SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Nov 17, 2024 • 7min

Lucy Fricke – Das Fest

Der Held in Lucy Frickes neuem Roman „Das Fest“, Jakob, wird 50 und steckt in einer klassischen Midlife-Crisis. Er ist Single, nicht mehr ganz erfolgreich im Beruf und der Meinung, das Wichtigste im Leben liege hinter ihm. Statt seinen runden Geburtstag zu feiern, würde er sich am liebsten allein verkriechen. Seine beste Freundin Ellen aber akzeptiert das nicht. Vermeintlich zufällige Begegnungen Der Tag beginnt damit, dass Ellen Jakob eine Badehose schenkt und ihn ins Freibad schickt, wo er auf seine langjährige Beziehung trifft. Mehrere solcher vermeintlich zufälligen Begegnungen des Tages führen Jakob zu neuen Einsichten und tiefer Freundschaft. Am Ende wird dann doch gefeiert! Im Gespräch mit Anja Brockert spricht Literaturkritiker Christoph Schröder eine starke Empfehlung für Lucy Frickes neuen Roman „Das Fest“ aus.
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Nov 17, 2024 • 57min

„Chronik des eigenen Atems“ von Serhij Zhadan und andere neue Bücher

Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher von Anne Tyler, Cemile Sahin, Doris Vogel, Martin Becker, Tabea Soergel und einem Gespräch über ein unerwünschtes Fest zum 50. Geburtstag
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Nov 17, 2024 • 6min

Anne Tyler – Drei Tage im Juni

Ausgerechnet am Tag vor der Hochzeit ihrer einzigen Tochter kommt es ziemlich dicke für die 61-jährige Gail: Nach Jahren als stellvertretende Schuldirektorin droht ihr die Kündigung wegen vorgeblich mangelnder Sozialkompetenz. Dann steht plötzlich ihr Ex-Mann Max vor der Tür, um sich für zwei Nächte in ihrem Häuschen in Baltimore einzuquartieren. Zu allem Überfluss mit einer alten Katze im Schlepptau, dabei ist der Schwiegersohn in spe schlimm allergisch. Damit nicht genug, sitzt wenig später die Tochter Debbie aufgelöst auf dem Sofa, weil sie von einem nicht lang zurückliegenden Seitensprung ihres Bräutigams erfahren hat. Frauenleben auf emotionaler Sparflamme Das ist die Ausgangssituation des neuen Romans von Anne Tyler, „Drei Tage im Juni“. Wie wird es in diesen drei Tagen nun weitergehen? Wird Max mit seiner raumgreifenden Art seiner Exfrau, wie erwartet, den letzten Nerv rauben? Wird Debbies Hochzeit platzen oder werden ein paar kleine „white lies“ alles richten? Und wie wird es mit der Katze weitergehen, vom Job ganz zu schweigen? Ich malte mir aus, wie ich in der halbleeren Kirche saß, während die restliche Hochzeitsgesellschaft mit dem Finger auf mich zeigte und ,Die arme Gail, habt ihr schon gehört?‘ flüsterte. Gefeuert. Mit einundsechzig. Weil sie keine Sozialkompetenz hat. […] Diese biedere Frau, diese blasse Person mit den Schnittlauchlocken, die sich nicht im Mindesten um ihr Aussehen schert! Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Anne Tyler lässt dieser Exposition ein Kammerspiel folgen, das sich zum Porträt einer Frau mit einem Leben auf emotionaler Sparflamme weitet. Ganz oder fast alltägliche Vorgänge wie ein ziemlich misslingender Friseurbesuch, der Kauf eines Anzugs für den Brautvater Max, Restaurantbesuche und Imbisse in der eigenen Küche, die Probe für die Trauung am nächsten Tag rufen Erinnerungen auf: an das Kennenlernen in der Studenten-WG, den ersten Kuss bei einem Picknick vor einem malerisch gelbgoldenen Getreidefeld, die ersten gemeinsamen Jahre. Die kleinen Dinge statt der großen Dispute Um die Leser ins Nachdenken zu bringen – etwa über Willensfreiheit, die Rolle des Unbewussten oder die Frage, was eine Ehe am Laufen hält – braucht Anne Tyler keine tiefgründig-bildungssatten Dialoge oder Erwägungen. Die kleinen Dinge illustrieren Gails Beziehung zu Max. Zwanzig Jahre nach der Scheidung und einigen schwierigen Phasen ist das Verhältnis der beiden einigermaßen befriedet. Doch weiterhin hängt Gail der Auffassung an, Max neige im Umgang mit anderen wie mit sich selbst zu einer gewissen achtlosen Übergriffigkeit. Grenzen – sein großes Problem. Er kannte keine Grenzen. Für mich waren Grenzen wahnsinnig wichtig. Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Wie zu erwarten war, geraten diese Grenzen bei Gail nach und nach ins Bröckeln. Die gemeinsam verbrachte Zeit, das erleichternde Gefühl des Einverständnisses gegenüber den Herausforderungen der Hochzeitsfeierlichkeiten, die geteilte Sorge um die Tochter führen Gail vor Augen, was Max vielleicht schon länger wusste: dass da noch etwas ist, woran man anknüpfen könnte. Er entpuppt sich nämlich als gar nicht so achtlos, wie Gail denkt, sondern kennt sie womöglich besser als sie selbst. So begegnet er ihrer gewohnheitsmäßigen Bedenkenträgerei mit einem fast rührenden Vergleich: Er musterte mich. ,Weißt du, was du brauchst? Du brauchst einen Donnermantel.‘ ,Einen was?‘ ,So ein eng anliegendes Mäntelchen, das man Hunden anzieht, die sich vor Donner fürchten. Meine Güte! Führst du eine Liste, auf der jede Sache, um die du dich sorgst, einzeln aufgeführt ist? Und wie merkst du dir das alles?‘ Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Tatsächlich ist Gails Selbstbewusstsein prekär und schwankt zwischen Selbstzweifel, verdrängten Gefühlen von Schuld und Trauer und – ja, auch – Rechthaberei. Das macht es den anderen im Allgemeinen und Max im Besonderen nicht gerade leicht. Stichwort „fehlende Sozialkompetenz“. Denn sie wissen nicht, was sie tun Gails allmählich wachsende, kurz sogar von Panik begleitete Selbsterkenntnis, nachdem die Tochter in die Flitterwochen aufgebrochen ist und Max wieder heimwärts Richtung Delaware, gießt die begnadete Menschenkundlerin Anne Tyler in ebenso komische wie ergreifende innere Monologe: Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens machen? Ich bin zu jung für diese Situation, dachte ich. Nicht zu alt, wie man hätte meinen können, sondern zu jung, zu unbeholfen, zu ahnungslos. Warum waren keine Erwachsenen in meiner Nähe? Warum nahmen alle an, dass ich wüsste, was ich tat? […] Warum war ich nur so verschlossen? Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Dass Menschen mitnichten immer wissen, was sie tun, kann bekanntlich fatale Folgen haben. Auch Anne Tylers in ihrer ganzen verschlossenen Unbeholfenheit bezwingende Heldin Gail hat dies einmal erfahren – und damit ihre Ehe ruiniert. Es kann aber auch ein Glück sein, vorausgesetzt, man tut das, was Gail künftig neu lernen wird: es auch mal gut sein lassen. Gut möglich, dass eine betagte Katzendame ihren Anteil daran hat. Anne Tylers „Drei Tage im Juni“ ist ein Kabinettstück aus der Mittelschicht der USA, deren Angehörige trotz allem mehr oder weniger erfolgreich versuchen, ihrem moralischen Kompass zu folgen. Ein kleiner, feiner Roman, den man gern zwei- oder dreimal liest, um herauszufinden, wie alles so kommen konnte.
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Nov 17, 2024 • 6min

Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems

Falle Schnee, auf unsere Kindheit – / Zuflucht aus Treue und Klang, / hier waren wir vertraut / mit der dunklen Seite der Sprache / mit der Verdunklung der Zärtlichkeit, / hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen / wie Besitz … Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Eine „kurze Geschichte vom Schnee“ will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen, ebenso auf Lieder und Erinnerungen von Passanten. Der Schnee wird dabei selbst auf den Weg geschickt, durch die nächtliche, dunkle Stadt, zu den Feldern vor ihren Toren, ebenso durch die Lebenszeit eines Menschen. Und nichts verschwindet hier unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht. Schnee als Metapher für Veränderung Für Serhij Zhadan – so erzählt er dieser Tage im Interview – ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung: „Einerseits ist Schnee, das, was das Leben bedeckt, das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges, nichts, was alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme." Im neuen Gedichtband „Chronik des eigenen Atems“ nimmt die „kurze Geschichte des Schnees“ eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022, ist das letzte, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand. Vier Monate lang konnte Serhij Zhadan keine Poesie mehr schreiben. Die Sprache verschwand, berichtet der Schriftsteller, der heute auch als Soldat für die Freiheit seines Landes kämpft, im Nachwort des Buches. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert. Gedichte gegen das Verstummen und die Angst Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach. Die Gedichte nach dem Februar 2022 richten sich auch gegen das Verstummen, ebenso gegen die Angst Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen, / so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief. / Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig. / Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und dein Gestern auf dem Rücken trägst. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, die von Stimmlosigkeit markiert sind. „Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz“, ruft ihnen die Stimme im Gedicht aus dem August 2022 nach. Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken. Das macht diese Form des Schreibens – in den Augen des Schriftstellers – besonders: „Und natürlich braucht es ein Bild, eine Metapher, eben genau die metaphorische Art zu sprechen, um diesen Dingen Klang zu verleihen, um sie aus dem Schatten zu holen, um sie aus dem Dunkel ans Licht zu holen. Vielleicht ist das eine Funktion der Dichtung in diesen Zeiten, in den Zeiten des Krieges, dass die Dichtung von etwas Zeugnis ablegen kann, wozu die gewöhnliche menschliche Sprache nicht in der Lage ist, wofür ihr die Sprachkraft, das Vokabular nicht reicht." Serhij Zhadans „Chronik des eigenen Atems“, begonnen im März 2021, führt bis in den Juni 23. Immer wieder durchstreifen die Gedichte, eindrücklich übertragen von Claudia Dathe, die große Stadt: Charkiw. Hier ähnelt die Metropole – vor der Ausweitung des Angriffskrieges – einem Liebesbrief, dort wird sie, im ersten Kriegswinter, von Sternsängern durchquert, dann schließlich wird sie von den Menschen verteidigt und vorgetragen „wie ein Gedicht“. Ebenso werden die Landschaften im Umland, darunter die Flussufer und die Weinberge, im Wandel der Jahreszeiten und Zeitläufte festgehalten in den Versen. Poetische Gespräche mit Autoren Und: Serhij Zhadan führt immer wieder ein poetisches Gespräch mit Autoren, die für ihn wichtige Bezugspunkte im Schreiben sind. Darunter Bruno Schulz, der große polnischsprachige Erzähler aus Galizien, 1942 von den Deutschen ermordet. So Zhadan: „(Bruno) Schulz‘ Figur hat eine besondere Tragik, denn nun sind ja schon 80 Jahre vergangen, seit er umgekommen ist, und in der Ukraine werden immer noch Autoren umgebracht, kommen immer noch Autoren um, das ist natürlich, das ist unverzeihlich, es ist sehr bitter, sich das zu vergegenwärtigen, es ist sehr bitter, darüber zu sprechen, denn die Kultur ist schrecklich empfindlich, was den Krieg angeht, sie ist de facto die Komponente, die in erster Linie zerstört wird, sie ist die erste, die dem Druck nicht mehr standhält, die kaputtgeht, zerstört wird, und das sind dann die Welten, die sich später nicht mehr wiederherstellen lassen." Serhij Zhadan hat Bruno Schulz eine Reihe von Psalmen gewidmet. Dem Krieg – und mit ihm den immer wiederkehrenden Schnee – setzt er die Liebe entgegen. Sie steht überhaupt im Zentrum der gesamten Gedichtsammlung, ist Kontrapunkt zu allen Verheerungen der Gegenwart. Auch wenn es nicht um Liebe geht – es geht trotzdem um Liebe. / Auch wenn du nicht existierst – deine Abwesenheit / gibt denen Hoffnung, die überhaupt nichts haben, / die in den Trümmern alte Schulbücher finden. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Je länger der russische Krieg gegen die freie Ukraine andauert, desto mehr findet auch das damit verbundene Geschehen konkreten Niederschlag in den Gedichten. Nur selten aber vordergründig, wie etwa dann, wenn, im ersten Winter und im Schnee, von Kämpfern die Rede ist, die dem Land ausgehen. Der dritte Kriegswinter in der Ukraine Serhij Zhadan schreibt oft aus einer Position der Stille heraus, abtastend, beobachtend, erkundend. Während seine „Chronik“ in Deutschland erscheint, beginnt in der Ukraine der dritte Kriegswinter. Als der Schriftsteller einige Gedichte aufnimmt, so berichtet er, schlägt in der Nähe seiner Wohnung eine Rakete ein: „Denken Sie einfach daran, dass tatsächlich genau jetzt unsere Städte, unsere Dörfer unter russländischem Beschuss liegen, genau jetzt Ukrainer, Erwachsene und Kinder sterben, das passiert jeden Tag, und da ist eine furchtbare Sache, die man weder auf die Politik noch auf die Geopolitik noch auf irgendwelche ökonomischen Interessen schieben kann. Natürlich hoffen wir sehr auf Hilfe. Vielleicht mehr noch als auf Hilfe hoffen wir auf Verständnis, für uns ist es sehr wichtig, dass wir in einer gemeinsamen Sprache miteinander sprechen, dass es sich dabei um eine ehrliche Sprache, um eine offene Sprache handelt. Das ist es, was die Menschen tun können." Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der „Chronik des eigenen Atems“: Die Sprache brauche jene, die leise sprechen / und überzeugend schweigen. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung. Wir sollten hören, was dem Schweigen inmitten von Krieg und Kälte erwächst.
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Nov 14, 2024 • 4min

Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen

Als der Roman „Die Nichtswürdigen“ beginnt, hat die Apokalypse schon stattgefunden: Ein globaler Kollaps und eine Umweltkatastrophe gigantischen Ausmaßes. Länder sind unter Wassermassen verschwunden, dann sind Meere ausgetrocknet, Bäume und fast alle Tiere verschwunden. Nur wenige Menschen haben überlebt, sie irren durch eine zerstörte Welt ohne Strom und Internet, jagen Tauben oder Ratten, um nicht vor Hunger zu sterben, sie töten sich gegenseitig. Agustina Bazterrica schildert das Grauen in Rückblenden, denn die Ich-Erzählerin ihres Romans, eine junge Frau, hat nach langem Herumstreunen einen Zufluchtsort gefunden. Sie lebt im Haus der Heiligen Schwesternschaft, wo sie gemeinsam mit anderen Frauen einem mysteriösen, Mann, der nur Er genannt wird, und einer brutalen Schwester Oberin unterworfen ist. Es gibt hier etwas zu essen, ein wenig Wasser, Kleidung und Betten, aber auch eine streng hierarchische Ordnung, die auf Gehorsam, blindem Glauben und Sadismus beruht. Geist der Grausamkeit Von den sogenannten Nichtswürdigen, zu denen die Erzählerin gehört, wird Läuterung verlangt, Selbstgeißelung, Opfer aller Art. Sie alle wollen aufsteigen in der Hierarchie der Heiligen Schwesternschaft, wollen sogenannte Auserwählte oder Durchgeistigte werden. Deshalb konkurrieren die Frauen gnadenlos miteinander, quälen sich gegenseitig. Es herrscht ein Geist der Grausamkeit – und das von der ersten Romanseite an: Jemand schreit im Dunkeln. Ich hoffe, es ist Lourdes. Ich habe ihr Kakerlaken ins Kopfkissen gesteckt und den Bezug vernäht, damit sie nicht so leicht herauskönnen, damit sie unter ihrem Kopf krabbeln oder über ihr Gesicht. Hoffentlich kriechen sie ihr in die Ohren und nisten auf ihren Trommelfellen, hoffentlich spürt sie, wie die Brut ihr ins Gehirn dringt. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Nichts für Zartbesaitete. Makabre Passagen gibt es immer wieder in Bazterricas Roman. Auch, wenn die Strafen geschildert werden, die die Nichtswürdigen beim geringsten Fehlverhalten ertragen müssen – wenn die Schwester Oberin mal wieder die Peitsche schwingt oder einer Nichtswürdigen noch Schlimmeres geschieht. Die Dienerinnen banden sie an einen Pfahl, um den Äste und Strünke gehäuft waren. Sie zündeten sie an, und Mariel stand in Flammen. Sie war wunderschön. Ein Feuervogel. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Eine vom jahrelangen Kampf ums Überleben abgestumpfte Gemeinschaft, in der selbst im Verbrennen einer Frau Schönheit gesehen wird: Inmitten ihrer Dystopie einer unbewohnbaren Welt hat Agustina Bazterrica einen Ort ersonnen, an dem Frauen Unterdrückung und Folter aller Art ausgesetzt sind – auch die vermeintlich Privilegierten. Damit erfindet die Autorin aber nichts Neues, damit treibt sie nur Szenarien von misogyner Gewalt und Missbrauch auf die Spitze, die es immer schon gegeben hat. Messianische Figur bringt Erlösung In dem perversen System der Heiligen Schwesternschaft funktioniert keine Sisterhood, bis eine Frau, eine fast messianische Figur, zur Gemeinschaft stößt, die Erlösung bringt: Durch Barmherzigkeit – und Liebe. Lucía streckte einen Arm zum Himmel, als wollte sie die Sterne berühren. Wir sind Töchter des Mondes, sagte sie. Sie küsste mich, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte sie bloß ansehen, bloß streicheln mit den Fingerspitzen (…). Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Schade, dass in „Die Nichtswürdigen“ die Sprache oft so klischeehaft ist. Was die schockierenden Passagen des Romans angeht, so sind diese ein nachvollziehbares Mittel, um die Verrohung der Menschheit nach dem Zivilisations-Kollaps zu verdeutlichen. Die Autorin zeigt auf erschreckende Weise, wie aus dem Chaos ein allumfassendes System des Bösen entstehen könnte. Die Nichtswürdigen ist einer von vielen Romanen, die von der Apokalypse handeln – aber durchaus ein interessanter. Geschmälert wird das Leseerlebnis durch Allgemeinplätze, einige Redundanzen und ein nicht ganz überzeugendes Ende.
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Nov 13, 2024 • 4min

Christoph Sebastian Widdau, Jörn Knobloch – Was ist und was soll Political Correctness?

Über die Berliner „Mohrenstraße“ wurde ausgiebig gestritten, bei Bismarck-Denkmälern würden manche Leute gern den Vorschlaghammer hervorholen, der Hindenburg-Damm muss doch nicht nach einem Demokratiefeind heißen, und das N-Wort hat in einem Kinderbuch nichts zu suchen. In all diesen Fällen geht es um Symbole und um Sprache. Und all diese Fälle sind hart umkämpft. Komplett verfeindete und unversöhnliche Parteien scheinen sich gegenüberzustehen. Für die einen kann ein Straßenname verletzend, gar retraumatisierend sein. Andere berufen sich auf Traditionen oder ein komplexes Geschichtsbild, das sich nicht einfach durch das Auslöschen von Begriffen übermalen lässt. Wenig verbindet diese Positionen.   Was darf man (noch) wie sagen? Darum tobt ein Kulturkampf  Es tobt ein regelrechter Kulturkampf. An diesem Punkt setzt der schmale Essay der Politologen und Philosophen Jörn Knobloch und Christoph Sebastian Widdau an. Sie fragen: „Was ist und was soll Political Correctness?“, beschreiben also zunächst die Grundlagen der Auseinandersetzung, die Herkunft des Begriffs, die Intentionen, die hinter der Forderung nach politischen Korrekturen stecken. Political Correctness wurde in der Bundesrepublik früh durch Feministinnen praktiziert. Sie zielten darauf, die ungenügende Repräsentation von Frauen in Sprache, Kultur, Politik anzuprangern. Aber längst gehe es neben der Kritik am Sprachgebrauch auch ...  … um die Bewertung und Sanktionierung bestimmter Weltanschauungen oder die politisch-moralisch begründete Auswahl von Sprechern in der Öffentlichkeit. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Beitrag zur Versachlichung in der Diskussion um Political Correctness  Political Correctness ist ein Kampfbegriff, dessen Wesen schon zur Genüge wissenschaftlich und feuilletonistisch diskutiert wurde. Knobloch und Widdau aber gehen einen Schritt über die Beschreibung hinaus. Ihr Anliegen: Sie wollen die Diskussion versachlichen, und zwar indem sie versuchen, die verfeindeten Strömungen der Bewahrer und Korrektoren auf eine gemeinsame ideengeschichtliche Wurzel zurückzuführen.  Wir vermuten (…), dass beide Positionen auf dem Liberalismus fußen. Zumindest, um dies vorsichtiger zu formulieren, lassen sich ihre Ursprünge auf liberales Denken zurückführen. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Natürlich gibt es Rechtsextreme, die der Political Correctness aus durchschaubaren Gründen den Kampf ansagen. Das ignorieren Knobloch und Widdau keineswegs. Aber im Kern der Auseinandersetzung stünden sich unterschiedliche liberale Gesinnungen gegenüber. Dies eröffne die Möglichkeit, doch Übereinkünfte zu finden, die aufgrund der aufgeheizten Debatten schier unerreichbar scheinen.   Wenn sich aber die Streitparteien darauf einigen könnten, dass sie sich innerhalb liberaler Demokratien bewegen und den Liberalismus ernst nehmen, dann könnte man prüfen, ob von hier aus gesehen bestimmte Praktiken, Routinen und Konventionen, Sprechweisen und Handlungen sinnvollerweise als »korrekt« oder »inkorrekt« bezeichnet werden können. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen gibt Hoffnung  Letztlich begreifen die Autoren die Debatte als Reaktion auf die Krise des Liberalismus. Es handelt sich um einen Streit darüber, wie der Liberalismus fortgeführt, liberalisiert werden könnte. Vor Gerichten lässt sich das schwerlich austragen, durch Gesetze nur um den Preis tieferer Spaltungen regeln. Auf dem Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen aber könnten beide Streitparteien die Wichtigkeit ihrer Anliegen erkennen und diskutieren – und Kompromisse aushandeln, die aus der Unbedingtheit des Entweder-Oder ausbrechen. Der Sprachgebrauch müsse, so Knobloch und Widdau, einer Inventur unterzogen werden; diese ermögliche Suche nach tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen. Darauf ließe sich aufbauen. Freilich basiert dieser Vorschlag auf einer von Jürgen Habermas inspirierten Diskursethik, die vernunftbegabte und offene Teilnehmer voraussetzt. Auf solche darf man zwar hoffen. Ob man sie gegenwärtig wirklich finden kann, ist allerdings zweifelhaft.
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Nov 12, 2024 • 4min

Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit

Eine weitläufige Zimmerflucht als Zuhause, der Blick aus dem Kinderzimmer in einen üppigen, gepflegten Garten, Privatunterricht mit Hauslehrern und berühmte Autoren zum Abendessen. Es ist eine ferne, faszinierende Welt, in die Molly MacCarthy uns in ihren Kindheitserinnerungen „Kleine Fliegen der Gewissheit“ mitnimmt.   Ich wurde in den Achtzigern in behütete, äußerst behagliche religiöse und literarische Kreise hineingeboren.   Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Ironische Distanz zur eigenen Familie  Kindheitserinnerungen bergen die Gefahr der nostalgischen Verklärung. Dass Molly MacCarthy nicht in diese Falle tappt, macht „Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Originaltitel der autofiktionalen Erzählung – umso lesenswerter. Immer ist das Bemühen der Autorin um Ehrlichkeit wahrnehmbar, was sich oft auch in einem Ton ironischer Distanz gegenüber der eigenen Familie und deren Werten niederschlägt.   Molly, die eigentlich Mary heißt, ist das zweitjüngste von acht Kindern des Vize-Schuldirektors Francis Warre-Cornish und seiner Frau Blanche.  Die Autorin ist zwölf Jahre alt, als ihr Vater seine Stelle in Eton antritt und die Familie in das weiträumige Tudor-Haus neben dem Eliteinternat zieht.   Mollys Familie gehört zum gehobenen Bildungsbürgertum. Um die Aufmerksamkeit der zerstreuten und exzentrischen Mutter kämpft die Tochter oft vergeblich. Häusliche Theateraufführungen, Vorlesestunden und Klavierkonzerte machen für MacCarthy auch im Rückblick den Mangel an mütterlicher Zuwendung nicht wett. Völlig unerwartet entscheidet die Mutter überdies, die Tochter in ein katholisches Internat zu geben.  Die weitläufigen, weißen Schlafsäle, (…) und die Kapelle, in der ein schwerer Weihrauchduft lag, vermittelten ihr das Gefühl dieser disziplinierten Ordnung und Ruhe, nach der sie sich selbst sehnte und die sie einer Tochter nur zu gerne vermittelt hätte. (…) So rasch wie möglich sollte ich in dieser hochkirchlichen Festung eingekerkert werden.  Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Kaum Berufsperspektiven trotz Schulabschluss Trotz Heimweh, Einsamkeit und rigiden religiösen Geboten versucht das Mädchen, die Beweggründe der mütterlichen Entscheidung nachzuvollziehen. Diese Balance zwischen Fakten und subjektivem Rückblick zeichnet das Buch aus, das einen höheren literarischen Anspruch als ein Memoir hat und von der Ich-Perspektive bisweilen auch in die dritte Person wechselt.  Nach ihrem Schulabschluss sieht sich das junge Mädchen allerdings mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Auf der Suche nach einer Zukunftsperspektive geht sie im „Jahrbuch der englischen Frauen“ die Liste mit den Berufen durch.  Obgleich das Jahrbuch alle Berufe nannte, die eine Frau in jener Zeit hätte ergreifen können, von der Universitätsprofessorin bis zur Müllkutscherin (…) an den Hafendocks, wurde es mir zu meiner großen Bestürzung klar, dass ich ohne Beruf dastand. Unter diesen Umständen entschließe ich mich zu einem drastischen Schritt. „Ich werde Hygieneinspektorin“, verkünde ich meiner Familie. Sie brüllen vor Lachen.  Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Mollys Berufssuche wird ebenso in Ehe und Mutterschaft enden wie die ihrer Schwestern. Vorher dürfen die jungen Mädchen in London noch ein wenig ihre Freiheit auf sittsamen Tanztees genießen. Die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz machen den beeindruckenden Bildungshintergrund deutlich, der für junge Mädchen der britischen Upperclass selbstverständlich war.  Als Queen Victoria, Königin von Großbritannien und Kaiserin von Indien, 1901 stirbt, endet eine Epoche und mit ihr auch die Kindheit und Jugend der 19-jährigen Molly MacCarthy. Das sachkundige Vorwort bettet die Erzählung in den historischen Kontext der berühmten Bloomsbury Group ein, deren Mitglied Molly MacCarthy war.  „Mit Neid und Entzücken“ habe sie Mollys Kindheitserinnerungen gelesen, schreibt Virginia Woolf 1924 in einem Brief an ihre Cousine. Auch hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung bereiten die anrührenden, nachdenklichen und amüsanten Kindheitserinnerungen große Lesefreude.
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Nov 11, 2024 • 4min

Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger

Das Glutnest, aus dem in „Ein ganz normaler Bürger“ ein regelrechter Flächenbrand wird, hat einen Namen. Er lautet Aufstiegswille:  Du wirst deinen Weg gehen, so wahr mir Gott helfe. Und du fängst da an, wo ich nach dreißig Dienstjahren aufhöre … mit gerade mal zwanzig. Ein junger Mann, der etwas werden will, denkt nur an sein Fortkommen, an sonst nichts, sollen die anderen sich den Strick nehmen! Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger So spricht der kurz vor der Rente stehende Giovanni Vivaldi mit seinem Sohn Mario, der im Rom der 1970erJahre im gleichen Ministerium wie sein Vater eine Prüfung vor sich hat. Sie soll Mario für eine höhere Beamtenlaufbahn qualifizieren und ihm damit den sozialen Aufstieg und das Entkommen aus der kleinbürgerlichen Enge seiner Verhältnisse ermöglichen. Damit Mario der Aufstieg gelingt, legt sich Giovanni mächtig ins Zeug, konkurrieren schließlich 12.000 Bewerber um 2.000 Plätze. Er tritt auf Einladung seines Vorgesetzten, Dottor Spaziani, der Freimauerloge bei und macht sich dort erst einmal lächerlich. Doch durch diese Mitgliedschaft gelingt es ihm, sich die Fragen und Antworten für die Prüfung seines Sohnes schon vorab zu erschleichen:  ‚Hier habe ich die Abschrift der Prüfungsaufgabe‘, raunte Dottor Spaziani und blickte sich misstrauisch um. Wie von einem Magneten in seinem Bauch angezogen, schnellte Giovanni nach vorn, packte die Hände des Vorgesetzten und bedeckte sie mit ungestümen Küssen. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen und schwitzte und stöhnte. Zwischen Schmatzern, Speichelfluss und Seufzern stieß er ein Dutzend ‚Danke‘ hervor. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Ein verzweifelter Kriecher  Man könnte Giovanni einen Kriecher nennen. Oder einen Verzweifelten. Der Aufstieg des Sohnes scheint aber beschlossene Sache zu sein. Doch am Tag der Prüfung geschieht ein Unglück. Vater und Sohn durchqueren eine Straße, in der ein Raubüberfall stattfindet:  Ein Wimpernschlag und zugleich eine Ewigkeit. Bevor Mario noch »Mamma« sagen konnte, war er schon tot. Einen Augenblick oder hundert Jahre zuvor der gellende Schrei einer Frau, wie er nur im höchsten Falsett möglich ist. Aus dem Hosenbein des Jungen floss Blut wie aus einem Wasserhahn. Die tödlichen Schüsse stammten aus Feuerwaffen. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Von diesem Moment an, so stellt Ceramis atmosphärischer dichter Roman es dar, ist Giovannis Schicksal endgültig besiegelt. Es geht unerbittlich nur noch in eine Richtung: bergab.  Die Enge der Verhältnisse  Indem Cerami die Handlung einbettet in die bleierne Atmosphäre im Rom der 1970er-Jahre, an der sich auch Pier Paolo Pasolini abarbeitete, gewinnt das traurige Schicksal Giovannis parabelhafte Züge. Durch die bildhafte Sprache hinterlässt „Ein ganz normaler Bürger“ einen tiefen Leseeindruck.  Sofort erkannten die beiden den Sonntag wieder: an den heruntergelassenen, mit Schmierfett geölten Rollgittern der Läden, an den Wohnhäusern mit ihren zu hohnlächelnden Mäulern aufgerissenen Toren, an den entlang der Bürgersteige geparkten Autos gleich einbalsamierten Hunden, an den menschenleeren Straßenbahnen – lahme, verschreckte Raupen – und schließlich an der einen, die ganze Stadt durchquerenden Häuserkette, die sich überallhin verzweigte wie Haarbüschel auf einem grindigen Kopf.  Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Schilderungen wie diese von Giovannis und Marios Rückkehr von einer Angeltour am Rand der Stadt sind typisch für Ceramis Roman, der in seiner Klarheit und Genauigkeit von den ersten Seiten an so packend ist, dass man ihn kaum zur Seite legen, dass man erfahren möchte, welch traurigen Weg dieser ganz normale Bürger, eingezwängt in die Enge der Verhältnisse, gehen muss.
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Nov 10, 2024 • 55min

Bei Krisen aller Art hilft: Lesen! Bücher von Joachim Meyerhoff, Tove Ditlevsen und Clemens Böckmann

Mit guten Büchern kann man die Krisen und Brüche der politischen Welt für ein paar Stunden ausblenden - und das Lesenswert Magazin hat die passenden Tipps dafür.
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Nov 10, 2024 • 6min

Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst

Der Ursprung dieses Buches ist eine zufällige Begegnung in einer Leipziger Kneipe. So behauptet es jedenfalls der Ich-Erzähler in Clemens Böckmanns „Was du kriegen kannst“. Es ist Zufall, dass Uta und ich uns kennengelernt haben. Eine Freundin von mir war, im Rahmen ihrer Forschung in Leipzig, an einem Abend müde in eine Bar gegangen. An einem der Tische saß eine ältere Frau. Sie kamen ins Gespräch. Über vier Stunden erzählte Uta Einzelheiten aus ihrem Leben. Am nächsten Morgen rief die Freundin mich an, war verwirrt und überfordert und gleichzeitig eingenommen von einer Person, die sich ihr fast hemmungslos offenbart hatte. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Diese Frau aus der Bar ist Uta Lothner, die (durchaus widersprüchliche) Heldin des Romans. Sie arbeitet in den frühen 1970er-Jahren als Möbelverkäuferin in ihrer Heimatstadt Zwickau. Uta sieht gut aus, ist erlebnishungrig und Männerbekanntschaften nicht abgeneigt, kurz: eine ganz normale junge Frau, die in einem ganz und gar unnormalen, wenn auch grundspießigen Staat aufwächst. Im Jahr 1971 wirbt die Staatssicherheit Uta an, um rund um die internationalen Leipziger Messen Geschäftsleute und Besucher aus dem Westen auszuspionieren. Das funktioniert natürlich am besten, indem man mit ihnen schläft. Uta wird zur Sexarbeiterin und Agentin, die regelmäßig Berichte an ihre Kontaktleute abliefert, zugleich aber selbst immer unter Beobachtung steht. Clemens Böckmann beleuchtet Utas Biografie aus unterschiedlichen Erzählperspektiven: Sein Ich-Erzähler zeigt die Uta der Gegenwart als prekäre Alkoholikerin. Uta selbst erzählt im umgangssprachlichen Jargon aus ihrem Leben. Und große Teile des Romans schließlich bestehen aus Aktenvermerken des Ministeriums für Staatssicherheit: In ihrer Begleitung befindet sich meistens die Verkäuferin aus der Konsumgenossenschaft Zwickau (schwarzer Balken)wohnhaft in Zwickau, (schwarzer Balken)sowie auch oftmals die Verkäuferin vom Warenhaus (schwarzer Balken) aus Schneeberg (schwarzer Balken)wohnhaft in (schwarzer Balken).Alle Genannten werden als Männertoll eingeschätzt.Seit dem 30.1.1972 ist die Obengenannte Mitglied der SED. Gesellschaftliche Funktionen übt sie keine aus. Ansonsten kann gesagt werden, dass es sich bei der Obengenannten um eine attraktive Erscheinung handelt, die auch stets mit der neusten Mode gekleidet ist.“ Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst „Was du kriegen kannst“ ist ein komplexer, anspruchsvoll zu lesender Roman, eine Collage aus unterschiedlichen Textgattungen. Die Fülle an Informationen, die hier aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wird, dient im Grunde einem einzigen Zweck: Zu zeigen, dass es keine gesicherten Informationen gibt. Uta ist eine ambivalent gezeichnete Figur: Ist sie Täterin oder Opfer? Clemens Böckmann ist subtil genug, die Antwort auf diese Frage in der Schwebe zu halten. Er zeigt, wie man in die Maschinerie des Spitzelapparates hineingeraten kann. Er führt vor, wie ein Individuum komplett hinter einer Sprache verschwindet, die auf bloße Funktionalität ausgerichtet ist und in ihrer bürokratischen Verschraubtheit nahezu unlesbar ist. Der Geruch von Abgasen und Schnaps Uta ist in diesem Roman beobachtetes Objekt und sprechendes Subjekt zugleich, doch beide Perspektiven ergeben kein abgerundetes Bild, sondern stecken voller Widersprüche. Genau darin liegt die historische Wahrhaftigkeit dieses Romans. Zugleich transportiert Böckmann die Gerüche, Geräusche, Milieus des nach Abgasen, Zigaretten und Schnaps riechenden, muffigen Alltags eines sich selbst als progressiv verstehenden Staats auf verblüffende Weise. Die Ambivalenz zwischen Utas Unschuld und Täterschaft kommt auch in kleinen Szenen zum Vorschein. Beispielsweise, wenn die junge Uta in ihrer Wohnung ihren Vater empfängt: Irgendwann später hat er mich mal besucht, und da hat er eine Einladung von der persischen Botschaft gesehen. Da hat er Augen gemacht! Meine Tochter beim Empfang in der persischen Botschaft! Da habe ich ihm alles erzählt. Also nicht das mit dem Sex, aber, dass ich da für die STASI hingehe, in deren Auftrag, und dass ich schon seit vier Jahren für die arbeite. Da war er stolz! Damit hatte er gar nicht gerechnet. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Clemens Böckmann, so kann man nachlesen, hat für seinen Roman ausgiebig recherchiert. Es gab schon einige, durchaus gelungene Versuche, den Staatssicherheitsapparat der untergegangenen DDR in Literatur zu fassen, Wolfgang Hilbig mit seinem grandiosen Roman „Ich“ zum Beispiel. Aber in den vergangenen Jahren hat sich nun eine neue, junge Generation von Autorinnen und Autoren herausgebildet, die sich dem Leben in der DDR nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus der Sicht der Nachgeborenen nähert. Der 1988 geborene Clemens Böckmann gehört zu diesen neuen Stimmen und bekommt nun für sein vielschichtiges, komplexes Debüt „Was du kriegen kannst“ den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung – verdientermaßen. Was genau in diesem Buch erfunden und was in Archiven entdeckt wurde, bleibt bewusst unklar. Wer Uta Lothner tatsächlich war, weiß man nach der Lektüre nicht und soll es auch nicht wissen. Aber wie kann man einer solchen versehrten Existenz mit all ihren Brüchen, die bis in die Gegenwart hineinreichen, gerecht werden? Die Antwort auf diese Frage ist dieses Buch: Indem man von ihr erzählt.

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