SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jan 12, 2025 • 2min

Driss Ben Hamed Charhadi – Ein Leben voller Fallgruben

Ich bin Alexander Wasner, Kulturredakteur beim SWR und „Die andere Bibliothek“ war für mich sowas wie eine Offenbarung. Literaturwissenschaft habe ich in den 80ern gegen den entschiedenen Rat meines Deutschlehrers studiert. Er wollte Klassiker im Stil der 50er besprechen, ich wollte was anderes. In meinem Ketzertum fühlte ich mich durch die Andere Bibliothek bestätigt. 1985  habe ich meinen Buchhändler jeden letzten Donnerstag im Monat belauert, um eins der Vorschauhefte zu ergattern. Es war eine echt wilde Mischung: am Anfang die Lügengeschichten des Lukian von Samosata, dann Barbey d’Aurevilly über den Dandy, in Samt eingeschlagen, etc. – die frühen Titel sparte ich ernsthaft vom BaföG ab, nur um meinem Deutschlehrer zu zeigen, dass es bessere Autoritäten gab als ihn. Besonders tat es mir Band 2 an, der zwischen den Lügengeschichten und dem Dandy. Driss Ben Hahmed Charhadi, „Ein Leben voller Fallgruben“. Eine Entdeckung von Paul Bowles. Es geht um einen Underdog in Marokko, er wird vom Stiefvater ins Kinderheim geschickt, wird aber bald wieder rausgeholt, weil die Familienehre das nicht zulässt. Wenn er mal Geld hat, nimmt ihm der Stiefvater das gleich wieder ab. Er bekommt einfach keine Chance. Und so verloren ist dann halt auch der Rest des Lebens – er kifft und stiehlt, Liebe gibt es nur bei Huren und da auch nur zusammen mit Prügel, er wohnt auf der Straße und in Gefängnissen. Erzählt aber wird das ohne jede Anklage, ohne Psychologie, nur im Hier und jetzt. Charhadi hat den Text auf Tonband eingesprochen, Paul Bowles hat es nur abgetippt. Ein irres Buch, auch heute noch. Driss Ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben, Franz Greno 1985, jetzt im Aufbau Verlag, Übersetzt von Anne Ruth Strauß, 352 Seiten
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Jan 12, 2025 • 2min

Daniel Kehlmann wird 50: Über sein Vorbild Thomas Mann

Vor 20 Jahren, 2005, erschien sein weltweiter Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt". Wir gratulieren und hören, was ihm Thomas Mann bedeutet - der in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag hat: den 150. am 6. Juni.
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Jan 12, 2025 • 3min

Michael Glawogger – 69 Hotelzimmer

In Reynosa, Mexiko, wird der Reisende von Schüssen geweckt. Das stört ihn aber nicht weiter, er ist es noch gewohnt von seinem letzten Besuch hier. Ihn stört es auch nicht, dass das Hotel, in dem er schläft, der Mafia gehört. Um genau zu sein, liebt er seine Unterkunft. Vor allem aus einem Grund: Sein Hotelzimmer hat einen Schreibtisch. Und dieser steht so, dass man sich selbst nicht in einem Spiegel sieht. Denn in neunzig Prozent der Fälle, so erklärt es der weit gereiste Erzähler, hängt in Hotelzimmern ein Spiegel über dem Schreibtisch. Das sei falsch, schließlich würde zuhause kein Mensch auf so eine Idee kommen. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen? Dieser Blick – auf die großen und die kleinen Details, machen die Texte von Michael Glawogger so wunderbar. Es ist ein Buch voll mit Geschichten aus der ganzen Welt - von Äthiopien bis Nordkorea, von Vietnam bis Norwegen. Manche von ihnen märchenhaft, manche voller rätselhafter Begegnungen und seltsamen Dingen, die in Hotelzimmern zurückgelassen wurden. Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher Michael Glawogger portraitierte in Dokus wie „Whores Glory“ oder „Megacities“ die Ausgebeuteten, die ums Überleben-Kämpfenden. Dieser Band ist vielleicht eines seiner persönlichsten Werke, denn er bringt uns den Reisenden Glawogger näher. Wunderschön ist auch diese Ausgabe, die bei Der Anderen Bibliothek erschienen ist. 2015, posthum, nachdem Glawogger bei Dreharbeiten in Liberia an einer Malaria-Infektion gestorben ist. Auf dem Buchrücken leuchtet wie ein Neon-Schriftzug das Wort „Hotel“. Innen beginnt jede Geschichte mit orange-farbenen Buchstaben, die langsam von Rot und Violett ins Schwarze verlaufen – ein in Druckertinte festgehaltener Sonnenuntergang. Die letzte Geschichte spielt 2012 in einem Hotel in Karlsruhe. Natürlich räumt der Reisende erst mal das Hotelzimmer um und stellt Tisch und Stuhl vor das Fenster für den perfekten Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Beim Umbau sieht er sich selbst im Spiegel. Er denkt, für seine Nachwelt möchte er gerne so, als – Zitat – „Der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen“ überliefert werden. Das Bild, das mir aber vom Filmemacher und Autor Michael Glawogger bleibt, ist das hier: Das Bild eines Reisenden, der einen besseren Platz für sich selbst sucht, einen Platz mit Aussicht auf das Getümmel und Geschehen, auf die Menschen, für die Glawogger einen so einfühlsamen Blick hatte. Michael Glawogger - 69 Hotelzimmer, Die Andere Bibliothek, Bandnummer 363, 408 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-8477-2010-2
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Jan 12, 2025 • 1min

Andreas Thalmayr – Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen

Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel: „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“. Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur. Beispiele gefällig?: Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie: Jargon, Zitat usw. Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, das man lernen kann, aber eines, ohne das es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration. Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr? In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: „i.V. Enzensberger“. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der „Anderen Bibliothek“, „Andreas Thalmayr“ sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym. Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie. Dass er später also einen „Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wenn wundert's. „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“, Band 9, 27. September 1985
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Jan 12, 2025 • 2min

Christoph Ransmayr – Die letzte Welt

Der Pappschuber, der normalerweise die Bände der Anderen Bibliothek schützt, ist im Fall meiner Ausgabe von Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ nicht mehr auffindbar. Das spricht dafür, dass ich diesen Band, den 44. der Reihe, tatsächlich gelesen und nicht bloß als bibliophiles Schmuckstück ins Regal gestellt habe. Zudem bin ich ganz sicher, „Die letzte Welt“ irgendwo gebraucht gekauft zu haben, denn 1988, im Erscheinungsjahr, war ich vierzehn Jahre alt und gewiss noch kein Ransmayr-Leser. Auch die Debatte um diesen Roman habe ich erst später nachgelesen: Hat Hans Magnus Enzensberger, der Herausgeber der Anderen Bibliothek, mit Hilfe seiner Beziehungen im Literaturbetrieb einen Autor und sein Buch großgemacht? Oder ist der Österreicher Ransmayr tatsächlich ein Schriftsteller von hohem Rang? Heute wissen wir: Letzteres ist der Fall. Ransmayr ist ein Universum für sich. „Die letzte Welt“, diese Geschichte von der Verbannung des Dichters Ovid, die Ransmayr in literarische Korrespondenz zu Ovids „Metamorphosen“ setzt, ist nicht mein Lieblingsroman von Ransmayr geworden. Aber: Er war ein Bestseller. Meine Ausgabe weist die Druckauflage 76.000 - 100.000 auf. So viel verkauft heute allenfalls Sebastian Fitzek. Die Andere Bibliothek: Ein Relikt aus der goldenen Zeit der schönen Bücher. Die Andere Bibliothek, Band 44, erschienen 1988, 324 Seiten.
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Jan 12, 2025 • 16min

40 Jahre schöne Bücher. Die legendäre „Andere Bibliothek" feiert Geburtstag

Es ist die vermutlich schönste Buchreihe, die die deutschsprachige Literaturwelt je gesehen hat: Genreübergreifende, die Welt entdeckende Bücher in einer aufwendigen, bibliophilen Gestaltung. Rainer Wieland im Gespräch Bis heute gibt es die „Andere Bibliothek": Jeden Monat erscheint unter dem Dach des Aufbau Verlags ein neuer Titel. Zum 40. Geburtstag sprechen wir mit Rainer Wieland, neben Nele Holdack einer der Herausgeber der Reihe.
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Jan 9, 2025 • 4min

Maya Kessler – Rosenfeld | Buchkritik

Teddy Rosenfeld ist ein Mann, der weiß, was er will. Und Noa Simon, die junge Filmemacherin, die sich dem Boss einer Biotech-Firma bei einer Feier an den Hals wirft, will er definitiv nicht. Sagt er jedenfalls hinterher, nach einem spontanen Stelldichein in einer Toilettenkabine. Daher leistet er den folgenden schamlosen Avancen von Maya Kesslers Ich-Erzählerin auch beharrlich Widerstand, selbst dann noch, als diese in seinem Unternehmen anheuert. Warum Teddy so ablehnend reagiert? Weil der Mittfünfziger nach diversen Ehen und Affären so seine Erfahrungen gemacht hat. Und sich sicher ist, dass sich die 20 Jahre Jüngere – tabuloser Sex hin oder her – am Ende als genauso durchgeknallt entpuppen wird wie seine früheren Beziehungen.   »Ich weiß, wohin das führt«, er spricht mehr zu sich selbst als zu mir, »ich werde dich ruinieren. Das will ich nicht. Ich kenne das schon.« »Du wirst mich nicht ruinieren. Und wenn – dann will ich das.« Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Kontrollsüchtiger Titelheld  Liebesromane werden heutzutage ja gerne mit sogenannten Tropes etikettiert, zur Einordnung. Teddy Rosenfeld, der schwergewichtige, kontrollsüchtige Titelheld von Maya Kesslers Romandebüt, wäre demnach eindeutig ein „Grumpy“, also ein anfänglich desinteressierter, pessimistischer Kerl, dem unversehens der Schutzpanzer über seinem Herzen abhandenkommt – ein Typus, den bereits Jane Austen kannte. Würde die israelische Autorin diesem Muster folgen, wäre Noa Simon ein „Sunshine“, der lebensfrohe weibliche Sonnenschein, der dem Grumpy die Liebe lehrt.   Tatsächlich aber ist Maya Kesslers Ich-Erzählerin das genaue Gegenteil: Noa ist unersättlich, impulsiv und nicht zuletzt wütend – auf sich, das Leben und vor allem ihre Mutter, die einst die Familie im Stich gelassen hat. So gesehen gleicht Noa eher einem Tornado, der Teddys Leben im Lauf des 560 Seiten starken Romans gehörig durchpflügen wird. Dabei fällt es anfangs schwer, für Kesslers Protagonistin Sympathien aufzubringen. Zu sehr stößt einen diese Figur ab: mit ihren selbstdestruktiven Impulsen, mit ihrer emotionalen Instabilität und Unreife. Vielleicht liegt es daran, dass gerade die ersten Romankapitel, trotz der rasanten, gegenwartsnahen Schreibe Kesslers, zur Geduldsprobe geraten. Menschen mit Mutterproblemen  Doch es lohnt sich durchzuhalten. Nicht nur wegen der, wie man heute sagt, spicy Sexszenen. Sondern weil die ungleichen Charaktere, die sich im Lauf der Handlung abwechselnd an die Wäsche und an die Gurgel gehen, irgendwann doch überraschend an Tiefe gewinnen – und ihre Beziehung in ihrer Abgründigkeit und Leidenschaft mehr und mehr fesselt. Denn nicht nur Noa hat ein Mutterproblem. Teddy hat aus der Wohnung seiner längst verstorbenen Erzeugerin ein Mausoleum gemacht, für Noa ein No-Go. Die Folge sind Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten: Er versucht, gegen ihren Willen, eine Aussöhnung mit ihrer verbannten Mutter anzuleiern, sie fängt an, besagte Wohnung aufzulösen, damit ihr Geliebter endlich loslassen könne.   Wieso hat er mich […] dorthin mitgenommen? Weil er nicht weiß, wer du bist. Er weiß nicht, dass du der Todesengel jeglicher Mütterlichkeit bist, dass du jede Nabelschnur, die nicht sofort, sobald es eben geht, durchschnitten wird, bis aufs Blut verabscheust. Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Romanze zweier Sturköpfe  Wie aus der Romanze zweier Sturköpfe, die anfangs nur auf Begehren und Leidenschaft basiert, eine wird, in der sich ständig die Macht- und Näheverhältnisse neu austarieren, ist überaus spannend und unterhaltsam zu lesen. Teddy ist, wie sich zeigt, ein Mann mit vielen Geheimnissen, sie dagegen eine Frau voller Traumata und verdrängter Ambitionen. Am Ende führt jede Verletzung, die sich beide zufügen, jeder Vertrauensbruch nur dazu, die Intimität zwischen beiden zu steigern. Maya Kessler hat ein Debüt vorgelegt, das beeindruckt: durch seine intensive Rohheit wie auch seine voyeuristische Präzision.
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Jan 8, 2025 • 4min

Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben | Buchkritik

Wir alle sind Kinder und Erbe unserer eigenen Vergangenheit. Wie wir das Erbe antreten, was wir davon beibehalten oder weiterführen möchten, und welche Erlebnisse wir großzügig hinter uns lassen sollten, ohne sie zu verdrängen, das können wir ein Stück weit auch selbst bestimmen. Auch wenn uns das nicht immer einfach erscheint. Dabei helfen uns, so Charles Pépin, die verschiedenen Formen des Gedächtnisses, die jeweils unterschiedliche Funktionen innehaben. Das Gedächtnis wird von Neurowissenschaftlern schon lange nicht mehr als Speicher oder lokalisierbare Gedächtnisspur betrachtet. Vielmehr formt sich die Erinnerung immer wieder neu und verändert sich damit.  Die Erinnerung wird gleichsam neu konfiguriert: durch das seitdem Erlebte, durch den aktuellen Kontext, durch unsren emotionalen Zustand. In diesem Sinn ist das Gedächtnis lebendig und eine Erinnerung ist nie zweimal dieselbe. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Ist es also möglich Belastendes, von uns zutiefst Abgelehntes, ja Beschämendes, das wir erlebt haben oder das unsere Herkunft mit sich bringt, zum Material zu erklären? Pépin zieht für seine Überlegungen auf nachvollziehbare Weise philosophische und literarische Erkundungen, besonders von Henri Bergson und Marcel Proust zu Rate, aber auch grundlegende neurowissenschaftliche Erkenntnisse.  Belastete Kindheit, glückliche Lebenswege  Ist man in der Lage, das Erlebte zu einer Geschichte werden zu lassen, deren Autor wir selbst sind und die uns weniger zusetzt, oder wie es in der hier wohl recht wörtlichen Übersetzung heißt, die uns nicht mehr „ständig beißt“? Sie wäre damit dann auch vom „episodischen Gedächtnis“, das uns einzelne Szenen vor Augen führt, ins „semantische Gedächtnis“ überstellt. Dort kann unsere Geschichte überarbeitet werden, denn hier geht es um Bewertung und Einordnung des Geschehenen.   Pépin beschreibt glückliche Lebenswege, die Menschen trotz ihrer belastenden Kindheit oder Lagererfahrungen eingeschlagen haben. Sie sind möglich, weil wir zwar das sind, was die Vergangenheit aus uns gemacht hat, aber wie er aufmunternd sagt: „Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit alles gefallen zu lassen.“ Das mag ein Stück weit gelingen oder auch nicht. Für jeden zugänglich und mit weniger Kraftanstrengung verbunden ist indes, zu genießen und wertzuschätzen, was der Zufall uns an Begegnungen und glücklichen Momenten für unser Leben geschenkt hat.  Die Schönheit der Erinnerung  Ganz konkret heißt das auch, zum Beispiel als allein zurückgelassener Liebender oder alternder Mensch, nicht länger dem nachzutrauern, was wir einst besaßen und dann verloren haben, sondern uns mit Freude daran zu erinnern, dass es möglich war und wir diejenigen sind, die es selbst erleben durften. Es heißt also, sich intensiv auf die Schönheit der Erinnerung einzulassen, in ausgewählte Bilder und Szenen einzutauchen, sie ganz ohne Wehmut zu betrachten:   Letztendlich geht es auch hier um eine Verabredung mit unserer Vergangenheit, aber diesmal nicht, um ihre Brutalität zu mildern, sondern im Gegenteil, ihre Zartheit neu zu erleben, ihr Bestes auszukosten. Es ist eine Art Würdigung dessen, was gewesen ist.  Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Seien wir deshalb nachsichtig mit uns selbst und den anderen: Wir sollten dem, was wir geworden sind, mit Wohlwollen begegnen. Das reicht bis hin zum Umgang mit unseren Toten, die uns, wenn wir an sie denken, mit „behütender Präsenz“ umgeben können. Und so heißt es dann auch gegen Ende des Buches geradezu verschmitzt, aber eben durchaus auch charakteristisch für die Lebensphilosophie Pépins:   Wer möchte, dass die Geister der Verstorbenen ihn gelegentlich besuchen kommen, muss ihnen ein bisschen Luft und Freiheit lassen. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben
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Jan 7, 2025 • 4min

Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie

Um es gleich vorwegzusagen: Dass „Eine Bumerangfamilie“, der zweite Roman des koreanischen Autors Cheon Myeong-kwan, mit großem Erfolg in seiner Heimat verfilmt worden ist, wundert nicht. Im Mittelpunkt des Romans steht Inmo, ein gescheiterter Filmregisseur mittleren Alters. Zwölf Jahre ist es her, dass er seinen letzten Film – einen Riesenflop – gedreht hat. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Vermieter soeben rausgeworfen. In seiner Verzweiflung beschließt der 48-Jährige, zu seiner alten Mutter zurückzuziehen, die in einem heruntergekommenen Vorort von Seoul lebt. Sein Unbehagen ist groß. Und es wird noch größer, als er feststellen muss, dass sich auch sein vier Jahre älterer Bruder – ein fünfmal vorbestrafter Riese mit 130 Kilo Körpergewicht – in der Wohnung der Mutter eingenistet hat.   Unzählige Male hatte Hammer mich verprügelt, als ich jung war. Ich trug blutige Nasen davon, abgebrochene Zähne, Platzwunden im Gesicht, das volle Programm. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als seinen Tod. aber er war nicht gestorben, und jetzt, Jahrzehnte später, stand er vor mir und versperrte mir den Weg.   Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Hammer, eigentlich Hanmo, ist nicht das einzige Hindernis, das sich Inmo fortan in den Weg stellt. Denn es dauert nicht lang, dann ziehen auch seine Schwester – die bereits zwei Ehen hinter sich hat – und deren Tochter, eine aufmüpfige Jugendliche, in die mütterliche Wohnung ein.   Familie: Die Hölle auf Erden  Man ahnt: das kann nicht gutgehen. Tatsächlich bereiten sich die drei Geschwister rasch nach allen Regeln der Kunst gegenseitig die Hölle auf Erden. Einzig die Mutter scheint aufzublühen, seit ihre Kinder wieder bei ihr wohnen.  Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sei sie gerade von einem Wellnessaufenthalt in einem erstklassigen Spa zurückgekommen, ja sogar ihre Stimme klang einen Ton heller.   Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Dass Cheon Myeong-kwan dabei die Geschichte aus Inmos Augen entfaltet, ist ein geschickter Schachzug. Erst allmählich begreifen wir nämlich, dass wir diesem Erzähler nicht ungetrübt Glauben schenken sollten: Hammer, laut Inmo ein pädophiles Monster, erweist sich mehr und mehr als liebenswürdiger Mensch; Inmos Schwester Miyŏn, vermeintlich eine leichtlebige Ehebrecherin, hat sich stets für ihre Familie aufgeopfert, um diese auch finanziell zu unterstützen. Mehr noch: dunkle, bis dato gut gehütete Familien-Geheimnisse kommen zutage.  Ich, Hammer, Miyŏn, wir alle, Mutter eingeschlossen, jeder von uns hatte etwas auf dem Kerbholz. Uns war das Stigma des Verlierers eingebrannt, wir waren Gefangene unserer Vergangenheit.   Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Zwischen dunkler Groteske und koreanischer Soap Opera  Das alles mag nach tränenreichem Familiendrama klingen. Doch Cheon Myeong-kwan liebt Groteskes ebenso wie Drastik. Sein Roman, der zugleich gespickt ist mit Verweisen auf Hemingway und Klassiker der Filmgeschichte, wirkt deshalb wie eine Fahrt mit der Achterbahn. Immer schon geht es in die nächste Kurve: Miyŏns Tochter verschwindet; ein Serienmörder taucht auf; Hammer gerät in die Falle gefährlicher Krimineller – und Inmo beginnt Pornos zu drehen.  All diese Irrungen und Wirrungen erinnern dabei an koreanische Soap Operas, samt Deus ex machina und Happy End. Bis es allerdings soweit ist, führt uns der Roman in seinem letzten Drittel in krasse Abgründe des asiatischen Extremkinos. Das kommt so unvermutet wie manche Details der Handlung einer logischen Prüfung nicht immer standhalten.  Speed und Überbietung gehen in „Eine Bumerangfamilie“ Hand in Hand. Die Geschichte vergeht deshalb wie im Flug. Und doch schlingert „Eine Bumerangfamilie“ – von Matthias Augustin und Kyunghee Park erneut in ein zupackendes Deutsch übertragen – am Ende zu unentschieden zwischen rabenschwarzem Sarkasmus und melodramatischer Wohlfühl-Offerte.
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Jan 6, 2025 • 4min

Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte

Wotan ist en vogue, nicht nur bei Neuheiden, mythensüchtigen Rechtsextremen, martialisch auftretenden Metal-Bands oder Männern auf der Suche nach antifeministischen Konzepten von Maskulinität. Gegen die simplifizierenden Vereinnahmungen hat der Skandinavist Klaus Böldl seine Geschichte des „dunklen Gottes“ von den Wikingern bis in die Gegenwart geschrieben.   Deutlichere Gestalt nimmt Odin oder Wotan in der „Edda“ und der isländischen Saga-Literatur des Mittelalters an. Hier begegnen erstmals die Züge der heute bekannten Ikonographie:  Er ist hochgewachsen, hat einen Bart und trägt einen langen nachtblauen oder schwarzen Mantel. Sein Gesicht wird von einem breitkrempigen Hut verdunkelt, doch man kann erkennen, dass er nur ein Auge hat. (…) Seine beiden Raben Hugin und Munin versorgen ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Odin als Oberhaupt der heidnischen Götterwelt ist für Böldl aber – wie überhaupt der zugespitzte Gegensatz von „nordischen“ und klassisch-mediterranen Mythen – ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Zuvor war Odin gewissermaßen integriert in die gesamteuropäische Mythenwelt, bisweilen gleichgesetzt mit Odysseus, dem griechischen Okeanos oder gar dem fernöstlichen Buddha.   Völkischer Sturm- und Rauschgott  Erst im Zuge des wachsenden Nationalismus wurde der Gott zum Repräsentanten eines völkisch durchsäuerten Germanentums, das man in der Nachfolge von Tacitus‘ grundlegender Schrift „Germania“ so charakterisierte: rückständig, was Zivilisation und materiellen Wohlstand betrifft, dafür moralisch integer, freiheitsliebend, tugendhaft und tapfer.   Odin und die „Edda“ wurden zu einem essentiellen Mythos der Deutschen. Böldl skizziert und zerlegt die obsessiven Vereinnahmungs-Bemühungen der Historiker, Philologen, Theologen und Ideologen. So erkannte zum Beispiel auch der Tiefenpsychologe C.G. Jung in Wotan eine „Grundeigenschaft der deutschen Seele“ und sah den „Sturm- und Rauschgott“ im Nationalsozialismus wiederkehren – die politisch Verantwortlichen duften sich entlastet fühlen. Wagners gebrochener Wotan  Anders als Thor mit dem Hammer ist Wotan jedoch kein eindimensionaler Held. Das zeigt insbesondere die wirkmächtigste aller Aneignungen. In Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ hat der Herr von Walhall nichts mehr mit dem makellosen Göttervater der idealisierenden Tradition zu tun. Wagner zeichnet ihn als gebrochene Gestalt; sein Wotan ist kein Kämpfer, sondern setzt wie ein Agent der Moderne auf Verträge, die er allerdings wie Waffen zu nutzen versteht, ein Intrigant und Betrüger sondergleichen.   Klaus Böldl beschäftigt sich mit Odin in Musik, Bildnis und Skulptur. Der Untertitel „Von den Germanen bis Heavy Metal“ ist zugkräftig, allerdings ist von der Rezeption im Metal, beginnend mit Led Zeppelins „Immigrant Song“, nur auf drei Seiten die Rede – mit dem Tenor, dass die Bands meist nur mythologische Klischees reproduzierten und der heidnische Gott instrumentalisiert werde für einen etwas angestaubten Protest gegen das Christentum. Darin zeige sich allerdings ein Moment vieler heutiger Odin-Bezüge:  Wenn es Odin nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, so groß erscheint im entgötterten Anthropozän die Sehnsucht nach einer identitätsstiftenden numinosen Gestalt jenseits des Christentums zu sein. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Protest gegen das Christentum  Böldl ist nicht nur Professor für skandinavische Literatur, sondern auch Verfasser mehrerer Romane. Er kann klar und unakademisch schreiben, und seine Kenntnis der Materie ist überragend. Vielleicht ist gerade dies aber auch der Grund dafür, dass sich sein Odin-Buch streckenweise wie ein Forschungsbericht liest. Sie läuft auf die Einsicht hinaus, dass jede Epoche ihr eigenes Odin-Bild entwirft und gerade dadurch den Mythos des „dunklen Gottes“ fortschreibt.

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