SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Nov 24, 2024 • 9min

Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich | Buchkritik

Zu Beginn sollte man einem Missverständnis vorbeugen: Macht und Herrschaft im Zarenreich - dahinter könnte sich womöglich eine zähe Strukturgeschichte verbergen, ein akribischer Röntgenblick durch das gesamte Herrschaftssystem zwischen Baltikum und Wladiwostok bis hinunter ins kleinste Dorf, der auf über tausend Seiten dann wirklich nur absolute Insider interessiert. Zum Glück aber ist dieses dicke Buch alles andere als das. Jörg Baberowski hat eine bewundernswert kenntnisreiche und dennoch gut lesbare, stellenweise sogar fesselnde Geschichte der Zarenherrschaft geschrieben. Sie beginnt um 1700 herum, mit jenem Zaren, der in Russland ein neues Zeitalter einleitete: mit Peter dem Großen. Schwerwiegendes Strukturproblem Peter wollte den Fortschritt Europas nach Russland bringen. Aber Jörg Baberowski sieht einen ähnlichen Mangel wie unter Peters Vorgängern: Rußland wurde nicht von Königen und Ständen, sondern von Tyrannen und Sklaven regiert. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Denn unter Peter und unter seinen Nachfolgern litt das Riesenreich - anders als etwa Frankreich, England oder Preußen - unter einem fatalen Strukturproblem. In Rußland gab es keinen mächtigen, regional verwurzelten Adel mit Grundbesitz, dessen Wert schwer gewogen hätte. Die Adligen waren Knechte des Zaren und zugleich Herren der Bauern. Auf diesem Fundament ruhte das System der Selbstherrschaft. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Mit Gewalt auf allen Ebenen, bis hinunter ins kleinste Dorf auf Kamtschatka. Nur so ließ sich das größte Land der Erde zusammenhalten. Dabei kann Baberowski zeigen, wie sich im 19. Jahrhundert durchaus freiheitliche Ideen ausbreiteten. Um 1880 schien in Petersburg gar eine regelrechte Aufbruchsstimmung zu herrschen. Kein anderer als Fjodor Dostojewski beschwor die Mission Russlands, die ganze Menschheit im Frieden zu vereinen. Seine Zuhörer reagierten euphorisch, wie Dostojewski seiner Frau schrieb: Ich kann Dir das Geheul, das Gebrüll der Begeisterung gar nicht beschreiben: Die Menschen im Publikum weinten, Fremde fielen sich in die Arme und brachen in Tränen aus und schworen einander, bessere Menschen zu sein, sich in Zukunft nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Alle stürzten zu mir aufs Podium, vornehme Damen, Studenten, Staatssekretäre und wieder Studenten – all das umarmte und küßte mich. Alle, buchstäblich alle, weinten vor Begeisterung. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Von der westlichen Aufklärung abgeschnitten Aber solche Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Aufklärung schlugen keine Wurzel; und sie kamen für das Riesenreich viel zu spät. Baberowski konstatiert: Die Vorstellung, der Mensch sei ein autonomes Wesen, verbreitete sich in Rußland erst zu einer Zeit, als sich der autoritäre Staat im Leben der Untertanen bereits fest verwurzelt hatte. In Rußland waren Freiheit und Individualität mit der Vorstellung verbunden, eine Person könne nur sein, wer sich dem Staat und seinen Formen widersetzte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Also ein anarchische Totalobstruktion, ähnlich wie sie heute mitunter in sogenannten sozialen Netzwerken en vogue ist. Unter diesen Umständen konnte man für sinnvolle Oppositionsarbeit kaum Anhänger finden. So hielt Kirchenminister Konstantin Pobedonoszew den Liberalen sein pessimistisches Menschenbild entgegen: Pobedonoszew glaubte nicht an die erzieherische Kraft vernünftiger Argumente. Schwach, selbstsüchtig, dumm, gegenüber jeder Vernunft immun seien die meisten Menschen. Demokratie und Rechtsstaat seien in den Ländern des Westens Schöpfungen einer gebildeten, selbstdisziplinierten Elite, die sich auf eine lange Tradition des Individualismus berufen könne. Worauf aber könnten die liberalen Petersburger Eliten schon verweisen? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich So gab es in Russland lange Zeit weder Parteien noch Gewerkschaften. Keine Organisation, die sich als oppositionelle Kraft tatsächlich auf nennenswerte Teile der Bevölkerung hätte stützen können. Diese Bevölkerung begehrte durchaus auf, wenn ihr etwas nicht passte. Aber, so Baberowski: Die meisten Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben, wußten nicht, wie sich Bedürfnisse zur Sprache bringen und durchsetzen ließen. Arbeiter zerstörten Maschinen, verwüsteten Kontore und plünderten Läden, ballten sich auf den Straßen in Massen zusammen. Aber nie kam ihnen in den Sinn, daß sich Gewalt nur dann in produktive Energie verwandeln ließ, wenn man sie in den Dienst von Zwecken und Zielen stellte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Der letzte Zar: machtlos So erschöpfte sich Protest in tumbem, ziellosem Aufruhr. Auf der anderen Seite stand eine immer schwächere Monarchie. Zar Nikolaus II. war nurmehr ein Spielball der Interessen und der Intrigen bei Hofe. Alles blieb in der Schwebe, niemand wußte, wem der Zar sein Vertrauen schenken würde. Wie hätte sich unter diesen Umständen ein Gefühl für die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahren durchsetzen können? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich 1905: die erste Revolution 1905 erlebte Russland seine erste Revolution. Der gerissene Premierminister Sergej Witte schaffte es, Nikolaus Zugeständnisse abzuringen: In seinem berühmten Oktobermanifest machte der Zar sein Reich tatsächlich zu einer konstitutionellen Monarchie. Damit aber hatte er in dem Land, in dem schon so viele Reformen gescheitert waren, keine Chance. Die einen hielten das Oktobermanifest für ein leeres Versprechen, die anderen für einen Verrat an der Autokratie. Seine Versprechungen glätteten die Wogen nicht, sondern verwandelten den Proteststurm in einen Orkan. Es gab in den Jahren der ersten Revolution wahrscheinlich keinen Ort in Rußland, der nicht vom Terror heimgesucht wurde. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Im ganzen Land ließen die Bauern ihrem aufgestauten Zorn freien Lauf. Sie wandten sich gegen ihre adligen Herren, steckten deren Schlösser in Brand. In Saratow an der Wolga beobachtete das die damals 20jährige Maria von Bock. Was für eine Ironie der Geschichte. Das erste zerstörte Herrenhaus gehörte jenem liberalen Gutsbesitzer, der gewaltige Summen für die Subventionierung der linken Zeitungen geopfert hatte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Wittes Politik der Verständigung war steckengeblieben. Nur mit rücksichtslos harter Hand brachte Innenminister Iwan Durnowo die Lage unter Kontrolle. Ohne die Entschlossenheit, ja Skrupellosigkeit Durnowos aber wäre der zarische Staat wahrscheinlich schon im Dezember 1905 zusammengebrochen. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Reformer ohne Chance Er hielt sich noch knapp zwölf Jahre. Baberowski weiß noch von hoffnungsvollen Ansätzen zu berichten: Die Gewalt nach der Revolution habe die Liberalen zur Einsicht gebracht, dass sie, statt im Parlament geräuschvoll Fundamentalopposition zu betreiben, mit dem Zaren und seiner Regierung verhandeln mussten. Dann konnten sie Zugeständnisse erreichen. Auf der Regierungsseite kam ihnen der neue Ministerpräsident Pjotr Stolypin entgegen. Stolypin legte nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Zaren Fesseln an. Witte hatte das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt. Stolypin bewahrte sie vor dem Untergang. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Aber Stolypin wurde ermordet, 1911 in Kiew. Mit diesem Attentat schließt das Buch. Man legt es ungern aus der Hand. Reizvoll zu lesen wäre eine Fortsetzung: zu Russlands Weg in den Ersten Weltkrieg, zur Februarrevolution 1917, schließlich zu der Katastrophe für die Menschen in Russland, die übrigens von kaiserlich deutscher Seite eingefädelt wurde: Lenins Oktoberrevolution mit dem Beginn der jahrzehntelangen sowjetischen Tyrannei. In einem vergleichsweise knappen Buch hat Baberowski sich vor drei Jahren schon damit befasst. Hoffentlich schreibt er auch sein Monumentalwerk künftig noch dahingehend weiter. Für den Moment beschränkt er sich auf eine leise Mahnung: Man wird die Revolutionen der Jahre 1905 und 1917, Lenins Terror und Stalins Gewaltherrschaft, nicht verstehen, wenn man sie nur als Ausdruck eines Ideenkonfliktes und nicht auch als Versuche begreift, eine bedrohte Ordnung vor dem Zerfall zu bewahren. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Nachdem durch immer neue Gewaltorgien im ganzen Reich ganze Generationen traumatisiert worden waren. Russische Tragödie So erzählt dieses höchst lesenswerte Buch letztlich eine bedrückende Geschichte: Die Geschichte eines riesigen Landes, in dem enormes Potential steckte, in dem aber immer wieder Chancen verpasst wurden. Weil die Monarchie zumeist keine Ahnung hatte, wo ihre Untertanen der Schuh drückte, und nur Härte kannte. Weil eine liberale Opposition viel zu lange unrealistische Ziele verfolgte. Weil das zaristische Establishment Reformern in der Regierung Knüppel zwischen die Beine warf. Und weil die Masse der Bevölkerung von Politik nichts wissen wollte. Vielleicht war dieses Land in seiner Vielfalt aber auch zu groß, um anders als mit Härte zusammengehalten zu werden. Zwischen den Zeilen kann man bei Baberowski herauslesen, dass er in den Reformjahren nach 1907 Chancen sieht, Russland tatsächlich in eine stabile konstitutionelle Monarchie zu verwandeln. Der Erste Weltkrieg aber setzte all diesen Versuchen ein Ende. Und so war er mit seinen Folgen vielleicht für Russland noch mehr als für die übrige Welt die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Mit Folgen bis heute.
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Nov 24, 2024 • 55min

lesenswert Magazin: Von menschengemachten Krisen und tierisch unheimlichen Begegnungen. Neue Sachbücher helfen beim Bewältigen.

Neue Bücher von Jörg Baberowski, Jan Mohnhaupt und anderen.
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Nov 24, 2024 • 6min

Peter Heather & John Rapley – Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens

Wir spiegeln uns in Rom, und es ist gerade der Untergang des Reichs, der immer wieder zur Folie unserer eigenen Gegenwart herangezogen wird. So auch in „Stürzende Imperien“ von Peter Heather und John Rapley. Peter Heather ist Althistoriker und unterrichtet am Kings College in London, er ist ausgewiesener Experte für die Spätantike, John Rapley ist Ökonom in Cambridge und Fachmann für das Gebiet Globalisierung und Ungleichheit. Beide lehnen die schon klassische Erzählung ab, die es längst ins Arsenal der rechtspopulistischen Agenda gebracht hat, dass Rom an seiner eigenen Dekadenz und an einer Barbareninvasion gescheitert sei. Nein, sie bestehen darauf, dass das antike Rom sich nach der Krise des 3. Jahrhunderts wieder berappelt hat und durch die Reichsteilung, die Tetrarchie, eine Verwaltungsreform und eine modifizierte Besteuerung um 400 u. Z. sogar auf dem besten Weg in eine goldene Zukunft gewesen sei. Ein Lebenszyklus eines Imperiums Aber warum dann trotzdem der nicht zu bestreitende Kollaps wenige Jahrzehnte später? Die beiden Autoren entwickeln so etwas wie einen Lebenszyklus eines Imperiums, das sie geopolitisch aufteilen in das eigentliche Machtzentrum, dann die Provinzen noch innerhalb des Reichs, und die Peripherie außerhalb der Grenzen. Was sie beobachten, ist eine zunehmende Bedeutungsumkehrung von Zentrum, Provinz und Peripherie. Die Waren- und Menschenströme in die Randgebiete stärken diese Bereiche wirtschaftlich so, dass aus der abhängigen Provinz bedeutende Städte wie Trier oder York in England werden, wogegen die ökonomischen Daten von Italien nach unten zeigen. Und während die ersten Schlachten mit den, wie die Römer sie nennen, Barbaren schon mal verloren gehen können, siehe die Varus-Schlacht im Jahr 9 unserer Zeit, weil die germanische Bündnisse einfach nach den Siegen wieder zerfallen, sehen sich die Römer 300 Jahre später ganz anderen Gegnern gegenüber. Militarisierte Strukturen in der Peripherie In der Peripherie haben sich feste, stark militarisierte politische Strukturen gebildet, es gibt Könige, gut ausgebildete Heere, die von ihren römischen Feinden gelernt, ja sogar als Foederati für den römischen Kaiser gekämpft haben – ein ganz spezieller Wissenstransfer, der das Zentrum schwächt und die Ränder stärkt. Diese stabilen Verbände tragen die Namen, die ihnen die frühere Geschichtswissenschaft gegeben hat, Westgoten, Ostgoten, Vandalen, Alanen, obwohl man sie heute nicht mehr Völker nennen würde. Sie sind nur unter großem militärischem Aufwand kontrollierbar, wenn überhaupt, was natürlich die Finanzlast für den Kaiser wiederum erhöht. „Einen menschlichen Tsunami“: der Hunnensturm Ein Teufelskreis. Aber der entscheidende Schock ist das Auftauchen der Hunnen, die wohl aus klimatischen Gründen gen Westen stoßen und die Peripheriebewohner hinein ins Reich treiben. „Einen menschlichen Tsunami“ nennen Heather und Rapley den Hunnensturm. Nun befehlen die fremden Herrscher gleichsam Enklaven im römischen Reich mit dem Effekt, dass lokale Großgrundbesitzer sich ihnen zuwenden und lieber vor Ort die Steuern zahlen als einem fernen Zentrum. Eine Finanzkrise im Kernbereich ist unumgänglich. Die Geschichte des Westens Heather und Rapley deuten nun auch die Geschichte des Westens nach diesem Schema, was manchmal nur mit einem etwas grobem Keil gelingt, schon weil es den Westen als politische Einheit nicht gibt. Die großen Player der Neuzeit entstehen jeweils an den Rändern eines Reichs, die Niederlande folgen Spanien und Portugal, dann entsteht das britische Empire, mit dem Ableger USA, der nach dem 1. Weltkrieg die globale Macht innehat, wenn man denn Russland etwas aus den Augen verliert. Und heute? Sind die einstigen Kolonien bzw. Peripherien wie Indien, Südkorea, Brasilien nach Heather und Rapley die neuen Boom-Staaten, was die wirtschaftlichen Daten nicht immer hergeben, während der alte Westen unter geringen Wachstumsraten, enormem Schuldenstand und demographischer Unwucht stöhnt. Wer sind die Hunnen von heute? Und China? China hat es zum zweiten Hegemon gebracht, zur anderen Großmacht wie zu Roms Zeiten das Sassanidenreich in Persien. Aber während damals die entscheidende Währung das knappe Land war, heißt sie heute Geld, das scheinbar unbegrenzt zur Verfügung steht. Darum ist die kritische Frage: Wer sind die Hunnen von heute? Wer zerstört die fragile Balance? War es Corona? Oder sind es doch die sich auftürmenden Schulden, weil nur mit viel Geld die gesellschaftlichen Konflikte noch zu übertünchen sind? Ganz klar wird das nicht. Politisch sind Heather und Rapley wackere geistige Sozialdemokraten. Sie glauben zwar nicht mehr an ein „Make den Westen great again“, aber sehr wohl daran, dass eine kluge Außenpolitik es ermöglicht, zwei Hegemonialmächte zum gewinnbringenden und fairen Ausgleich zu bringen, nämlich China und die USA, und eine clevere Innenpolitik mit einer stärkeren Besteuerung der Vermögen, nicht der Einkommen, dem Staat die Gelder zur Verfügung stellt, um einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Kein lachender Dritter Das liegt zweifelsohne nicht im Zeitgeist. Der erinnert eher an die Verzwergung des oströmischen Reichs, das sich zusehends mit dem persischen Imperium kriegerisch verkeilt hatte, wodurch es einen lachenden Dritten gab, die unter der Fahne des Islam neu vereinigte arabische Welt, der die beiden erschöpften Streithammel nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Wenigstens ist im Augenblick ein lachender Dritter nicht in Sicht.
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Nov 21, 2024 • 4min

Francesca Melandri – Kalte Füße | Buchkritik

Francesca Melandri stellt in ihrem Buch viele kluge Fragen über Krieg und Frieden, aber über allem steht die Überlegung, ob sich Geschichte tatsächlich wiederholen kann. Melandri sagt: „Ja“. Zum Beweis zeichnet sie in ihrem Buch „Kalte Füße“ frappierende Parallelen nach, die sie zwischen dem Faschismus des 20. und des 21. Jahrhunderts erkennt, wenn man die Ukraine in den Blick nimmt. Erst kamen die Nazis, dann Putin, der seinen Krieg groteskerweise als Feldzug zur Entnazifizierung der Ukraine tarnt.   Was ist Faschismus?  „Was ist Faschismus?“, fragt Melandri den italienischen Widerstandskämpfer Massimo Rendina:   Faschismus ist kein politisches Phänomen‘, erklärte er mir. ‚Faschismus ist eine Geisteshaltung‘. Und für dich verwandte er den Begriff anständiger Faschist. Seither bin ich verwirrt, Papa. Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri hat weite Teile ihres Buches in der Form eines Zwiegesprächs mit ihrem verstorbenen Vater Franco verfasst. Aber was soll ein anständiger Faschist sein? Rendina war 1942 mit dabei, als Franco Melandri als Kommandeur einer Truppe so genannter „Gebirgsjäger“ in der heutigen Ukraine gegen die Russen kämpfte. Die „Alpini“ waren Verbündete Nazideutschlands. Rendina stieg aus. Melandri blieb dabei, erkrankte schwer und wurde in Rom als Journalist beim Faschistenblatt „Gazzetta del Popolo“ eingesetzt. Dort trafen sich die beiden wieder: Rendina fungierte als Spion der Partisanen, Melandri schrieb seine Artikel, die mitunter neben der Tageslosung von Goebbels standen. Aber der Vater hat Massimo Rendina nicht verraten.   Licht- und Schattenseiten eines Vaters  Francesca Melandri liebt ihren Vater sehr. Der literarische Teil ihres Buches behandelt Konflikt und Qual einer Tochter, die mit dem Unterschied klarkommen muss, was der Vater für sie war und was er in der Welt draußen womöglich angerichtet hat. Seite für Seite folgen wir der Autorin in ihrer steigenden Verzweiflung.   Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa? Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri fährt in die Ukraine, um zu den Orten zu recherchieren, an denen ihr Vater Krieg führte. Wir kennen ihre Namen aus den Nachrichten: Isjum, Charkiw, Mykolajiwka. Für seinen Einsatz in Mykolajiwka erhielt Franco Melandri einen Tapferkeitsorden in Silber. Die Tochter, so lesen sich ihre hochemotionalen Ausführungen zum Krieg dort heute, ist entschlossen, vielleicht auch stellvertretend für den Vater, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen. Die Russlandfreunde unter den Linken sind ihr suspekt geworden.   Was bringt es, uns als stolze Antifaschisten zu fühlen und Bella Ciao zu singen, aber dann einen lupenreinen Faschisten wie Putin nicht zu erkennen, wenn er direkt vor uns steht?   Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Der Wolpertinger unter den Büchern  „Kalte Füße“ ist eine rasante Mixtur vieler Textformen. Neben der Zwiesprache mit dem Vater, gibt es kluge essayistische Passagen, zum Beispiel über Hartnäckigkeit und Heldentum, eine Nacherzählung der Familiengeschichte der Melandris, Protokolle, Reportagen, historische Ausführungen, etwa zu einem sibirischen Lager, in dem einst Solschenizyn gefangen war und heute russische Deserteure eingesperrt sind.  Da ist es wieder, Putins Projekt, das zukünftige Russland in die Windungen der Vergangenheit einzuwickeln.  Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Eine Tragödie, die sich als Farce wiederholt  Der Titel „Kalte Füße“ bezieht sich auf zwei Dinge: einmal konkret auf die nahezu erfrorenen Füße der italienischen Gebirgsjäger 1942 in der Ukraine und zum anderen auf die symbolisch kalten Füße der Westeuropäer, gegen Putin Partei zu ergreifen.   Geschichte wiederholt sich, so Francesca Melandris Grundthese. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. „Hegel bemerkte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen“, schreibt Karl Marx im Jahr 1852 Hegel habe aber „vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
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Nov 20, 2024 • 4min

Jonas Grethlein – Hoffnung

Hoffnung habe in der Polykrise der Gegenwart Hochkonjunktur, schreibt Jonas Grethlein zu Beginn seiner „Kulturgeschichte eines Weltverhältnisses“ und stellt sich die Frage, woher dieses Gefühl eigentlich kommt. Oder ist es gar kein Gefühl, sondern eine Strategie, über welche die menschliche Ratio frei verfügen kann – zum Trost, zur Bestärkung oder gar zur Flucht vor und aus den Bedrängungen des Lebens?  Unterschied zwischen Hoffnung und Utopie  In acht Kapiteln spannt Jonas Grethlein einen Bogen von der homerischen Antike bis ins 21. Jahrhundert und zeigt dabei die Facetten eines Begriffs, der in die Zukunft weist: So wie die Erinnerung sich der Vergangenheit, so wendet sich die Hoffnung der Zukunft zu. Aber was unterscheidet die Hoffnung von der Utopie?   Utopie ist ganz wörtlich genommen der Nicht-Ort. Es handelt sich um Idealvorstellungen, die sich so nicht realisieren lassen. Hoffnungen haben dagegen immer etwas als Gegenstand, was einem als möglich und prinzipiell realisierbar erscheint. Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Es geht offenbar um eine beidseitige Beeinflussung: „Hoffnung“ ist von der jeweiligen Kultur geprägt – Grethlein zitiert den römischen Historiker Sallust, der in der Hoffnung einen Ausdruck eines Sittenverfalls sieht, spiegele sie doch die Gier römischer Hegemonialpolitiker; aber umgekehrt prägt sie auch das Denken der Menschen und führt zu einem kulturellen Paradigmenwechsel: Nur drei Generationen nach Sallust steht der positiv konnotierte Hoffnungsbegriff im Zentrum der Lehre des Apostels Paulus und wird zur folgenreichen Begründung einer Religion, welche die Hoffnung zur Tugend erhebt. Ist es vermessen, von einem Anzeichen des Endes der Antike durch diese paulinische relecture des lateinischen Begriffs „spes“ bzw. des griechischen Begriffs „elpis“ zu sprechen, die beide mit Hoffnung übersetzt werden?   Paulus ist in der Geschichte der Hoffnungen eine wichtige Zäsur; war Hoffnung davor in der Antike etwas eher Ambivalentes, so wird Hoffnung jetzt als die Hoffnung auf das Ewige Leben ganz stark und positiv aufgeladen.   Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Hoffnungsbegriff als treibende Kraft in der Geschichte  Aber auch im Hochmittelalter erweist sich der Hoffnungsbegriff und seine Wandlungen als treibende Kraft: Inmitten einer durch ein nachgerade in Stein gemeißeltes ordo-Denken geprägten Epoche entfaltete sich durch die christliche Hoffnung eine eigene Dynamik: Es war die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore, die laut Jonas Grethlein die diesseitige Zukunft als Raum für weitreichende Hoffnungen eröffnete – was aber eben auch zu utopischen Zukunftsentwürfen führte. Letztere haben ein Charakteristikum des Hoffnungsbegriffs geschwächt – nämlich die Unverfügbarkeit. Oder mit den Worten Jonas Grethleins: „Hoffen ist an Kontingenz gebunden, sie entfaltet sich im Raum des Anders-Sein-Könnens und zielt auf Unverfügbares.“ Somit ist Hoffnung inkompatibel mit den großen geschichtsdeterministischen Ideologien des 19. Jahrhunderts: Weder die Revolutionsvorhersagen des Marxismus noch die Idee, dass der Nationalstaat das Telos der Geschichte sei, können – so Grethlein – mit Hoffnung assoziiert werden, weil sie die Geschichtlichkeit des Menschen leugnen und Kontingenz durch die Notwendigkeit des Fortschritts ersetzen.  Und was wird aus der Hoffnung im Schatten der Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts? Das vorletzte Kapitel öffnet ein Panorama, das von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ über Albert Camus‘ Skepsis gegenüber jeglicher Hoffnung bis hin zu Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung reicht. Wo aber bleibt – so fragt Grethlein – die Hoffnung im Konzentrationslager? Offenbar droht der Hoffnung angesichts von Auschwitz das gleiche Schicksal, das Adorno für die Poesie diagnostizierte, nämlich die Unmöglichkeit.  Hoffnung motiviert Handeln  Und doch gibt es Hoffen im Anthropozän – so der Titel des letzten Kapitels; aber es gibt sie womöglich nur um den Preis ihrer Funktionalisierung: „Hoffnung motiviert nicht nur Handeln, sie trägt auch zur Zufriedenheit bei“, heißt es gegen Ende eines Buchs, das Hoffnung – daran sei erinnert – eingangs als Weltverhältnis charakterisiert. Angesichts von Klimakrisen, Kriegen und politischen wie sozialen Verwerfungen ist die Hoffnung eine Herausforderung. Jonas Grethleins Buch ist ein Plädoyer dafür, sie anzunehmen.
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Nov 19, 2024 • 4min

Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

Die Anwohner sind längst gegangen. Sie fliehen vor dem Hochwasser. Nur eine nicht: Die 81-jährige Gudelia harrt aus in ihrem Haus. Sie will es nicht den drohenden Fluten überlassen, nicht dem Durcheinander danach.  »In dem Haus ist mein ganzes Leben.« Er schnaubt. »In dem Haus ist dein ganzes Leid.« Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu. Wir haben beide recht.  Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Gudelia – das wird in Thomas Knüwers Kriminalroman von Anfang an deutlich – hat etwas zu verbergen. Was genau? Das erzählt Knüwer auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1984 stirbt Gudelias 15-jähriger Sohn Nico, nachdem er mit Schulfreunden auf einer Party war. Im Straßengraben findet sie ihn. „Schwuchtel“ steht auf seinem Unterarm mit Edding geschrieben. Vierzehn Jahre später – also 1998 – zerbricht ihre Ehe. Ihr Ehemann hat schon immer viel getrunken. Aber seit dem Tod seines Sohnes hat er kaum etwas anderes gemacht. In der Erzählgegenwart 2024 setzt das Hochwasser ein. Gudelia bewacht ihr Haus und sieht in der Nacht die Leichen zweier Menschen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind.   Psychogramm einer trauernden Frau  Dieser Kriminalfall um die zwei gefesselten Menschen wird in „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ eher beiläufig abgehandelt, er wäre auch nicht nötig gewesen: Die Vergangenheit ist spannend genug. Man ahnt zwar früh, was Gudelia verbirgt. Das gesamte Ausmaß überrascht aber doch. Gudelias Tun wird mit zu vielen unnötigen Details geschildert, die für einige Seiten das zuvor gekonnt gehaltene Erzähltempo verlangsamen. Der Wunsch, alles zu erklären, nimmt dem Wahnsinn Gudelias die verzweifelte Unerbittlichkeit. Überwiegend aber gelingt es Knüwer, mit knappen Sätzen und präzisen Beobachtungen Atmosphären und Szenen entstehen zu lassen.   Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier.  Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Horror in der Provinz   Mit klug gewählten Details entwirft Knüwer Gudelias Leben in dem fiktiven kleinen Dorf Unterlingen, irgendwo im Süden Deutschlands. Mit einer Zeitung namens „Donau-Nachrichten“, ein bisschen Landwirtschaft, einer Kirche und einem Pferdehof. Gudelia dachte, sie weiß, wie es sein würde, mit Mann und Kind alt zu werden. Nicos Tod hat alles erschüttert. Das spiegelt sich in der bündigen Erzählweise, den zwischen den Jahren wechselnde Kapiteln und den kurzen, bruchstückhaften Passagen, die zugleich eine dräuende Spannung aufbauen. Knüwer, gelernter Journalist und Inhaber einer Digital- und Kreativagentur, erkennt eine Pointe, wenn sie sich bietet, strapaziert sie aber nicht über. Vielmehr durchbricht er damit für einen Moment das schleichende Grauen dieses Dorfhorrorromans.   Niemand darf hier sein. Niemand. Hinter dem Garten stehen drei Fichten. Bernhards Rhododendron ist gut gewachsen. Höher, als ich groß bin. Die Blätter glänzen braun, sie stinken. Der Garten hat die Fluten überstanden und mit Schönheit bezahlt. Die Pflanzen sind stark. Sie verbergen, was der Riss offenbart – was ich seit vierzig Jahren verstecke.  Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Das Szenario, das Thomas Knüwer entwirft, ist erschreckend nah an der Realität, nicht nur eines Lebens in einem Dorf. Erst im Sommer gab es Hochwasser in Süddeutschland. Die Bilder von Wassermassen, überfluteten Häusern und zerstörten Gebäuden übermitteln aber nicht den bestialischen Gestank, der sich durch überflutete Gebiete zieht. In Unterlingen entstanden durch Schweinekadaver, Dreck und übergelaufene Kanalisation. Für Gudelia ist dieser Gestank eine Waffe. Er hält unerwünschte Eindringlinge fern. Doch gegen das Wasser gibt es kein Mittel. Unerbittlich dringt es in jede Ritze des Hauses ein. Und spült in diesem packenden Kriminalroman die ganzen dreckigen Geheimnisse nach oben.
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Nov 18, 2024 • 4min

Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt

Werden Eltern alt, sehen sich ihre Kinder häufig, auch wenn sie nicht vor Ort wohnen, mit wachsenden Aufgaben konfrontiert. Peggy Elfmanns Anregungen, wie man die Situation etwas entspannter meistern kann, sind im vertraulichen Ton einer Freundin geschrieben, die gerade durchgemacht hat, was einem selbst noch bevorsteht. Man wird als Leserin also geduzt. Gleichzeitig heißt es immer wieder – und hier denkt man dann eher an einen Coach oder Agenten: „Ich möchte Dich dazu einladen“ dieses und jenes zu versuchen, nachzudenken oder auch nur einmal innezuhalten. Das Thema ist ernst und belastend, gleichzeitig aber für viele eine Alltagserfahrung:  Über das Pflegen zu sprechen fällt schwer, denn es geht auch ums Abschiednehmen. Niemand kann dir sagen, was die Zukunft bringt und all die Wünsche und Pläne dafür brauchen immer wieder ein Update. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Der sich schnell verändernden Situation die besondere Schwere zu nehmen und in den permanenten Veränderungen ein Stück Normalität zu sehen, ist ein Anliegen des Buches. Den richtigen Zeitpunkt für Maßnahmen zu finden, die das Leben erleichtern, ist eine Kunst für sich. Häufig sind gerade die alten Eltern der Ansicht, dass alles „noch Zeit habe“. Das Zeitverständnis unterscheidet sich bei älteren Menschen grundlegend vom Tempo der um eine oder mehrere Generationen jüngeren Helferinnen. Und schnelle Lösungen sind eher nicht gefragt, stattdessen müssen Ideen sich erst allmählich entwickeln.   Schöne Momente sammeln  Die 50 Tipps der Autorin sind sehr unterschiedlich. Manches ist einfach nur banal, wie to-do-Listen zu schreiben und nach Wichtigkeit zu sortieren, gibt es tatsächlich Menschen, für die das etwas Neues ist? Andere Ideen klingen sinnvoll, so die Idee, schöne, gemeinsam erlebte Momente aufzuschreiben und auf Zetteln zu sammeln. Aber dann geht es sehr ins Detail:  So ein Marmeladenglas mit feinen Momenten kann einen kleinen Beitrag leisten. Und: Jeder kann es füllen. Egal ob Enkel oder Freunde. Schnappt euch ein Marmeladenglas, genießt den Inhalt auf Frühstücksbrötchen oder Pancake und verwendet das Gefäß dann für deine, für eure süßen Erinnerungen. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Im Gespräch unter Freunden mag dieser Vorschlag die Betroffenen aufmuntern. Liest man ihn in einem Buch, mutet er, solchermaßen munter ausgeschmückt, etwas zu pathetisch an.  Zuhören, einander Zeit schenken, Tannenzapfen oder Beeren von einem Spaziergang mitbringen, um Erinnerungen zu wecken oder haptisch ein wenig Natur zu genießen, Musik aus der Jugendzeit zu hören, all das mag bereichern oder auch die Melancholie wecken. Dennoch: Peggy Elfmann, die selbst drei Kinder alleine großzieht und aus der Ferne sich gemeinsam mit den Geschwistern um die Eltern gekümmert hat, führt warmherzig an die Probleme heran.   Nachsicht mit sich selbst walten lassen  Sie rät auch immer wieder dazu, nicht nur mit den alten Eltern nachsichtig zu sein, die nicht immer annehmen, was man ihnen Gutes tun möchte, sondern auch mit sich selbst. Niemand sollte seine eignen Interessen zu sehr vernachlässigen, sondern sich aktiv Hilfe bei der Bewältigung der kräftezehrenden Aufgabe suchen. Hier wird es schwierig. Unter Geschwistern, Enkeln und Verwandten kann man die Aufgabe nur aufteilen, wenn welche vorhanden sind. Ein soziales Netzwerk aus der Nachbarschaft und Freunden erfordert Offenheit und Vertrauen der alten Menschen. Und gerade auch zu Zeiten des demographischen Wandels: Schon in naher Zukunft wird es nicht mehr genügend agile Nachbarn geben, die hilfsbedürftige Alte unterstützen können, und wenn doch, sind diese vermutlich mit den eigenen Eltern beschäftigt. Hilfe von Außenstehenden zu bekommen, aber auch sie anzunehmen, ist schwierig, die Probleme liegen also tiefer und sie sind nicht einfach zu lösen. Man darf sich also von Elfmanns Ideen im konkreten Fall nicht allzu viel versprechen.
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Nov 17, 2024 • 2min

Doris Vogel – Dieses Buch gehört dem König 2.0

Eine lyrisches Biopic über Elvis Presley: Literaturkritiker Denis Scheck ist berührt von diesem Gedichtband von Doris Vogel über den „King“, seine Songs und sein Leben. Mit allen Registern des lyrischen Sprechens wird der Mensch Elvis Presley spürbar. Schecks persönliches Buch des Jahres.
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Nov 17, 2024 • 6min

Cemile Sahin – Kommando Ajax

Ein Hochzeitssaal in Rotterdam. Es ist das Jahr 1995. Die Familie Korkmaz. Eine Braut und ein Bräutigam. Ein Schuss. Und Keko, der Bräutigam, ist tot. Wer war es? Wer hat ihn ermordet? Und vor allem: warum? Von diesem Hochzeits-Murder-Mystery ausgehend zieht Cemile Sahin die Erzählstränge ihres Romans: Ein Scharfschütze ist ein Scharfschütze ist eine stille Person. Sein Sturmgewehr ist ein Echo, das durch die Geschichte hallt. Diese Szene ist wie eine Seite aus einem Buch, dessen Worte sich in den Pausen zwischen den Schüssen entfalten. Während der Scharfschütze seine Geschichte in stiller Konzentration weiterspinnt. Und während er darauf wartet, dass sein Ziel auftaucht, wird sein eigenes Schicksal zu einem Teil dieser Geschichte, die das Leben selbst ist. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Vergangenheit und die Zukunft einer kurdischen Familie Im Mittelpunkt von „Kommando Ajax“ steht eine kurdische Familie, mit Mitgliedern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Brüder, einer von ihnen, Keko, auf der Hochzeit ermordet. Ali Hüseyin, der dicke Dachdecker, mit dem Traum, Maler zu sein. Xidir, den die Polizei für Kekos Mörder hält. Ali Ekber und Ali Haydar, die auf dem Bau arbeiten und später eine Baufirma gründen. Und die Schwester Fatma, die ehrgeizige und clevere Putzfrau mit dem Traum vom Mercedes, obwohl sie gar keinen Führerschein besitzt. „Kommando Ajax“ führt uns in die Zeit, nach dem Mord, aber auch zurück in die Vergangenheit der Familie Korkmaz. Wir folgen Ali Hüseyin, der malt wie die Alten Meister, gekonnt wie Caravaggio, dessen Talent von den Brüdern belächelt wird. Ali Hüseyin malt nur Selbstporträts, aus verschiedenen Perspektiven mit der Landschaft des Heimatdorfes im Hintergrund. Er war der erste, der das kurdische Dorf verließ, um – mit Zwischenstopp in Istanbul - in die Niederlande zu emigrieren. Wer brachte ihn so versteckt nach Holland? Ein Schmuggler. Warum? Weil türkische Sicherheitskräfte Mezra über Nacht in Brand steckten. Warum? Sie führten einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, der schon begann, bevor Ali Hüseyin und seine Geschwister geboren waren. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Herausforderungen der Migration In Rotterdam müssen sich die verschiedenen Generationen nach der Flucht nach Europa neu orientieren. In der Familie Korkmaz geht man unterschiedlich mit dem neuen Leben im Exil um. Während Ali Hüseyin malt, wird der andere Bruder spielsüchtig. Schwester Fatma befreit sich von ihrem gewalttätigen Ehemann. Liebevoll schrullig zeichnet Sahin ihre Figuren voller seelischer Narben, und mit leisem, manchmal düsterem Humor beschreibt sie die Herausforderungen der Migration:  Auf der Baustelle lernte man die Sprache eines Landes viel schneller, weil auf der Baustelle immer alle Ausländer sind und sich eben über die neue Sprache verständigen, die sie mit ach und krach beim Arbeiten lernen, um sich besser zu verstehen, anstatt dass alle Ausländer in ihrer jeweiligen Ausländersprache miteinander sprechen und so nie jemand jemanden versteht. So reden alle schlecht Holländisch, aber die Männer auf der Baustelle reden besser als die Frauen, die in der Spielbank putzen gehen. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Cemile Sahins dritter Roman „Kommando Ajax“ ist Cemile Sahins dritter Roman. Und immer wieder beschäftigt sie sich in ihrer literarischen Arbeit mit der kurdischen Identität. Heimatlosigkeit und Sehnsucht nach den Wurzeln plagen die Figuren in „Kommando Ajax“. Eine weite Landschaft. Die Sonne wandert über Hügel. Über Berge. Zoom auf einen Gipfel. Die Sonne blendet. Zoom auf ein Lehmhaus. Eine Ziegenherde läuft durch das Bild. Zoom auf einen Birnbaum, der vor dem Lehmhaus steht. Zoom out. Ein Bild von sechs Geschwistern. Voiceover: Dies ist die Geschichte von sechs Geschwistern: fünf Brüdern und einer Schwester, die ihr Dorf, auf Kurdisch: MEZRA, das in Dêrsim liegt, verlassen mussten. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Ein aufwendig gestaltetes Buch Und wer hat nun den Bruder auf der eigenen Hochzeit ermordet? Das erzählt Sahin nach und nach, verwebt die Erzählstränge ineinander, führt uns spannend wie in einem Thriller auf falsche Fährten. Und neben glücklichen und unglücklichen Zufällen, Begegnungen mit Gangstern und Kriminellen, spielt die bildende Kunst in diesem Roman eine große Rolle. Cemile Sahin schreibt nicht nur, sie ist auch Künstlerin, sie arbeitet mit Video, Schrift und Fotomontagen. Diese Erfahrungen fließen in den Roman mit ein: Immer wieder tauchen Bilder und Grafiken mit auf, oft wird der Text selbst zu einem gestalterischen Element. Es gibt fast drehbuchhafte Passagen, Sahin springt wie im Filmschnitt zwischen Dialogen, Rückblenden und Zooms hin und her.   „Kommando Ajax“ ist visuell lebendig, sprachlich und dramaturgisch erfrischend. Absurde und doppelbödige Einfälle Und dann kommt auch noch - Stichwort: Murder Mystery - eine Agatha Christie ins Spiel. Die ist zwar Namensvetterin der britischen Krimipäpstin, in diesem Fall aber verwandtschaftlich mit dem Christies Auktionshaus verbandelt. Zoom auf Agatha Christie. Agatha Christie bekommt einen denkwürdigen Auftritt. Natürlich. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Was es mit dieser Figur auf sich hat, wird hier nicht verraten. Sahin überrascht immer wieder mit absurden und doppelbödigen Einfällen – und erzählt zugleich die Geschichte von prekären Existenzen, Schicksalsschlägen und der Sehnsucht nach einem Zuhause.   Das macht „Kommando Ajax“ zu einem spannenden, rasanten Stück Gegenwartsliteratur.  Ein kunstvoll gestaltetes Buch, das man gar nicht mehr weglegen mag. „Kommando Ajax“ - Kommando: lesen!
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Nov 17, 2024 • 6min

Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag

Prag an einem geschäftigen, sonnigen Herbstnachmittag: Touristen strömen durch die Gassen der Altstadt – auch vorbei an einem Renaissance-Haus, über dessen Holztür zwei Bären prangen. Es ist das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch, in dem sein Vater und Onkel einen Laden für Tuchwaren hatten, erzählt Krimiautor Martin Becker: „Der Onkel von Egon Erwin Kisch und der Vater hatten hier dieses Geschäft. Und Kisch war, so beschreibt er es selbst, als Kind oft dort und hat dort auch seine erste Zeitung namens ‚Zeitung‘ herausgebracht. Er hat halt Bleibuchstaben zusammengesucht, bis er irgendwann drei Sätze zusammen hatte, und hat dann quasi unter dem Tisch sitzend in diesem Tuchwarenladen seine eigene Zeitung rausgebracht." Schon zu Kischs Zeiten ist es in dieser Ecke Prags lebhaft zugegangen. Egon Erwin Kisch wird zum Kriminalreporter Der spätere „rasende Reporter“ wird hier bereits einiges von der Stadt mit ihren hellen und dunklen Seiten mitbekommen haben, ist sich Becker sicher: „Überliefert ist, dass Kischs Mutter vom Balkon aus manchmal die hier wartenden Prostituierten gefragt hat, wo denn Egonek sei. Und die haben dann gesagt, wissen wir nicht." In ihrem Roman machen Martin Becker und Tabea Soergel aus dem Reporter Egon Erwin Kisch einen Kriminalreporter, der eigene Fälle löst. Das liegt durchaus nahe, denn Kisch war in Prag bestens vernetzt und kam auch immer wieder mit Gaunern und Ganoven in Kontakt. Der Roman spielt im Jahr 1910. Kisch war damals 25, hatte sich bereits einen Namen gemacht und schrieb für eine konservative Tageszeitung: Das ist der Eingang der Bohomia. Quelle: Martin Becker Martin Becker blickt durch die Toreinfahrt eines klassizistisch anmutenden Hauses, in dem heute das Ballett des Prager Nationaltheaters probt und sagt: „Man kann einen kleinen Blick in den Hof hineinwerfen und sehen, dass da hundertprozentig Platz war für allerlei Druckmaschinen." Prag im Jahr 1910 – Alltag und politische Lage    1910 erschien die Bohemia zwei Mal am Tag. Tabea Soergel hat sich unzählige Ausgaben der Zeitung angesehen: „Man kann leider nicht, wenn man in diesem Archiv sucht, irgendwie Copy und Pasten. Aber ich habe wirklich von Hand sehr viele Artikel einfach abgeschrieben, wo ich dachte, das könnte man vielleicht noch mal gebrauchen." Im Buch finden sich viele Artikel der damaligen Zeit als Schlagzeilen wieder – in kurzen Aufzählungen, die viel über die politische Lage des Jahres 1910 und den Alltag in Prag verraten: In Britisch-Indien begann ein Aufstand gegen die Kolonialherrschaft, wovon man in Prag wenig Notiz nahm. Und genauso wenig Nachhall hatte dort die Ermordung des ägyptischen Ministerpräsidenten durch einen jungen Medizinstudenten. Und die deutschen Schüler der Kunstgewerbeschule in Prag traten aus Protest gegen die Entlassung eines deutschen Mitschülers tagelang in den Schulstreik. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag Für größere Aufregung sorgte damals der Halley’sche Komet, der an der Erde vorbeiraste und dessen vermeintlich giftiger Schweif die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Der Kriminalreporter wittert eine Sensation In diesem Tumult geht die Mordserie, die sich im Roman ereignet, fast unter: Erst stirbt ein Versicherungsmakler, dann der Kriminalreporter des Prager Tagblatts. Seinen Kollegen Kisch beflügeln diese Unglücke. Er wittert die große Sensation, den Solokarpfen, auf den er schon lange wartet: Wenn er hörte, dass es in manchen Familien zu Gerangel kam, weil jeder zuerst seine neue Gerichtsreportage lesen wollte, dann schmeichelte ihm das. Aber es reichte ihm nicht. Worauf Kisch seit Jahr und Tag lauerte, das war der große Scoop. Der Solokarpfen. Der ihn nicht nur in seiner Stadt, sondern im ganzen Land berühmt machen würde. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag In dem Fall voran kommt er allerdings nur mit Hilfe der Medizin-Studentin Lenka Weißbach. Sie ist von Berlin nach Prag zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Problematisches Verhältnis zu Frauen Während die Autoren ihre Kisch-Figur mit einem intuitiven Gespür für Situationen ausstatten, besticht Lenka durch einen scharfen, analytischen Blick. Dass es diesen zweiten Blick gibt, war Tabea Soergel wichtig: „Die ganzen progressiven jungen Literaten in Prag, also auch Kafka, die hatten alle ein sehr problematisches Verhältnis zu Frauen. Auch Kisch, glaube ich. […] Er war schon ein Macho. Okay, er hat auch sehr viele positive Seiten. Deswegen ist es eben auch gut, dass es eine sehr präsente weibliche Hauptfigur gibt neben ihm." Das historische Setting und die Dynamik der Figuren erinnern an die Kriminalromane von Volker Kutscher: Kisch ist wagemutig und melancholisch zugleich. Lenka kämpft dagegen mit dem Frauenbild ihrer Zeit. Besonders reizvoll macht die neue Krimireihe aber Prag als Handlungsort, den das Autorenteam mit vielen Details beschreibt - so wie mit dieser Szene, die sich am berühmten Wenzelsplatz zugetragen haben soll, meint Becker: „Spätnachts, wenn im Grunde alles schon zu hat, gab es - das hat Kisch sehr ausführlich beschrieben - mobile Teestationen, wo man eine Buchtel, eine Zigarette und einen Tee mit Schuss bekam. Kisch behauptet, dass die Teestation, die hier stand, angeblich von einer Dame betrieben wurde, die diesen Wagen von zwei Doggen ziehen ließ. Ob das stimmt, weiß man natürlich wieder nicht." Spannender und atmosphärisch dichter Krimi Auch wenn sie bei ihrer Recherche zahlreiche Biographien, Bildbände und natürlich die Reportagen von Egon Erwin Kisch zu Hand genommen haben, hätten sie sich ihren eigenen Kisch erfunden und es – genau wie der rasende Reporter – an der einen oder anderen Stelle mit der historischen Wahrheit nicht ganz so genau genommen, erzählen Martin Becker und Tabea Soergel. Mit Die Schatten von Prag ist ihnen ein spannender und atmosphärisch dicht erzählter Krimi gelungen, der Lust auf eine Fortsetzung macht. Und tatsächlich ist Kischs zweiter Fall bereits in Arbeit: Die Feuer von Prag, so der Arbeitstitel, soll im Herbst 2025 erscheinen.

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