

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Episodes
Mentioned books

Dec 1, 2024 • 13min
Lydia Davis: Unsere Fremden
Davis ist ein Star der Short Story. Ihre Texte sind streng durchgearbeitet, formbewusst und radikal reduziert. 147 Stories komprimiert sie auf 300 Seiten. Ihr Blick für die Paradoxien des Alltags und auch für deren Komik ist frappierend.

Dec 1, 2024 • 21min
Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes
Tezer Özlü, die 1986 starb, schrieb ihren Roman auf Deutsch, veröffentlichte ihn aber nur in eigener Übersetzung auf Türkisch. Nun ist erstmals die Originalversion zu lesen: Eine Prosa, die die Welt nicht beschreibt, sondern durchlebt.

Dec 1, 2024 • 17min
Katja Lange-Müller: Unser Ole
Es beginnt mit einer ungewöhnlichen Dreier-WG: Zwei Seniorinnen und ein autistischer Jugendlicher. Dann ereignet sich ein Unfall, der mehr als das gewesen sein könnte, und der Blick wird frei auf ein düsteres Mutter-Tochter-Verhältnis.

Dec 1, 2024 • 1h 8min
SWR Bestenliste Dezember
Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn.
Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“.
Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden.
Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer).
Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Absprung“ von Maria Stepanova (Platz 4).
Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.

Nov 28, 2024 • 4min
Michael Sommer – Mordsache Caesar | Buchkritik
Die Geschichte des Bürgerkriegs am Ende der Römischen Republik ist wohl kaum zu schreiben, ohne vom Aufstieg und Fall der großen Männer zu berichten – oder des einen großen Mannes: Caesars nämlich.
In seinem jüngst erschienenen Buch über die Mordsache Caesar verbindet der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer diesen Ansatz mit dem der longue durée, also der Beobachtung von langfristigen Strukturen der Vorgeschichte eines Ereignisses.
Dabei geht es ihm nicht nur um die letzten Tage des Diktators – so der Untertitel –, sondern die Geschichte der Republik schlechthin, dass nämlich die Geschichte von Caesars Ermordung 400 Jahre vor seiner Geburt mit der Gründung der Republik begonnen habe.
Der Resilienzvorrat der Republik war durch den Bürgerkrieg erschöpft
Der schon in den Jahren um Caesars Geburt 100 vor Christus tobende Krieg um die Vorherrschaft hatte den jahrhundertealten Freiheitsgedanken der römischen Patrizierschicht geschwächt.
Und diese Schwächung des republikanischen Konsenses zeigt sich womöglich nirgends so deutlich wie in Caesars von seinem ersten Biographen Sueton überlieferten Satz am Rubikon: „Diesen Fluss nicht zu überqueren, wird Unglück über mich bringen, ihn zu überqueren, über die ganze Menschheit.“
Als Caesar den Rubikon dann in seinem ganzen Machtwillen überquerte: War er lediglich Profiteur eines allmählichen Verfalls des republikanischen Gedankens oder war er ein Akteur mit einem Programm zur Beendigung des Bürgerkriegs? Dazu meint der Autor Michael Sommer:
Weder das eine noch das andere. Als Caesar am Rubikon stand, ging es ihm nur darum – seine Ehre – dignitas. Caesars Ego war so groß, dass es nicht mehr in die Republik mit ihren ehernen Prinzipien von Kollegialität und Annuität passte. Das Denken in den Kategorien von Standessolidarität und senatorischer Disziplin war dem Bezwinger Galliens fremd.
Quelle: Michael Sommer
Der Tyrannenmord geht aus dem Mythos der Freiheit hervor
Caesars Selbstbild hat also offenbar nichts mehr mit republikanischen Tugenden zu tun – und das ruft seine Mörder auf den Plan. Bei seinen Überlegungen zu diesem Mordfall sieht sich der Historiker Michael Sommer als Ermittler: Freilich sind nicht die Mörder zu ermitteln, denn diese handelten in aller Öffentlichkeit – sondern ihre Motive.
Und diese erschließen sich aus dem Mythos der Freiheit, ein Mythos, der sich im Namen des Haupttäters geradezu kondensiert: Lucius Junius Brutus war derjenige, der den letzten der Könige, Tarquinius Superbus, viereinhalb Jahrhunderte vor dem Mord an Caesar vertrieben hatte. Und dessen Mörder heißt wiederum Marcus Junius Brutus.
Das war Zufall – und doch wieder auch nicht. Nichts geschah in der römischen Geschichte ganz zufällig. Das historische Gedächtnis war lang, und die Ahnen schwebten wirkungsmächtig über allem, was bedeutende Römer an großen Taten vollbrachten,
Quelle: Michael Sommer - Mordsache Caesar
So schreibt es Michael Sommer und spielt damit auf die Wirkmacht des mos maiorum der Römer an, dieses Destillat erinnerter Geschichte, das besagte, keinen Alleinherrscher zu akzeptieren. Wenn die Vertreibung des letzten Königs um 500 vor Christus zum Gründungsnarrativ der Republik werden konnte, warum gelang es den Caesarmördern nicht, Kapital aus ihrer Tat zu schlagen?
Ja warum nicht? Es war ein mächtiges Narrativ, es hatte viele Menschen das Leben gekostet und noch viele mehr davon abgehalten, das Kollektiv der senatorischen Machtelite herauszufordern.
Als Caesar tot am Boden lag, traten sofort Ereignisse ein, mit denen die Mörder nicht gerechnet hatten und die ihren Plan A über den Haufen warfen. Plan A lautete: Die Leiche Caesars wegschaffen und die Jubelstimmung ausnutzen, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es gab aber keinen Jubel und das Rad der Geschichte lässt sich auch nicht zurückdrehen.
Augustus – „der junge Caesar“
Also galt es, den Schwung des Rades zu nutzen, um im Bild zu bleiben. Dies gelang Caesars Großneffen Octavian: Augustus ‚verkaufte‘ den Senatoren seine Alleinherrschaft als Fortsetzung der Republik und erklärte den Bürgerkrieg für beendet.
Pax Augusta nannte er es – den augusteischen Frieden, und Michael Sommer kommentiert lakonisch: „Sieger schreiben Geschichte.“ In seinem Buch über Caesars Ende lässt er seine Leser und Leserinnen hinter die Kulissen dieser Siegergeschichte schauen.

Nov 27, 2024 • 4min
Gipi – Geschichten aus der Provinz
In Gipis Comic-Welt wird es kaum je richtig hell. Meist ziehen sich hellgraue Aquarellhimmel über menschenleere Landschaften. Überhaupt ist Grau die beherrschende Farbe. Gefühlt herrscht ständig Winter, es schneit oder regnet oder ist kurz davor.
Jedes Dorf, jede Stadt gleicht der nächsten. Doch so trostlos Gipis „Geschichten aus der Provinz" auf den ersten Blick wirken – sie gehören zu den eindrücklichsten in der europäischen Comic-Szene. Denn Gipi lotet gekonnt die Dimensionen von Schuld, Loyalität und vor allem Gewalt aus. Obwohl explizite Gewalt selten in den Bildern zu sehen ist.
Keine Kämpfe, aber Atmosphäre der Bedrohung
Das gilt vor allem für sein Meisterwerk, für das Gipi 2006 den Grand Prix d'Angoulême gewonnen hat, den wichtigsten europäischen Comic-Preis: „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte." Darin lässt er die drei Freunde Stefano, Christian und Giuliano in einem Kriegs-Italien erwachsen werden.
Auch wenn in den Bildern nie Kämpfe stattfinden – die Atmosphäre der Bedrohung gräbt sich in ihr Leben und ihre Freundschaft. Erst recht, als sie sich einer Gruppe Milizionäre anschließen.
Die Gewalt, die jeden Moment auszubrechen droht, bringt die Unterschiede zwischen den dreien hervor. Sie zeigt, wie stark die soziale Schicht die Sicht auf das Leben prägt.
Stefano: Du hast nie abgedrückt. Nie wirklich draufgehauen! (…) Du bist nicht wie wir. Giuliano: Wie meinst du das, ich bin nicht wie ihr? Stefano: Das weißt du. Du bist nicht wie wir. Du bist anders. Deine Familie hat Geld. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, reicht ein Anruf und deine Probleme sind gelöst.
Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz
Verknappte Stilmittel
Gipis Strich zeigt, wie die erfahrene Gewalt sich als Härte in Körper und Psyche einschreibt. Seine Comics beweisen, dass man dafür nicht einmal besonders realistisch zeichnen muss. Die Gesichter seiner Protagonisten umreißt er als Flächen mit wenigen Linien.
Vor allem ihr Mund ist nur ein dünner, schwarzer Strich. Und doch ist jede Regung klar erkennbar. Angst, Verachtung, Ungläubigkeit - alles da. Diese Knappheit setzt sich als Stilmittel fort bis in die Dialoge und die Dramaturgie. „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" bleibt auch knapp 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein Comic von Weltrang.
Nicht alle Kurzgeschichten in diesem Band können dieses Niveau halten. „Zwei Pilze" aus dem Jahr 2005 sieht eher aus wie ein Rohentwurf. Grobe, mit schwarzem Stift hingeworfene Zeichnungen deuten an, dass es für die Hauptfigur um die Trauer nach dem Tod eines Freundes geht; um das komplizierte Verhältnis beider Männer zu den Vätern.
Racheplan nach Inhaftierung
Doch was wie ein Auftakt wirkt, endet abrupt. In sich stimmig ist dagegen „Sie haben das Auto gefunden", ein kurzer, verstörender Psycho-Thriller, der ebenso von dem lebt, was er ausspart wie von dem, was er zeigt. Genauso wie „Die Unschuldigen", ausgezeichnet mit dem Max und Moritz-Preis für den besten internationalen Comic.
Wieder bewegen sich knapp und kantig gezeichnete Männer durch eine blassgraue Aquarell-Landschaft. Zwei Freunde treffen sich nach Jahren wieder. Einer von ihnen hat lange im Gefängnis gesessen.
In Rückblenden, abgehoben von der Handlung als grobe Skizzen in Schwarzweiß, erfahren wir, dass damals Polizeiwillkür im Spiel war. Jetzt will der aus dem Gefängnis Entlassene Rache nehmen.
Männliche Abgründe
Valerio: Sie stehen unter Hausarrest und sitzen gemütlich zu Hause. Sind aber keine Polizisten mehr. Die Pistolen sind futsch. Sind ganz normale Leute wie du und ich. Aber ich weiß, wo einer von ihnen wohnt.
Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz
Dann die Überraschung: Aus der Rache wird nichts. Sein Freund hat seinen kleinen Neffen dabei. Und vor dem Kind einen Mord begehen? In der Figur des Jungen gönnt Gipi seinen Männern diesmal einen Ausweg aus der Gewalt.
Wo in Gipis Comics die Frauen bleiben? Am Rand. Obwohl in „Sie haben das Auto gefunden" eine Frau für die entscheidende Wendung sorgt. In den Bildern sind sie Körper, vielleicht noch Stichwortgeberinnen. Gipis Geschichten führen in männliche Abgründe. Aber die sind immer wieder lesenswert.

Nov 26, 2024 • 4min
Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn
So richtig gut ging es Manfred Krug zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht. Die Folgen eines Schlaganfalls im Jahr 1997 hat er zwar einigermaßen überwunden, doch der Herzschrittmacher drückt, das Treppensteigen ist beschwerlich – und alle Diäten sind vergeblich.
Heute beginne ich wieder von vorn. Bei 118 Kilo fange ich erneut an. Es ist schrecklich. Alt werden ist ein einziges Leiden.
Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn
„Ich beginne wieder von vorn“ lautet der Titel der dritten Tagebuchlieferung von Manfred Krug aus den Jahren 2000 und 2001. Das klingt wie ein Neuanfang, bedeutet aber, nicht nur was das Körpergewicht betrifft, die Wiederkehr des Immergleichen.
Und doch ist Manfred Krug entschlossen, mit dreiundsechzig noch einmal durchzustarten: als Sänger. Nicht als Schauspieler. Am 1. Januar 2000 notiert er unmissverständlich:
Es wird das letzte Jahr sein, das man mich als Schauspieler sehen wird. Ich kann nicht mehr.
Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn
Abschied vom Fernsehen
Tatsächlich verabschiedete sich Krug nach über fünfzehn Jahren vom „Tatort“. Die letzten Folgen als Hamburger Kommissar Stoever, die bis zum Sommer gedreht werden, sind eine Qual, die Drehbücher findet er miserabel.
Zukünftigen Forschern, die wissen wollen, warum er, Manfred Krug, so beliebt gewesen sei, gibt er den Rat, Filme und Drehbücher miteinander zu vergleichen. Dann wird man ermessen, was er, Krug, eingebracht habe an Witz und Schlagfertigkeit.
Wenn er sich abends im Fernsehen sieht, ist er sehr zufrieden mit sich, hält die beachtliche Einschaltquote fest und lässt sich gelegentlich sogar zu einem Glückwunschfax an den mäßig begabten Regisseur hinreißen.
Trällerte Duette im „Tatort“
Der Abschied vom Film fällt ihm nicht schwer. Zu DDR-Zeiten war Krug als Sänger von Schlagern und Jazz-Standards mindestens genauso berühmt wie als Schauspieler. Im „Tatort“ trällerte er zusammen mit seinem Kompagnon Charles Brauer Duette, die nun als CD in die Charts gelangen.
Krug legt „Deutsche Schlager“ und anderes nach. Wenn er mit Geschichten und absurden Gedichten auf Lesereise geht – Schriftsteller war er auch –, verlangt das Publikum, er solle singen. Also singt er. Das macht mehr Freude als die Arbeit am Set.
Dass die als Volksaktie platzierte Telekom-Aktie an der Börse abstürzte, machte ihm durchaus zu schaffen, schließlich hatte er dafür geworben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte einen Brief Krugs an einen Aktionär, der in einem lustigen Vierzeiler gipfelte.
Manchmal stehn die Aktien hoch / und manchmal stehn sie niedrich, / ein Auf und Ab, grad wie beim Arsch / vom alten Kaiser Friedrich.
Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn
„Bild“ hielt das für Verhöhnung der Aktionäre, musste aber schließlich eine Gegendarstellung drucken. In eigener Sache war Krug unerbittlich. Akribisch listete er auf, wer gerade woran und in welchem Alter gestorben ist: „Die Einschläge kommen näher.“
Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gab ihm eine produktive Distanz zum gesellschaftlichen Leben und zum Weltgeschehen, das er gleichwohl mit großer Neugier verfolgte.
Lebenskünstler mit Charme
Von heute aus gesehen wirkt das Jahr 2000 wie ein Luftanhalten zwischen Gestern und Morgen. Helmut Kohl steht wegen der Spendenaffäre vor dem Untersuchungsausschuss. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wird verhaftet.
Putin, frisch im Amt, attestiert Krug „den Gang einer energischen Soldaten-Ente“. Doch mit dem 11. September 2001 beginnt ein neues Zeitalter. Krug ist erschüttert; das kommt nicht oft vor. Die Tagebücher zeigen ihn als Lebenskünstler, der mit seinem Charme über alle Abgründe hinwegsegelte.
Auch im Schreiben praktizierte er das, was ihn als Schauspieler und als Sänger so beliebt machte: in jeder Rolle vor allem er selbst, Manfred Krug, zu sein. Es ist so vergnüglich wie lehrreich, ihn mit seinem wachen Blick, seiner Lust an Klatsch und Tratsch, seiner Schnoddrigkeit und seiner auch sich selbst nicht schonenden Ironie durchs Leben zu begleiten.

Nov 25, 2024 • 4min
Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels
Davi Kopenawa ist ein Mitglied der Yanomami-Indigenen. Ungefähr 29 000 Yanomami gibt es heute in Brasilien, die im weitläufigen Amazonasgebiet leben. Davi Kopenawa hat sich vehement für die Rechte der Indigenen eingesetzt und dafür unter anderem den „Alternativen Nobelpreis“ 1989 erhalten.
Doch er ist nicht nur ein Kämpfer für die seinen und für den Erhalt der Artenvielfalt im tropischen Regenwald, nein, er ist auch Schamane.
Davi Kopenawa – Kämpfer für die Natur und Schamane
Wir werden keine Schamanen, indem wir Wild oder Nahrung aus unseren Gärten essen, sondern nur mit den Bäumen des Waldes. Es ist das Yakoana-Pulver, der von den Bäumen ausgeschwitzte Saft, der bewirkt, dass sich die Worte der Geister offenbaren und weithin ausbreiten.
Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels
Yanomami-Schamanen inhalieren das Yakoana-Pulver, um einen tranceartigen, traumähnlichen Zustand zu erreichen. Dann nähern sich dem Schamanen die „Xapiri“ und führen ihre Tänze auf. „Xapiri“ sind Geisterwesen, sie können in vielen Formen auftreten. Als Tiere oder als Pflanzenwesen, oft sind sie auch menschenähnlich, manchmal verstorbene Ahnen. Das Entscheidende daran: Sie sind die Beschützer des „Waldes“, wie Davi Kopenawa sagt, also Hüter des Regenwaldes im Amazonasgebiet.
Natur ist keine Verbrauchsware, sondern ein organisch-lebendiges Wesen
Auf unser westliches Denken übertragen, heißt das: Die „Xapiri“ sind Abbilder der lebendigen Natur – der „Natura Naturans“, der schöpferischen Natur. Die Natur ist nicht einfach ein Objekt, dessen Gesetzlichkeiten bestimmt werden und das man gebrauchen und verbrauchen kann, sondern es ist ein organisch-lebendiges Wesen.
Man verspürt weder mehr Hunger noch Durst. Man kennt weder mehr Schmerz noch Schlaf. Die Geister der Yakoana haben unser Fleisch verschlungen und unsere Augen sind tot. In diesem Augenblick sehen wir eine heftige, blendende Klarheit anbrechen. Die Kohorte der singend auf uns zukommenden Xapiri ist zu erkennen.
Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels
Hüter des Waldes
Initiationsriten der Schamanen sind schon öfter beschrieben worden – etwa in dem prominenten Buch „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ von Mircea Eliade. Doch was Davi Kopenawa beschreibt, ist Neuland für unser westliches Denken.
Denn er erzählt seine gesamte Geschichte: Ein junger Mann, der beschließt Schamane zu werden und alle Stadien der Initiation durchmacht bis er die „Xapiri“ tanzen sieht und sie bei ihm ihr Haus der Geister bauen. Man mag über diese Geisterwesen lächeln, man mag über die Drogen-Trance die Nase rümpfen – doch die westliche Überheblichkeit schwindet beim Lesen von Kopenawas Buch.
Denn der Schamane mit seinen „Xapiri“ hat kein anderes Ziel, als Hüter des „Waldes“, also Hüter der Natur zu sein. Und es sind wir, die diese Natur zerstören. Vor allem Goldgräber und Siedler haben im Amazonas-Gebiet den Regenwald zerstört, durch Krankheiterreger und auch mittels roher Gewalt die Yanomami-Indigenen dezimiert. Das ist die andere Geschichte, die in „Der Sturz des Himmels“ erzählt wird.
Ein Buch für alle, die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen
Mitte der 1970er-Jahre lernte der französische Anthropologe Bruce Albert Davi Kopenawa kennen. Daraus entwickelte sich eine Lebensfreundschaft. Albert lernte die Sprache der Yanomami. Und in jahrelanger Arbeit erzählte ihm Kopenawa seine Geschichte.
Albert hat daraus ein Buch in französischer Sprache gemacht. Sicher, ein gewagtes Unternehmen, denn unsere westlichen Sprachen bringen ganz andere Geisterwesen hervor als die Sprache der Yanomami. Aufklärung und Technik versus schöpferische Natur – das wäre die Kurzformel.
Genau deswegen ist Davi Kopenawas und Bruce Alberts „Der Sturz des Himmels“ ein unverzichtbares Buch für all jene, die die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen.

Nov 24, 2024 • 5min
Florian Werner (Hg.) – Meine bessere Hälfte. Musiker*innen erzählen über ihre Instrumente | Buchkritik
Anne-Sophie Mutter spielt ihre Stradivari von 1710, die außer ihr selbst (und hin und wieder dem Geigenbauer) niemand auch nur anfassen darf. Sie beschreibt in ihrem Text auch, wie sie selbst als Virtuosin jede Violine erst erkunden muss:
„In welchem Winkel setze ich den Bogen auf? Mit wie viel Druck spiele ich, und mit wie vielen Haaren? Auf welcher Höhe setze ich den Bogen an, und wie wird das Instrument darauf reagieren? Die Geige macht also nicht, was ich will – ich muss tun, was die Geige will!“
Oh ja, Instrumente stellen Ansprüche. Das ähnlich antike Cello von Steven Isserlis sitzt im Flieger stets neben ihm (und zwar am Fenster!); tourende Pianisten dagegen wie Michael Wollny – die müssen mit eher lockeren Bindungen leben: „Auf jeder Bühne ein neues Instrument, jeden Abend eine neue bessere Hälfte. Denn: ich reise nicht mit meinem Instrument. Ich treffe es an.“
Erfahrungen von Musikern vieler Genres und Generationen
Es ist eine bunte Runde, die Florian Werner hier zusammengestellt hat: „Das Ganze fing eigentlich schon an als so eine Art Fanboy-Projekt, da sind natürlich viele Musikerinnen und Musiker dabei, die ich einfach schon seit Jahrzehnten wahnsinnig toll finde. Tabea Zimmermann, die Bratschistin, oder Budgie, der Schlagzeuger von Siouxsie & The Banshees, oder eben Jochen Distelmeyer von Blumfeld. Und dann hab ich natürlich geschaut, dass man da so eine große Bandbreite von Instrumenten, von Persönlichkeiten und natürlich auch von musikalischen Genres hat.“
Die angesprochene Bratschistin Tabea Zimmermann etwa erzählt, wie sie ihre künftige Profession schon als Kleinkind mit zwei Kochlöffeln simuliert hat und wie sie, viel später, mit einem Instrumentenbauer ihre perfekte Viola entwirft. Auch Florian Werner spielt Bratsche, das war natürlich der Anstoß zum Buch.
So Florian Werner: „Es ist schon so eine Hassliebe, so eine Beziehung mit Höhen und Tiefen zu dieser Bratsche, die, seitdem ich zehn oder zwölf bin, immer in meinem Leben ist, die ich überall dabei hatte, in USA, in Russland, in Ungarn, weiß nicht wo, also die hat mich sehr viel begleitet, und trotzdem immer wieder, wenn eben etwas nicht gelingt auf dem Instrument, und das ist sehr häufig leider bei mir der Fall, dann hat man natürlich so Aggressionen, die man auf dieses Instrument projiziert, also fast als wär das so’ne Partnerin oder ein Partner, wo man denkt, so: Mensch, was ist mit dir los eigentlich, warum antwortest du mir nicht so, wie ich es mir doch wünsche.“
Lustige Anekdoten und historische Betrachtungen
Die Texte nun (meist von den Musizierenden geschrieben, teils im Interview gewonnen) sind auch formal vielfältig: Andreas Martin Hofmeir erzählt in lustigen Anekdoten, wie seine Tuba Fanny zu ihren Namen kam und was grobe Zöllner ihr angetan haben; Cellist Steven Isserlis oder der Sitar-Fan PeterLicht dagegen haben eher kulturhistorische Abhandlungen verfasst.
Jochen Distelmeyer von der Hamburger Band Blumfeld - er stilisiert seine Gitarre nicht ganz uneitel zur Waffe des Widerstandskämpfers und zum Werkzeug des Sinnsuchers; Inga Humpe vom Elektropop-Duo 2raumwohnung – sinniert schwärmerisch von den Ausdrucks- und Täuschungsmöglichkeiten der Stimme und ihrem gesellschaftpolitischen Potenzial: „Singen Sie in einem Chor! Chorsingen bedeutet, dass man lernt, sich selbst und gleichzeitig anderen zuzuhören. Und das ist eigentlich die Grundvoraussetzung für ein Zusammenleben mit anderen Menschen.“
Vom Glück des Musikmachens
Wir lernen außerdem, welch komplexes Instrument das Tonstudio ist – und welch beeindruckendes ein - Pferdeskelett. Und dass manchmal auch Tinnitus oder orthopädische Beschwerden dazugehören, Saxophonist Benjamin Koppel hat beides und noch eine Metallallergie; er spielt trotzdem, unter Schmerzen und mit bisweilen blutigen Fingern. Und so handeln am Ende all diese unterschiedlichen Texte gleichermaßen von der Faszination des Musikmachens; vom Glück, ein Instrument zu spielen. Es ist eine inspirierende Lektüre.
Florian Werner meint: „Wenn man weiß, wie die Beziehung zwischen Musikerin/Musiker und Instrument besteht, dann hört man auch die Musik anders und weiß sie auch anders zu schätzen – und bekommt hoffentlich auch selber Lust zu musizieren. Also mir geht’s zumindest so, dass ich mich gerade jeden Morgen mit ganz neuem Schwung an das Klavier setze und dort… dilettiere.“

Nov 24, 2024 • 15min
Lyndal Roper – Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525 | Gespräch
Die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern und Bäuerinnen
Die Bäuerinnen und Bauern hatten damals eine Idee, von der wir heute lernen können, meint die Australierin Lyndal Roper, Expertin für die Geschichte der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. In „Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525" erzählt die Autorin die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern.
Der Bauernkrieg hat mich immer fasziniert. (...) Und ich wollte wissen, wie so etwas zustande kommt und wie es sich anfühlt, an so einem Aufstand teilzunehmen.
Quelle: Lyndal Roper im Gespräch
Für ihre Recherche fuhr die Historikerin die Schauplätze des Bauernkrieges viele hundert Kilometer mit dem Fahrrad ab. Die Tour führte sie vom elsässischen Straßburg bis nach Konstanz, aber auch in Thüringen sei sie unterwegs gewesen. "Das war eine ganz wichtige Erfahrung, durch die ich viel verstehen konnte", so Roper im Gespräch.
Religöse und wirtschaftliche Dimensionen
Die Bauern lehnten sich zu dieser Zeit gegen wirtschaftliche Not und gegen die Ausbeutung durch ihre Grundherren auf. Mit der Reformation kam dann noch eine religiöse Dimension dazu. Aus dem anfänglichen Protest wurde ein blutiger Krieg.
Lyndal Roper habe während ihrer Recherchen herausfinden wollen, welche Träume die Bauern hatten und was sie dazu bewogen hat, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Ihre Vorstellung war, dass wir nach Brüderlichkeit leben sollten, dass wir aufeinander acht nehmen sollen, dass wir fair miteinander umgehen und die Ressourcen gerecht geteilt werden sollen. Diese Fragen, mit denen sie konfrontiert waren, sind heute noch offen.
Quelle: Lyndal Roper im Gespräch
Im Gespräch erklärt die Autorin, welchen Anteil Theologen wie Martin Luther oder Thomas Müntzer an der Eskalation der anfänglichen Proteste zum Krieg hatten. Außerdem geht sie auf den Freiheitsbegriff der Bauern ein und auf die Frage, weshalb man sich noch heute mit dem Bauernkrieg beschäftigen sollten.


