

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Jan 21, 2025 • 4min
Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür.
Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden. Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder?
Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Horror und Realität – kaum zu unterscheiden
Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent.
Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen.
Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will.
So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle.
Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts
Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich.
Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern.
Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock.
Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar.
Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin.
Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.

Jan 20, 2025 • 4min
Andreas Reckwitz – Verlust. Ein Grundproblem der Moderne
Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation.
Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg.
Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust
Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst
Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen.
Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen)
Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan
Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst.
Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten.
Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung
Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet:
Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung.
Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust
Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende.
Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit.
Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust
Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“
Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“.
Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen.

Jan 19, 2025 • 10min
Claudie Hunzinger – Ein Hund an meiner Tafel
Die französische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Claudie Hunzinger wurde 1940 im Elsass geboren; im April wird sie also 85 Jahre alt. Seit den 1970er-Jahren publiziert Hunzinger Romane und Erzählungen. Ihren größten Erfolg feierte sie allerdings in ihrem Heimatland erst im Jahr 2022: Der Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ wurde nicht nur mit dem „Prix Femina“ ausgezeichnet, einem Literaturpreis, der von einer ausschließlich weiblich besetzten Jury vergeben wird. Das Buch wurde in Frankreich auch zu einem Bestseller.
Auf den Hund gekommen
Nun ist „Ein Hund an meiner Tafel“ in der Übersetzung von Timea Tankó auch auf Deutsch erschienen. Christoph Schröder hat den Roman gelesen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein altes Paar: Sophie und Grieg. Eines Abends steht eine Hündin vor der Tür ihres Hauses in den Vogesen.

Jan 19, 2025 • 12min
Neues Jahr, neue Bücher: Diese Neuerscheinungen erwarten wir 2025
Das literarische Jahr 2025 hat gerade erst begonnen, trotzdem sind wir schon in bedächtiger Gedenkstimmung. Schließlich stehen auch in diesem Jahr einige wichtige Literaturtermine, Gedenktage und Jubiläen an. Wir feiern nicht nur das große Thomas-Mann-Jahr, erinnern uns am 19. Februar zu Thomas Braschs 80. Geburtstag an das Werk des Dichters oder gedenken der Berliner Großstadtlyrikerin Mascha Kaléko an ihrem 50. Todestag...
Nein, wir müssen 2025 einige Daten im Blick behalten. Dabei hilft der Reclam Verlag. Im „lesenswert Magazin" empfiehlt Nina Wolf ein Büchlein, das einen Überblick über alle wichtigen Literaturtermine bietet.
Diese Neuerscheinungen erwarten wir
Trotzdem lohnt sich nicht nur der Blick zurück, denn auch die Gegenwartsliteratur hat schon im jungen Jahr Bücher zu bieten, die mit höchstem Lob der Kritik bedacht werden. Etwa der neue Roman des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas. „Wackelkontakt“ heißt das Buch, in dem es um den Trauerredner Franz Escher geht, der auf einen Elektriker wartet und dabei ein Buch liest über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo, der im Gefängnis sitzt und sich die Zeit vertreibt, indem er ein Buch liest, das wiederum von Franz Escher handelt, der auf einen Elektriker wartet, weil seine Steckdose in der Küche einen Wackelkontakt hat.
Haben wir damit schon einen Anwärter auf die kommenden Literaturpreise? Eine Gelegenheit um zu spekulieren: Welche Themen und welche Bücher erwarten uns in den kommenden Monaten?
Science-Fiction von Christian Kracht
Die Verlagsprogramme versprechen schon zu Jahresbeginn einige Titel, auf die wir gespannt warten können. Ein Beispiel, so SWR Kultur Literaturredakteurin Nina Wolf, im Gespräch: ein neuer Roman aus der Feder Christian Krachts. „Air" wird er heißen und der Autor geht mit einer Science-Fiction-Geschichte neue Genre-Wege.
Neuer Roman der Deutschen Buchpreisträgerin
In jedem Jahr bewegen sie auch die Literaturwelt: die Debatten. Ein Buch, das sich literarisch mit Debattenkultur, medialen Diskursen und „den Erregungsdynamiken, die sich, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr steuern lassen" auseinandersetzen will, kommt von der Deutschen Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel.
Wieder ein Weltbestseller?
Zehn Jahre sind seit Chimamanda Ngozi Adichies Weltbestseller „Americanah" mittlerweile vergangen. Es war der dritte Roman der 1977 in Nigeria geborenen Autorin, die heute in Lagos und in den USA lebt. Adichie gilt als feministische Ikone und es scheint, als würde sie auch in ihrem neuen Roman „Dream Count" ihren vertrauten Themen treu bleiben. Der Roman wird weltweit zeitgleich am 4. März erscheinen.
Das Debüt einer Musikerin
Sophie Hunger ist Musikerin, die Schweizerin Texte der Schweizerin überzeugen durch ihre lyrische Qualität. Ob auch ihr Debütroman sich durch dieses Können auszeichnet, wird sich zeigen. Angekündigt ist eine tragikomische Coming-Of-Age Geschichte über eine innige Freundschaft.

Jan 19, 2025 • 4min
Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Vier Männer und zwei Frauen leben zusammen an einem Ort außerhalb unserer Erde. Trotzdem tun sie erstmal, was die meisten von uns den Tag über tun: Essen, schlafen, arbeiten. Die sechs Astronauten haben feste Routinen, genaue Arbeitspläne und einen streng geregelten Schlaf- und Essensplan.
Obwohl diese Abläufe an Alltägliches erinnern, so ist auf der Raumstation im All doch nichts alltäglich. Ein Tag bezeichnet bei uns auf der Erde die Dauer, die der Planet braucht, um einmal um sich selbst zu kreisen. Die Bewohner des Raumschiffs umkreisen die Erde in dieser Zeit rund 16 mal.
Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete. Während sie die Erde umrunden, durch Anhäufungen von Licht und Dunkelheit reisen, sich der verwirrenden Arithmetik von Schubkraft und Fluglage, der Geschwindigkeit und den Sensoren hingeben, ertönt alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens.
Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Klarkommen in der ungewohnten Sphäre
Die Normalität wie wir sie hier auf der Erde kennen, wird also lediglich simuliert – auch, damit Körper und Psyche der sechs Crewmitglieder überhaupt eine Chance haben, in der ungewohnten Sphäre zurecht zu kommen.
Nicht nur das Erleben des veränderten Tag-Nacht-Rhythmus, auch die Abwesenheit der Schwerkraft, das ständige Schweben, bewirkt bei den sechs Protagonisten ein vollkommen neues Körpergefühl, mit dem mehr als nur lästige Kopfschmerzen und wiederholte Übelkeit einhergehen. Auch das Denken nimmt neue Formen an und spinnt mitunter spannende Überlegungen.
Oft weiß sie nicht, was sie Familie und Freunden zuhause erzählen soll, hat sie festgestellt, die kleinen Dinge sind zu banal, der Rest zu überwältigend, dazwischen scheint es nichts zu geben. (…) Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen.
Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Erzählung verliert sich in ausschweifenden Sinnbildern
Wie sich diese spezielle Reise, dieses Leben abseits der Erde anfühlt, das versucht der Roman von Samantha Harvey einzufangen. Er beschreibt die herausfordernden Konditionen für die Crew und befremdende Umstände wie das Wiederaufbereiten von Urin zu Trinkwasser. Es geht um das Leben abseits von Komfort, Heimat und Familie.
Allerdings kratzt die Autorin beim Beschreiben der Protagonisten lediglich an der Oberfläche dessen, was diese Menschen tatsächlich ausmacht und die Gedanken des einen könnten genauso auch die eines anderen sein. Hier und dort werden Einblicke in die Lebensgeschichte von Roman oder die Kindheitserinnerungen von Chie gegeben, aber statt nah an die Figuren heranzutreten, verliert sich die Erzählstimme in ausschweifenden Sinnbildern.
Ihr Herz und Pietros schlagen als einzige im All, zwischen der Erdatmosphäre und so weit hinter dem Sonnensystem wie man es sich nur vorstellen kann. Ihre beiden Herzschläge eilen friedlich durch den Weltraum, befinden sich nie zwei Mal am selben Ort. Werden nie an denselben Ort zurückkehren.
Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Redundantes Umschreiben von Landschaft und Eindrücken
„Umlaufbahnen“ wurde mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet, die Jury lobte die „Sprache der Lyrik und Schärfe“. Der poetische Klang ist in jedem Fall präsent, die Schärfe beim Erzählen von inneren Zuständen und in den Dialogen zwischen den Figuren, ist dagegen eher selten zu erkennen. Dafür schweift die Autorin zu oft ins Universelle ab.
Die menschenlose Klarheit von Land und Meer. Die Art, wie der Planet zu atmen scheint, ein ganz eigenes Lebewesen. Die Perfektion der Welt, ihre gleichgültigen Drehungen im gleichgültigen Raum, die alles Sprachliche transzendieren.
Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Das Buch setzt ganz auf ein redundantes Umschreiben von Bildern und Zuständen. Dass dabei die Figuren so sehr in den Hintergrund treten, ist schade, denn damit verstärkt sich von Satz zu Satz der Eindruck, den sprachlichen Ambitionen der Autorin folgen zu müssen, statt glaubhaft in das Erleben der sechs Protagonisten einzutauchen.

Jan 19, 2025 • 4min
Thomas Brasch – Du musst gegen den Wind laufen
„Die Spaltung, glaube ich, ist sicher meine Obsession.“ So Thomas Brasch. Und Spaltung bestimmt sein Leben: er gehört nirgends ganz dazu, er ist jüdischer Herkunft, er fliegt früh von der Universität, an der er Journalistik studiert, wegen existentialistischer Anschauungen, er kommt auf die Filmhochschule Potsdam, und landet im Gefängnis, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag protestiert, er muss als Fräser arbeiten und ist doch immer Dichter.
1976 verlässt er das eine Deutschland, um ins andere überzusiedeln. Wieder also Spaltung. Spaltung im Kleinen und im Großen. Und sein berühmtestes Gedicht handelt von nichts anderem.
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Quelle: Thomas Brasch
Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt
Alles dreht sich um das Wort „aber“. Ein „aber“ und noch ein „Aber“ und noch ein „Aber“. Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt, wie auch sein Autor nicht. Viele Gedichte von Brasch klingen oft ganz einfach, zugänglich, fast liedhaft, immer auch mit dem Mut zum linken Kitsch, doch seine Reime sind kein ruhiger Hafen, seine lyrischen Texte eher getriebene, kleine poetische Maschinen, die atemlos vorwärtsstreben, ohne zu wissen, wo sie ankommen.
Da schreibt einer gehetzt um sein Leben, weil nur durchs Schreiben Erfahrungen vollständig werden können. Was nicht beschrieben ist, ist nicht. Oder anders: ich schreibe, also bin ich.
Es hatte ganz simple Gründe, Ehrgeiz und auch das Bedürfnis, Dinge anders auszudrücken, (…) Dinge zu beschreiben, die man nicht leben kann, Dinge nochmals zu erfahren, indem man sie beschreibt als eine Gegenwehr, als ein Bedürfnis, sie nicht zu vergessen, indem man sie nochmals lebt, beschreibbar.
Quelle: Thomas Brasch
Keine Erzählungen, sondern Montageroman
1977 erschienen Erzählungen unter dem schlagenden Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ Aber sie durften nur im Westen publiziert werden. Sie eröffnen den neuen Band mit gesammelter Prosa, den der Suhrkamp Verlag zum 80. Geburtstag gerade herausgegeben hat.
Bei ihrem Erscheinen waren sie eine Sensation, eine knappe, dichte Literatur um rebellische Jugend und erschöpfte Arbeiter, fast grob gefügt, wenn man so will: geschweißt, ohne dass die Nähte verdeckt würden. Brasch selbst nannte seine Prosa darum im Interview gerade nicht Erzählungen, sondern einen Montageroman.
Aber gleichzeitig wurde Brasch zu dem, was er nie sein wollte, der Stardissident in Westdeutschland, geliebt von der konservativen Presse. Denn letztlich blieb sein „Meinland“ die DDR, und wenn schon Feind, dann der eigene, und nicht der fremde Feind im „Ausland“ BRD.
Gefährdet durch das eigene Leben
Irgendwann verlor die Öffentlichkeit das Interesse an ihm. Und er an der Öffentlichkeit? Er schrieb für die Schublade, ohne Kraft zur Ordnung, tausende Seiten über seine Idee fixe, den Mädchenmörder Brunke, die immer noch unveröffentlicht im Nachlass liegen.
Was hat ihn an dem interessiert? Das radikale Außenseitertum? Die inszenierten Selbstmorde, die eben doch Morde waren? Oder einfach: Dass dieses Mädchenmörderleben um 1900 ein ganz anderes war, so dass man es nicht hätte auf seine Biographie herunterbrechen können.
Also der Brasch hat im Gefängnis gesessen, also muss er gelitten haben, also muss seine Literatur Leidensdruck haben, so eindimensional, und außerdem noch dilettantisch.
Quelle: Thomas Brasch
Denn das ist die eigentliche Tragik des Künstlers Thomas Brasch. Er war immer gefährdet durch sein eigenes Leben, sein Image: gutaussehend, cool, Frauenheld, Dichter, Filmemacher, Rebell, Dissident. Oder wie er einmal bitter bemerkte: „Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film.“ Vielleicht ist sogar etwas Wahres dran: Dass sein Leben den besten Roman schrieb.

Jan 16, 2025 • 4min
Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges
Das erste Buch seiner Reihe, „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, bezeichnete Antonio Scurati als „dokumentarischen Roman“: Alles darin, jede Figur, jeder Dialog sei durch Dokumente belegt, schrieb der Schriftsteller in einer Vorbemerkung. Das gilt auch für seine folgenden Mussolini-Romane.
Was sie von Geschichtsbüchern definitiv unterscheidet, ist zum einen das gehobene Stilregister von Scuratis Prosa, zum anderen die Kunstfertigkeit des Autors, die psychologische Entwicklung der handelnden Figuren nachzuzeichnen. Er versetzt uns – teils auch durch wortgetreu zitierte Zeitzeugnisse – in deren Gedankenwelt. Protagonisten von Scuratis M-Bücher sind größtenteils Faschisten, denen in „M. Das Buch des Krieges“ sich Nazis hinzugesellen.
Erschütternde Zeitzeugnisse
Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt sich an das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod, gemessen an den höllischen Qualen von Tausenden und Abertausenden in den Kerkern der GPU. Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen.
Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges
Ein Auszug aus dem Brief eines Polizeisekretärs aus Wien, der 1941 aus dem Russlandfeldzug an seine Frau schreibt. Es sind nicht die einzigen schaurigen Zeilen im „Buch des Krieges“. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, an dem Italien zunächst als Verbündeter Nazi-Deutschlands teilnahm.
Das Buch umspannt den Zeitraum zwischen dem 28. Juni 1940, dem achtzehnten Tag der italienischen Kriegsbeteiligung, und dem 25. Juli 1943 – dem Tag, an dem Benito Mussolini vom Großrat des Faschismus abgesetzt und auf Königsbefehl verhaftet wurde. Denn der Diktator weigerte sich weiterhin, das militärische Debakel zur Kenntnis zu nehmen.
Alles nur, um Hitler zu imponieren
Dabei war der Krieg für Italien von Anfang an verloren. Militärs und Parteikader – alle wussten, dass Italiens Waffenarsenal heillos veraltet und das Land keineswegs „kriegstüchtig“ war. Aber dem Duce war der Eintritt in den Krieg nicht auszureden gewesen. Anfangs spekulierte er darauf, Deutschland würde den Krieg im Nu gewinnen, und Italien könnte sich mit ein paar Tausend toter Soldaten ein Stück der Kriegsbeute erkaufen.
Später trieb sein verändertes Verhältnis zu Hitler Mussolini dazu, suizidale Militäraktionen zu befehlen. War der Duce der Italiener einst des Führers Vorbild gewesen, wurde er durch die militärische Übermacht Deutschlands zu seinem Trabant. Angst vor Blamage und gedemütigter Größenwahn bestimmten demnach sein Handeln.
Dass die Italiener ihren deutschen Kameraden ebenbürtig sein und seine Faschisten mit den Nazi-Verbündeten Schritt halten mögen: Das ist an diesem Septemberende Benito Mussolinis höchstes Streben. Doch zu seinem großen Kummer bringen sie es nicht fertig. Deshalb geschieht es immer häufiger, dass die Mitarbeiter des Duce seine anti-italienischen Wutausbrüche ertragen müssen.
Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges
Italiener als Kanonenfutter
Der italienische Waffengang wurde, wie vorgesehen, eine Endlosschleife von Niederlagen und sinnlosen Gemetzeln. Zu Hunderttausenden wurden schlecht ausgerüstete und nicht mal angemessen gekleidete junge Männer in den sicheren Tod geschickt. Eine angekündigte Tragödie.
In der Tat ähnelt Antonio Scuratis „M. Buch des Krieges“ einem antiken Trauerspiel: Es beschreibt den Sinkflug eines Herrschers, dessen Hybris ihn und sein Land in den Abgrund stürzt – und mitschuldig werden lässt am größten Blutbad des 20. Jahrhunderts. Mehr als 68 Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg.

Jan 15, 2025 • 4min
Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, das wussten schon die Römer. Warum tun wir es dann aber trotzdem, oft sogar mit größter Leidenschaft? Klar, wir tun es nicht, wenn es um unsere Lieblingsmarmelade geht. Aber bei der Frage nach unserem Lieblingsautor, unserer Lieblingsmusik oder -serie? Da sieht die Sache schon anders aus.
Für den Literaturkritiker Johannes Franzen ist das kein Zufall. Denn Urteile in Sachen Ästhetik besitzen ein spezielles Konfliktpotenzial: Bei ihnen geht es um viel mehr als nur um Kunst, es geht immer auch um uns selbst. Schließlich ist das, was wir am liebsten lesen, hören oder anschauen – das, wofür wir Zeit, Geld und Emotionen investiert haben –, Teil unserer Identität. Entsprechend groß sei das Verletzungspotenzial einschlägiger Äußerungen, so Franzen.
Wer die Kunst angreift, die wir lieben, der attackiert den Kern dessen, was wir sind.
Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten
„Trotzrezeption“
Unter dem schönen Titel „Wut und Wertung“ untersucht Johannes Franzen die starken Emotionen, die wir im Umgang mit Kunst entwickeln. Sein spannendes Buch ist voller überraschender Beobachtungen wie die: Es wurde noch nie so viel über Kunst gestritten wie in unserer Zeit.
Jedenfalls wenn man, wie Franzen, von einem sehr weiten Kunstbegriff ausgeht, der keinen Unterschied macht zwischen dem, was uns in Museen, im Fernsehen oder im Internet begegnet. Dann sieht man nämlich: Die Reaktionen von Rezipienten, die sich verletzt oder angegriffen fühlen, sind oft erstaunlich ähnlich.
Egal ob es um ein Eugen Gomringer-Gedicht an der Fassade einer Berliner Hochschule geht, um Karl Mays Winnetou-Romane oder den umstrittenen Partyschlager „Leyla“. So kommt es regelmäßig zum Phänomen einer „Trotzrezeption“; schließlich will man sich seine Kunst von niemandem wegnehmen lassen.
Oder es kommt sogar zu einer „agonalen Rezeption“, bei der man versucht, der Gegenseite seine Kunst quasi aufzuzwingen. Gomringers Gedicht zum Beispiel wurde zwar von besagter Hochschulwand entfernt, von empörten Gomringer-Liebhabern aber nur ein paar Häuser weiter an einer anderen Fassade angebracht.
Konflikte über Kunst und Kultur sind eminent politisch – ein ständiger Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte darüber, was gesagt und gezeigt werden darf.
Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten
Neue Macht des Publikums
Warum derartige Konflikte heute immer häufiger auftreten, kann Franzen gut erklären. Es liegt vor allem an der Digitalisierung, die dafür sorgt, dass wir ständig mit den Meinungen und Urteilen anderer oder auch Details aus dem realen Leben von Künstlern konfrontiert werden.
Und dass zugleich die Meinung des Publikums eine viel höhere Sichtbarkeit und auch Macht gewonnen hat, gerade im Verhältnis zur professionellen Kritik. Franzen erinnert an den Fall eines Musikrezensenten, der es wagte, die Musik von Taylor Swift einmal nicht in den höchsten Tönen zu loben und prompt einen Shitstorm ihrer Fans erntete, bis hin zu Morddrohungen.
Toxisches Beziehungsgeflecht
Für Kritiker wie Künstler scheinen derartige Erfahrungen kollektiver Ablehnung inzwischen leider zum normalen Berufsrisiko geworden zu sein. Das größere Problem, so Franzen, seien aber jene Künstler, die den Fans die Freude an den geliebten Werken verderben, und zwar durch das, was sie in ihrem realen Leben angeblich oder auch tatsächlich getan oder geäußert haben. Das betrifft die Musik von Michael Jackson oder Rammstein genauso wie die Filme von Woody Allen oder die Romane J. K. Rowlings.
Unterstützt man den Künstler nicht, wenn man weiterhin seine Werke rezipiert? Wie rechtfertigt man sich gegenüber denen, die von einem erwarten, dass man sich von dem betreffenden Künstler von nun an distanziert? Ob so oder so, eines sei in jedem Fall klar, betont Franzen: Wir streiten nur über das, was uns wirklich wichtig ist. Und das ist uns die Kunst heute offenkundig mehr denn je. Wie schön.

Jan 14, 2025 • 4min
Ayana Mathis – Am Flussufer ein Feuer
Philadelphia im Jahr 1985: Der 11-jährige Toussaint und seine Mutter Ava sind am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens. Avas Mann hat sie aus dem gemeinsamen Haus geworfen, ohne Freunde und ohne Geld bleibt ihnen nur eine Obdachlosenunterkunft. Eine schäbige Bleibe, voller Kakerlaken, schlechtem Essen, missgünstiger Frauen. Ava weigert sich zwar, sich mit dieser Situation abzufinden. Aber sie ist müde vom steten Überlebenskampf.
Diesem Leben von Ava und Toussaint im Norden der USA stellt Ayana Mathis in „Am Flussufer ein Feuer“ in alternierenden Kapiteln den Kampf von Avas Mutter Dutchess in Alabama gegenüber. Sie lebt in dem fiktiven Ort Bonaparte, der historischen Siedlungen wie Freetown nachgebildet ist.
Seit Jahrzehnten leben dort Schwarze auf eigenem Land, selbstbestimmt und frei. Und genauso lange wird dieser Ort von Weißen bedroht. Mit Hass und Gewalt. Nun hat es ein von Weißen geführtes Unternehmen auf das Land der Menschen abgesehen. Aber Dutchess ist wie ihre Tochter Ava nicht bereit aufzugeben.
Preis der Selbstbestimmung
Philadelphia und Alabama, Ava und Dutchess, zwei Orte, zwei Figuren voller Gegensätzlichkeiten und Gemeinsamkeiten im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. Ava ist in Bonaparte aufgewachsen – einer Welt, in der Schwarze frei leben konnten.
Im Norden erfährt sie Rassismus und Demütigung, doch der Anspruch, ein Leben zu führen, in dem sie frei sein kann, steckt tief in ihr. Sie ist eine hochinteressante komplexe Figur, die fast in einer eigenen Realität lebt. Sie glaubt, sei eine gute Mutter – tatsächlich ist Toussaint einsam und verloren. Sie hält sich für unpolitisch,
Außer dass schon ihre Annahme, dass Schwarze Menschen frei sind und selbstbestimmt handeln, in den USA eine politische Aussage ist.
Quelle: Ayana Mathis
Hoffnungslosigkeit der 1980er Jahre
Avas und Toussaints Leben ändert sich erst, als Ava Toussaints Vater wiedertrifft: den charismatischen Arzt Cass. Einst ein Black Panther, ist er desillusioniert über die politische Gegenwart. Er gründet eine Gruppe namens Arc, die auf Autonomie, Selbstbestimmung und Gewalt setzt.
Mich interessiert wie jemand ein politischer Mensch wie Cass, der zielstrebig und hoffnungsvoll war, mit dem Scheitern dieser Bewegungen umgegangen ist. Wir haben so viel getan, viele von uns wurden getötet, eingesperrt. Und im Jahr 1985 gibt es Crack. Es gibt AIDS. Es gibt keine Sozialprogramme. Ronald Reagan ist Präsident.
Quelle: Ayana Mathis
Aus Utopien Hoffnung schöpfen
Ayana Mathis verknüpft ihre historisch-politische Analyse geschickt mit den persönlichen Kämpfen der facettenreichen Figuren. Überall finden sich historische Referenzen – allein Toussaints Name verweist schon auf Toussaint Louverture, den prominentesten Anführer der haitianischen Revolution.
Auch setzt sie dem Rassismus, dem Neoliberalismus und den Demütigungen in den 1980er Jahren mit Arc und Bonaparte zwei radikale Utopien entgegen, die auf historischen Vorbildern basieren.
Eine Utopie erinnert uns daran, dass es eine andere Möglichkeit gibt: Die Dinge waren nicht immer so, wie es uns erzählt wurden – und sie müssen so auch nicht immer bleiben. Es gibt Alternativen – nicht einfach nur Fantasien oder Träume – sondern Orte, die tatsächlich existiert haben. Egal, wie es mit ihnen ausgegangen ist.
Quelle: Ayana Mathis
Beide Utopien sind gescheitert. Aber dieser vielschichtige, kluge Roman erinnert daran, dass man den Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt fortführen sollte.

Jan 13, 2025 • 4min
Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern.
Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen.
Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez
Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten.
Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente.
Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Eine charismatische Führungsperson
Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken.
Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde.
Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises
Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an.
Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden.
Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Die Rolle der Opposition
Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht.
Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen.
Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option.
Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.


