziehbaren Forderung nach einer „internationalen Allianz“ demokratischer Staaten und einem „internationalen Antikorruptionsbündnis“, das durch entschiedene Gesetzgebung die „Transparenz des Finanzwesens“ wiederherstellen soll.
Staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen sollen außerdem die Verbreitung von Propaganda und Fakenews durch die Regulierung sozialer Medien verhindern. Ob all diese nicht-militärischen Maßnahmen ausreichen, um die freiheitliche Weltordnung erfolgreich gegen den Angriff der Autokratien zu verteidigen, bleibt eine offene Frage.

Oct 30, 2024 • 4min
Volker Kitz – Alte Eltern | Buchkritik
Volker Kitz hat ein wichtiges Buch geschrieben über eine Frage, der wir uns erst stellen, wenn wir durch die Umstände dazu gezwungen werden: Was sollen wir tun, wenn unsere Eltern nicht mehr für sich selbst sorgen können? Sein Vater ist Ende siebzig, als er eines Tages nicht begreift, wie man einen Schlüssel im Schloss dreht und eine Kaffeemaschine bedient. Die Diagnose „Demenz“ stellt die beiden Söhne vor eine Herausforderung.
Wie löse ich mich von der Illusion des Immer-weiter-so? Welche Zeichen muss ich erkennen, welche Entscheidungen darf ich treffen? Welche muss ich treffen, gegen Vaters Willen? Wie behalte ich Zugang zu ihm, teile Schmerz, Freude, pendle in seine Welt – ohne meine verdorren zu lassen?
Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern
Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert?
Volker Kitz versucht zunächst, einen rationalen Zugang zu der schwer begreiflichen Veränderung des Vaters zu finden. Besessen sucht er medizinische, soziologische und psychologische Erklärungen. Er fragt sich: Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert?
Der Vater bekommt bei einer Fußball-Reportage leuchtende Augen, die Familienbilder aber sagen ihm nichts. Die Gedächtnisforschung hat herausgefunden, dass wir nur acht bis zehn Tage eines Jahres im Gedächtnis behalten. Die unzähligen einander ähnlichen Erlebnisse, die keine Emotionen hervorrufen, werden aussortiert. Volker Kitz findet und zitiert eine Menge Literatur über Erinnern und Vergessen, was ihm selbst aber nicht hilft.
Ich hatte geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Ich hatte Zeit eingeplant, um mich um meinen Vater zu kümmern. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren die Schwernisse, die der bloße Anblick der Veränderungen mit sich brachte. Es ist nicht so, dass ich zuvor nie verzweifelt gewesen wäre. Doch eine so anhaltende, sich steigernde Verzweiflung kannte ich nicht.
Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern
Der Vergleich zum Vorher macht die Dinge unerträglich
Als das Leben alleine im Haus für den Vater unmöglich wird, findet Volker für ihn in Berlin in der Nähe seiner eigenen Wohnung ein Pflegeheim. Zwischen den beiden besteht eine große Verbundenheit, aber das wird jetzt zum Problem: Der Sohn kann das Irreversible der Krankheit nicht akzeptieren. Im Heim kontrolliert er die Pflegerinnen, zählt die Tabletten nach, lässt sich Protokolle der sozialen Aktivitäten des Vaters ausdrucken. Unter allen Umständen will er zurück ins Altvertraute. Irgendwann jedoch begreift er: „Es ist der Vergleich zum Vorher, der die Dinge unerträglich macht.“
Volker Kitz ist Jahrgang 1975 und hat mit seinem Buch das Problem einer ganzen Generation beschrieben. Er zitiert Prognosen, nach denen sich mit steigender Lebenserwartung die Zahl der an Demenz Erkrankten alle zwanzig Jahre verdoppelt und fragt sich, ob auch er eines Tages dazugehören wird.
Demenz der Eltern nimmt auch den Kindern viel Selbstbestimmung
Wir, die Kinder, machen scharenweise ähnliche Erfahrungen, während unsere Eltern alt werden: Zeichen erkennen, deuten, sich eingestehen. Konsequenzen aushandeln. Sie betreffen nicht nur die Eltern, sondern auch uns, im Kern unserer Lebensgestaltung. Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich schien.
Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern
Volker Kitz hat mit dem Schreiben begonnen, als der Vater noch lebte. Es sind die persönlichen und unmittelbaren Beschreibungen des Alltags mit einem dementen Vater, die das Buch so wertvoll machen. Gerade weil Volker Kitz keine Lösung kennt und keine Ratschläge anzubieten hat, dürfte dieses Buch für viele Menschen ein Begleiter werden in einer Situation, auf die man sich emotional nicht vorbereiten kann.

Oct 29, 2024 • 4min
Tine Melzer – Do Re Mi Fa So
Der Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Leben ist in diesem Fall ein Einstieg. Eine hübsche Idee ist es auch, die Badewanne, in die man gestiegen ist, einfach nicht mehr zu verlassen. Doch das ist auch schon fast alles in Tine Melzers zweitem Roman „Do Re Mi Fa So“. Der Ausgangsidee folgt nur noch Gerede.
Der Opernsänger Sebastian Saum – was wohl von säumig kommt – hat sich zwar noch die Mühe gemacht, die Wanne nach dem Bad trocken zu reiben, um sie mit Kissen und Decken auszustatten. Aber dann bleibt er liegen und hat nun sehr viel Zeit zu räsonieren, sechzehn Kapitel lang, die in ermüdender Regelmäßigkeit mit dem morgendlichen Erwachen beginnen. Wehleidig ist dieser neuzeitliche Oblomow auch, wenn er über sich sagt:
Womöglich habe ich mich selbst in der Ruhestand versetzt. Aber gerade jetzt mag ich nicht das Richtige tun. Deshalb bin ich ja hier.
Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So
Von Socken und Langeweile
Dann kommt der Pianist Franz mit dem Frühstück. Franz wohnt eine Etage tiefer, hat dort ein eigenes Bad und offenbar sehr viel Geduld mit der enervierenden Person in der Wanne. Die beiden sind so etwas wie eine schwules Paar, allerdings ohne Liebe und ohne Sex, was ja eigentlich, wenn schon Badewanne, nahe läge. Stattdessen denkt Sebastian ausdauernd über Kleiderfragen nach, welche Hemden in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, welche Stiefel er wann trug und welche Socken im Schlafzimmer über der Stuhllehne hängen.
All das ist von Herzen uninteressant. Es wird auch in den Passagen nicht fesselnder, in denen Sebastian sich an den Tod seiner Mutter erinnert und über seltsame Worte wie „Beisetzung“ nachdenkt. Immerhin gelingt ihm eine brauchbare Definition der Langeweile, unter der er leidet, und die Tine Melzer geradezu schmerzhaft spürbar werden lässt:
Ich stelle nichts her außer Zeit und lasse die Stunden über mich ergehen, weil ich es kann.
Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So
Überfülle an Metaphern
Genauso verhält es sich auch mit diesem Roman. Tine Melzer schreibt ihn, weil sie es kann. Allerdings fragt man sich beim Lesen, warum dieser eher lethargische Mann, der doch eigentlich Abstand von allen Verpflichtungen nehmen wollte, unentwegt redet und wem er das alles erzählt.
Das Buch ist in der Ich-Form und im Präsens gehalten, so dass es so klingt, als spräche er aus der Wanne in ein Diktafon. Präsens und Ich-Form, das sollte man eigentlich im Schreibkurs lernen, geht niemals gut, weil man nicht während des Lebensvollzugs mitschreiben kann. Doch das ist nicht das einzige Problem dieser Prosabemühung. Melzer neigt zu einer Überfülle an Metaphern und Wie-Vergleichen, die nie ganz stimmig sind. So heißt es beispielsweise:
Ziellos wie Zugvögel ohne Magnetfeld bleibe ich, wo ich bin.
Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So
Aber Zugvögel bleiben nun mal nicht, wo sie sind, und wenn das Magnetfeld sich verändert, fliegen sie in die Irre. Auch wenn es sich um Figurenrede handelt, muss man ja nicht jeden Unsinn zu Papier bringen. Zu derlei Ungenauigkeiten kommen Sätze, über die man lange und vergeblich nachdenkt:
Ich wohne der Geburt der Stimme aus dem Inneren des Radiomoderators bei.
Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So
Kraftlos in der Badewanne
Vom Beiwohnen mal ganz abgesehen: Ist damit vielleicht der kleine Mann im Inneren des Radios gemeint? Aber wieso gebärt er eine Stimme? Man könnte darüber hinweglesen, wenn der arme Romanheld mehr zu bieten hätte, als über Socken und Strümpfe nachzudenken. Wenn es wenigsten um Musik und sein Leben als Musiker ginge. Aber das kommt nur beiläufig und ganz am Rande vor.
Am Ende wird es ihm selbst zu fad in der Wanne, doch er hat nicht mehr die Kraft auszusteigen. Erst als der gute Geist Franz dann auch die Geduld verliert und nicht mehr mit leckerem Essen und Getränken erscheint, ist Sebastian gezwungen aufzustehen und das Haus zu verlassen. Danke, möchte man ihm zurufen. Endlich! Seine abschließende Frage, wer ihn wohl vermissen würde, wenn er nicht wiederkäme, lässt sich präzise mit „Niemand“ beantworten.

Oct 28, 2024 • 4min
Uwe M. Schneede – Gerhard Richter
Das Werkverzeichnis von Gerhard Richter besteht aus sechs Bänden mit rund viertausend Arbeiten, entstanden in einem Zeitraum von fast sechzig Jahren. Abstraktion, Fotorealismus, Farbexperimente, Computermalerei. Wie kann ein Buch ein solches Werk fassen? Zumal sich der Künstler selbst am liebsten in Schweigen hüllt.
Gerhard Richters Vagheit setzt Uwe Schneede Genauigkeit entgegen. Beim Lesen werden die inneren Zusammenhänge in dem vielgestaltigen Gesamtwerk deutlich, die Wechselbeziehung zwischen abstrakter und gegenständlicher Malerei. Das Ungewöhnliche ist, dass Richter die Formen gleichzeitig nutzt. Immer auf der Suche nach unbekannten Bildern.
Er hat also nicht eine Vorstellung davon, wie das Bild am Ende aussehen soll. Sondern er arbeitet so, dass er sich am Ende selbst überrascht. Deshalb ja der auf den ersten Blick merkwürdig klingende Satz von ihm: „Meine Bilder sind klüger als ich.“ Weil er eben immer über sich selbst hinaus zu gehen versucht in ein Neuland.
Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter
Organische Darstellung disparater Werkkomplexe
Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, studierte dort an der Hochschule für Bildende Künste. Er verließ die DDR 1961. Die Aktionen nach der Begegnung mit Fluxus an der Düsseldorfer Akademie, die ersten fotorealistischen Bilder, die Aufarbeitung der Familiengeschichte im Nationalsozialismus – diese sehr disparaten Werkkomplexe scheinen in dem Buch „Der unbedingte Maler“ fast organisch ineinander zu greifen. Schneede legt Wert darauf, Richters Abstraktionen von der informellen Malerei abzugrenzen:
Und zwar ist ja das Informel geprägt durch den unmittelbaren, psychischen, schnellen Niederschlag auf der Leinwand, so dass auf der Leinwand auch die Emotionen des Schöpfers zu erfahren sind. Gerhard Richter arbeitet überhaupt nicht schnell, sondern überaus langsam und gezielt und mühsam auch und damit auch auf eine gewisse Art bewusst und nicht, um etwas Unbewusstes in sich hervorzubringen.
Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter
Gerhard Richter, der skeptische Maler
Uwe Schneedes sprachliche Präzision folgt der Sinnlichkeit von Gerhard Richters Malerei. Er spricht von „Schichtungen und Häutungen“, vom „zeitwidrigen Eigensinn“ des Künstlers und bleibt auch bei Richters schwergewichtigen Themen genau. Den grabdunklen Zyklus zu den Selbstmorden der RAF-Terroristen in Stuttgart Stammheim am 18.Oktober 1977 oder den Zyklus zu Auschwitz-Birkenau, der im Reichstagsgebäude hängt, kann man als monumental empfinden. Uwe Schneede widerspricht:
Also monumental finde ich sein Werk überhaupt nicht. Monumental enthält immer pathetische Elemente. Aber das ist es nicht. Ich denke, selbst da, wo er richtig große Werke wie für das Reichstagsgebäude in Berlin geschaffen hat, selbst da herrscht immer noch die ihm eigentümliche Skepsis. Er ist immer sehr zurückhaltend und in allem, was er äußert, auch was er malt, ein Skeptiker.
Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter
Glasklare Analyse von Richters Gesamtwerk
In dem Buch begegnen sich zwei Unbestechliche. Chronologisch aufgebaut kann man den Band wie eine klassische Biografie lesen und doch ist „Der unbedingte Maler“ viel mehr. Eine glasklare Analyse des Gesamtwerks, das Gerhard Richter mit 85 Jahren für abgeschlossen erklärt hat. Und die Ehrung eines Künstlers, der sich allen Kategorien verweigert.
Gerhard Richter ist – finde ich – das Inbild eines bürgerlichen Künstlers. So versteht er sich auch selbst. Nur, dass er in seiner Malerei ein Revolutionär ist. Das ist ein gewisser Widerspruch. Ich finde den aber besonders interessant.
Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter

Oct 27, 2024 • 2min
Colm Tóibín – Der Zauberer
Ich bin Anja Brockert, und auf meinem Herbst-Stapel liegt „Der Zauberer“ vom Colm Tóibín. Der irische Autor erzählt das Leben von Thomas Mann als Roman, schon vor drei Jahren erschienen, jetzt werde ich es zur Einstimmung ins Thomas-Mann-Jahr lesen: 2025 wird ja der 150. Geburtstag des „Zauberers“ gefeiert.
So wurde Thomas Mann bekanntlich von seinen Kindern genannt, Zauberer, und Tóibín erzählt natürlich von der ganzen Familie Mann, vor allem aber von der Zerrissenheit des Schriftstellers, zwischen künstlerischer Arbeit und Bürgerlichkeit, zwischen Familie und homosexuellem Begehren.
Ein „großartiger Künstlerroman“, heißt es im Klappentext, manche von Ihnen haben das Buch vielleicht schon gelesen, falls nicht, das sind die ersten 3 Sätze:
Seine Mutter wartete oben, während die Dienstboten den Gästen Mäntel, Shawls und Hüten abnahmen. Bis alle in den Salon geleitet worden waren, blieb Julia Mann in ihrem Zimmer. Thomas und sein älterer Bruder Heinrich und ihre Schwestern Lulu und Carlo sahen vom ersten Treppenabsatz aus zu.
Quelle: Colm Toíbín – Der Zauberer
Da sind wir doch gleich mittendrin im Ambiente der wohlhabenden Lübecker Kaufmannsfamilie, in der Thomas Mann Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen ist, und winken nicht auch leise die „Buddenbrooks“ im Hintergrund?
Am Ende des Romans steht Thomas Mann wieder vor dem Lübecker Haus, das ist jetzt vernagelt. Über das ganze „Dazwischen“ – wie Thomas Mann zum legendären Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger wurde, seine Ehe mit Katia, das Exil, was ihn geprägt, geplagt und auch politisch bewegt hat, das wird mir Colm Tóibín in seinem Roman „Der Zauberer“ noch einmal erzählen, auf seine besondere, einfühlsame Weise. Hoffe ich.

Oct 27, 2024 • 2min
Thomas Mann – Doktor Faustus
Rund um Thomas Mann gibt es derzeit viele Jubiläen: „Der Zauberberg“, sein wohl bedeutendster Roman, ist vor exakt 100 Jahren erschienen. Und am 6. Juni 2025 gilt es dann, den 150. Geburtstag des Zauberers und Literatur-Nobelpreisträgers zu feiern.
Ich muss gleich zwei Geständnisse machen. Erstens: Ich habe die klassische bundesdeutsche Thomas-Mann-Bildungskarriere durchlaufen. Mein Deutschlehrer verehrte Thomas Mann und ließ uns, Lehrplan hin oder her, sämtliche Erzählungen lesen.
Und an der Universität geriet ich dann an den im Februar verstorbenen Germanisten Hermann Kurzke. Zwei enthusiastische Mann-Leser und Lehrer, deren Begeisterung auf mich abgefärbt hat. Geständnis Nummer zwei: Am „Doktor Faustus“ bin ich krachend gescheitert.
Manns 1947 publizierter Roman über den Tonsetzer Adrian Leverkühn hat mich von jeher abgestoßen, von den ersten Zeilen an. Der komplizierte Satzbau, dieses hochtrabende Anheben, all die „Bewandtnisse“ und „Gegenwärtigungen“, der schwere deutsche Stoff – all das erschien mir fast wie eine unfreiwillige Selbstparodie eines großen Autors, ähnlich wie Thomas Bernhards letzter, vollkommen überschätzter Roman „Auslöschung“.
Jetzt versuche ich es noch einmal mit dem „Doktor Faustus“: Der Audio Verlag hat Gert Westphals Lesungen der großen Romane Thomas Manns in einer Jubiläumsausgabe auf den Markt gebracht.
Entstanden sind die Aufnahmen zwischen 1963 und 1993. Westphals intime Textkenntnis und sein feines Gespür für das Timing werden mir diesen Text nun endlich aufschließen. Hoffentlich.
So werde ich in den Herbst und durch den Winter gehen, beim Autofahren, Geschirrspülen und im Fitness-Studio: Mit Gert Westphals Stimme im Ohr.

Oct 27, 2024 • 5min
Jovana Reisinger – Pleasure
Dies ist ein Buch über Lustbefriedigung, über den Genuss, Begierde und Glamour – denn all das ist „Pleasure“ wie es in diesem Erkundungsbuch über das gute Leben steht: die Fähigkeit Genuss zu empfinden.
Pleasure, sagt Jovana Reisinger, sei sehr individuell, kann aber grundsätzlich sehr viel, fast alles sein: „Einen sehr guten Kaffee trinken oder ein anderes tolles Getränk, etwas Tolles zu essen. Aber auch das Ausschlafen. Ich sag ja die ganze Zeit, mein größter Luxus ist es tatsächlich auszuschlafen, und zwar nicht im Sinne von sehr lange schlafen und dann irgendwie den Tag zu vertrödeln, sondern aufzuwachen ohne Wecker und tatsächlich ausgeschlafen zu sein. So wie ich auch sage, dass mein größter Luxus ist, in Ruhe arbeiten zu können und das wiederum befriedigt mich ja auch total, das heißt, das ist auch für mich Pleasure."
Jovana Reisinger ist Single und will es auch sein. Sie ist selbstbestimmte Künstlerin und Autorin, sie liebt Events wie den roten Gala-Teppich, Partys, teure Restaurants, viele Liebhaber und vor allem Designer-Mode.
Ich will die Liebe, den Sex, die Romanze, den Erfolg, die Selbstbestimmtheit, das Geld, die Sorglosigkeit, die Karriere, das Outfit, die Gesundheit, den Fame, die Geschenke. Ich will mich nicht dafür schämen müssen – weder dafür, dass ich über meine Grenzen gehe, um manches davon zu bekommen, noch dafür, dass ich manches davon bekomme, und es mich glücklich macht.
Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure
Traum vom Reichtum
Der Autorin war all das ursprünglich nicht mitgegeben. Aufgewachsen in einer Kulisse der Armut, wie es heißt, mit Eltern, die eine Dorf-Wirtschaft betrieben – träumte sie sich seit ihrer Kindheit in die Welt der Reichen, die sie aus den Medien kannte. Paris Hilton als das erste große Vorbild oder später Carrie Bradshaw aus der Serie Sex and the City: die schreibende Frau in High-Heels mit der Designer-Handtasche.
Wer darf wie genießen?
Das Buch ist deshalb auch das Zeugnis eines hart erarbeiteten Aufstiegs und eine Analyse von Klassismus. Es untersucht anhand von drei Kategorien – Kleidung, Essen und Schlaf – welche Form des Genusses für wen gesellschaftlich bestimmt ist.
Welche sozialen Zuschreibungen finden sich in der Mode, in der Auswahl der Speisen und in dem Luxus der Erholung? Jovana Reisinger hat erlebt, dass Herkunft im Kulturbetrieb oft ein Grund für Abwertung ist. Bei einer Filmgala wird sie gefragt, was sie als Zitat „Prostituierte“ denn auf dem roten Teppich zu suchen hätte.
Reisinger sagt dazu: „Also in dem Moment, wenn ich als Schriftstellerin, die ja durchaus ernst zu nehmende Bücher schreiben will - was auch immer das wieder bedeuten möchte – wenn die sich dann wiederum so anzieht, was als vulgär gelesen wird, dann passiert da auch wieder so eine Entwertung. Und genau in diese Lücken und genau in diese Spielräume, in genau die will ich rein. Und das wollte ich mir nochmal genauer angucken und deswegen wollte ich auch dieses Buch schreiben."
Die Intellektuelle im Tussi-Look
Verschiedenste Formen von Pleasure lassen sich also auch als Spielweise von unten begreifen, so will es das Buch verstanden wissen, bei der sich die normierenden Zuschreibungen unterwandern und neu definieren lassen. Im Tussi-Look klug und eloquent sein, Männer zu Objekten machen in Spitzenunterwäsche, mit viel zu langen Fingernägeln den Essay schreiben.
So Reisinger: „Ich behaupte eben auch, dass es durchaus ein politisches Moment haben kann, eine politische Bewegung haben kann, wenn es nämlich von unten nach oben geht. Also, wenn diese Leute, die vermeintlich nicht dazu gehören sollen zum elitären Literaturbetrieb, wenn die dann aber diesen Platz einnehmen und in diesem Sinne schon für Ärger sorgen."
Ausschweifung als literarische Performance
Diesen Ärger oder die Irritation performiert auch der Text in gewisser Weise. Er ist raumnehmend und ausschweifend, redundant und regelrecht maßlos: in seiner unerbittlichen Aufzählung von Designer-Labeln, Handtaschen, Kleidern und Heels, Restaurantbesuchen, Textnachrichten von Lovern und Hotelaufenthalten.
Demonstrative Übertreibung
Der Glam, der Sex, die Übertreibung, die Oberflächlichkeit und die unentwegte Selbstinszenierung machen dieses Buch aus, das zwischen Essay und ausuferndem Genussbericht hin und her schwingt. Die Frau, die alles will - hier wird sie erlebbar und gibt sich auch preis. Insofern ist literarisch bewiesen, was auch eine These des Buches darstellt: die Frau in ihrem Hunger nach Pleasure kann eine Herausforderung sein, vor allem für die Männer.
Meine Nägel sind fertig. Sie sind obszön, geschmacklos und hinreißend sexy. Vor allem aber sind sie ein Zeichen meiner Selbstfürsorge. In den 60 Minuten ihrer Produktionszeit gebe ich meine Hände ab, kann nicht arbeiten, nichts erschaffen, niemandem dienlich sein.
Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure
Konsum für den Wohlfühl-Feminismus
Was das Buch wenig reflektiert, ist der Preis der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die mit diesem Hunger nach Konsum, der Befriedigung schaffen soll, verbunden ist. Die Frau, die sich die Nägel machen lässt, verschafft sich Pleasure und Erholung.
Die Frau, die die Nägel machen muss, fällt aus dem Bild. Ein neoliberaler Geist weht somit durch den Essay, denn das Buch „Pleasure“ fragt nie nach Allianzen, nach Solidarität, nach Koalitionen. Ein radikal individueller Wohlfühl-Feminismus mit Mitteln des Konsums wird zur Schau gestellt, der letztlich einer Ethik entbehrt. Auf dem roten Teppich stirbt jede Frau für sich allein.

Oct 27, 2024 • 16min
Lea Ruckpaul – Bye bye Lolita
„Lo-li-ta“ - drei Silben, ein Name, der nicht zu trennen ist von Vladimir Nabokovs Roman von 1955. Damals war das Buch ein Skandal. Heute ist „Lolita“ ein Teil der Popkultur. Bis heute steht „Lolita“ verharmlosend für die „verführerische Kindfrau“.
Eine andere Perspektive nimmt die Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul in ihrem Roman „Bye Bye Lolita“ ein. Aus der Perspektive der erwachsenen Dolores Haze erfahren wir, welche Gewalt und wie viel Schmerz Lolita erfahren musste. Eine Abrechnung mit Humbert Humbert und mit unserer Gesellschaft.
Lea Ruckpaul im Gespräch
In „Bye Bye Lolita“ schreibt sich Dolores Haze an Humbert Humbert auf den Seiten seines Taschenkalenders an. Im „lesenswert Magazin" erzählt Lea Ruckpaul wie sie sich im Schreibprozess an Nabokovs Roman angenähert hat. Was hat Ruckpaul an der Figur „Lolita“ so interessiert? Das erzählt sie Kristine Harthauer.

Oct 27, 2024 • 2min
Kim Stanley Robinson – Marstrilogie
Ich, Nina Wolf, düse an diesen langen, verregneten Herbsttagen lektüremäßig in den Weltraum. Genauer: Auf den kolonisierten Mars.
Kim Stanley Robinsons „Marstrilogie“ bringt es insgesamt auf über 2700 Seiten. Die drei Bände „Roter Mars“, „Grüner Mars“ und „Blauer Mars“ sind mit diesem Umfang ein perfektes Endjahresleseprojekt. Erschienen ist der erste Teil dieser Science Fiction Reihe vor knapp 32 Jahren, 1992.
Die Trilogie spielt in unserer nahen Zukunft. Band eins beginnt mit der Marsbesiedlung im Jahr 2026 und lockt mit der Verheißung einer vielschichtigen Geschichte – nicht nur eine technische Utopie, sondern auch ein soziales und politisches Experiment.
Die Marsbesiedlung als letzter Ausweg der Erdbevölkerung, Umweltfragen, Ressourcenverteilung – Robinson verwebt utopische und dystopische Visionen miteinander. Und das nicht prognostisch, sondern deskriptiv. Science Fiction als Gedankenexperiment: Eine Methode, die Robinson sicher von Sci-Fi-Legende Ursula K. Le Guin gelernt hat, mit der der amerikanische Schriftsteller lange zusammen arbeitete.
Mein Herbst- und Marsmission mit Kim Stanley Robinsons Trilogie lautet also: In eine Welt der möglichen und unmöglichen Zukünfte eintauchen und so vielleicht die Fragen der Gegenwart aus einer neuen Perspektive zu betrachten.


