SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Mar 30, 2025 • 7min

Ingeborg Arvola – Der Aufbruch

Ingeborg Arvola ist ein zurückhaltender Mensch. Das ist beim Treffen in einem separaten Raum in der altehrwürdigen Nationalbibliothek nah beim verschneiten Schlosspark im Zentrum Oslos nicht zu übersehen. Aber wenn die 50 Jahre alte Schriftstellerin, die seit langem in der norwegischen Hauptstadt lebt, von der Gegend erzählt, in der sie aufgewachsen ist, dann verändert sie sich, dann leuchten ihre Augen. Sie stammt aus dem äußersten Norden des Landes, der sogenannten Finnmark, und gehört zur Minderheit der Kvenen, Nachkommen finnischer Einwanderer, erzählt sie: „Mein Vater kam von einem Bauernhof. Wenn ich für längere Zeit bei ihm wohnte, war das wie eine Reise in die Vergangenheit. Gesprochen wurde Finnisch oder Kvenisch. Wir waren mit Pferd und Schlitten unterwegs, holten Heu aus der Scheune, um es zu den Tieren auf dem Hof zu bringen. Er lebte in einer Lehrerwohnung in der Nähe der Schule. Und wenn wir zum Arvola-Hof fuhren, mussten wir im Sommer mit Booten oder im Winter mit Skiern über den Fluss fahren. In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, dass ich die Letzte war, die eine wirklich alte Zeit erlebte, weil er der Letzte war, der das Pferd herumführte.“ Gegen alle Widerstände Es ist wohl diese sehr intime Kenntnis einer fernen, einfachen Lebensweise, die Ingeborg Arvolas Roman „Der Aufbruch“ so lesenswert macht. Das Buch, Auftakt ihrer Eismeer-Trilogie, führt weiter zurück als nur in die Zeit der Kindheit der Autorin, nämlich bis ins 19. Jahrhundert. Arvola porträtiert eine schicksalsgläubige Gemeinschaft von Fischern und Bauern. Im Mittelpunkt der auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte steht eine unangepasste, selbstbewusste, eigensinnige Frau. Britta Caisa, aus deren Perspektive erzählt wird, hält gegen alle Widerstände an der Liebe zu einem verheirateten Mann fest und stellt sich somit gegen Jahrhunderte alte Traditionen und Gesetze. Der Roman ist eine Feier des einfachen und auch harten Lebens im äußersten Norden – und einer atemberaubenden Natur. Der Schnee hat einen ganz eigenen Glanz, wenn der Wind nachlässt und die Abendsterne am Nachmittagshimmel funkeln. Der Himmel erstreckt sich in alle Richtungen. Noch nie habe ich so viele Sterne auf einmal gesehen. Wie viele vor uns schauen wir zurück, in Richtung der dichten Wälder, der Seen und Flüsse, in deren Nähe wir gewohnt haben, auf Gebäude, Blaubeerwiesen und Familien, die wir hinter uns gelassen haben. Sie, die anderen, drehen sich um, als die Weite um uns herum alles Gewohnte verschluckt. Ich nicht. Ich begrüße das Neue. Das Offene und Große. Quelle: Ingeborg Arvola – Der Aufbruch Ingeborg Arvolas präzise, detailgenaue Beschreibungen machen die Landschaft und das Leben der Menschen darin sinnlich erfahrbar. Die schneebedeckten Weiten und die Schilderungen scheinbar schlichter, urtümlicher Lebenswege werden zu einem mythisch beseelten Gegenentwurf zur unerbittlichen Modernisierung der Welt. Ingeborg Arvola hat den Roman in Oslo mit Blick auf Straßen und Häuser geschrieben. Die Finnmark aber war trotzdem präsent. „Ich sitze in Oslo und sehne mich nach dieser Natur. Ein Teil von mir will immer in der Finnmark sein. Es ist die schönste Natur. Ich glaube, die Kombination aus Wissen und Sehnsucht macht das Buch aus. Wenn ich in der Finnmark leben und schreiben würde, wäre es vielleicht schrecklich. Womöglich ist die Sehnsucht also ganz wichtig.“ Wie eine Explosion In Norwegen erscheint im Herbst der Abschlussband der Eismeer-Trilogie. Für die Autorin war das Großprojekt selbst ein Aufbruch. Während sie zuvor vor allem Kinderbücher geschrieben hat, wurde sie für „Der Aufbruch“ 2022 mit dem Norwegischen Buchpreis ausgezeichnet. Damit habe sich für sie alles verändert, sagt sie: „Ich hatte früher fünf Leser, aber mit diesem Roman hatte ich in nur wenigen Monaten 50.000 Leser. Das war wie eine Explosion. Es war eine sehr seltsame und willkommene Erfahrung, denn ich schreibe seit 25 Jahren Bücher. Ich habe nie wirklich den Durchbruch geschafft, aber mir ist es trotzdem irgendwie gelungen, immer weiterzumachen. Und dann habe ich plötzlich all diese Leser, und sie sind so dankbar. Das ist eine sehr schöne Erfahrung.“ Zum großen Erfolg der Trilogie mag beigetragen haben, dass in Norwegen seit einiger Zeit offen und kritisch über die erzwungene Assimilation angestammter Minderheiten im Land diskutiert wird. Sprache und Kultur von Samen und Kvenen wurden lange Zeit rigide zurückgedrängt. Hoffnungsvoller Blick auf die Gegenwart Für Ingeborg Arvola gehören solche Erfahrungen jedoch der Vergangenheit an. Auf die Gegenwart schaut sie hoffnungsvoll: „Es wird mehr und mehr anerkannt, dass sich im Norden Norwegens drei Stämme treffen: Samen, Norweger und Kvenen. Jetzt, wo die Leute anfangen, ihre Wurzeln zu erforschen und ihre Familiengeschichte zu entdecken, stellen die Menschen aus Nordnorwegen fest: ‚Oh, wir haben auch diese finnischen Namen und diese samische Kultur und diese norwegischen Fischer in der Familie.‘ Es handelt sich also eher um ein fröhliches Wiederaufleben der Dinge. Und es gibt den politischen Willen, etwas zu tun, damit auch unsere Kultur wieder bessere Tage erlebt.“ Einzelne Wörter und kurze Passagen im Roman wurden auch in der deutschen Übersetzung in der Sprache der Kvenen belassen. Den Lesefluss stört das nicht, vielmehr verstärkt es den Eindruck einer ganz eigenen Welt, in die das Buch entführt. Ingeborg Arvola selbst ist ohne die Sprache ihrer Vorfahren aufgewachsen. Sie lernt sie jetzt. Am liebsten singt sie Lieder auf Kvenisch.
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Mar 30, 2025 • 12min

Preis der Leipziger Buchmesse „Zuversicht darf nicht zur Floskel verkommen“ - Kristine Bilkau über ihren Roman „Halbinsel“

Ihr Roman „Halbinsel“ kreist genau um dieses Paradox und um die Frage, wie sich eine Mutter und ihre erwachsene Tochter auf Augenhöhe begegnen können. Für ihr Buch wurde Kristine Bilkau mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
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Mar 28, 2025 • 10min

Jungs, die Könige sein wollen: Oliver Lovrenskis Roman „bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“

Oliver Lovrenski im Gespräch Kristine Harthauer: Du bist dieses Jahr auf der Leipziger Buchmesse, wahrscheinlich nicht Deine erste Buchmesse, aber Deine erste in Leipzig. Worauf freust Du Dich? Oliver Lovrenski: Ich war schon auf einigen Buchmessen mit meinem Roman, aber noch nicht in Deutschland. Ich war auch noch nicht oft in Deutschland, deswegen freue ich mich sehr, das wird schön. Leben außerhalb der Gesellschaft Kristine Harthauer: Die Leipziger Buchmesse ist bekannt dafür, dass es eine Messe für die Leser ist, es gibt mehr als 2000 Veranstaltungen und Lesungen. Die Figuren in deinem Roman hingegen sind keine Bücherwürmer. Sie heißen Marco, Jonas, Arjan und Ivor, die vier leben in Oslo, aber nicht in den schönen, reichen Stadtteilen - was sind das für Jungs, was treibt sie um?  Oliver Lovrenski: Die Figuren sind sehr unterschiedlich. Marco kommt aus Somalia, Arjan aus Indien, Ivor hat kroatische Wurzeln. Sie sind mulikulturell, haben verschiedene Religionen, aber gleichzeitig fallen sie aus der Gesellschaft raus, sie leben am Rande dessen, was als normal gilt. Sie leben in dieser Welt voller Gewalt, Drogen und Kriminalität. Und was mein Buch so besonders macht, ist, dass es kein Kriminalroman oder ein Gangsterroman ist. Es geht um die Menschen, man lernt sie als Menschen kennen: Man spürt die Liebe zwischen ihnen und was sie antreibt, ihren Hunger danach, ein wertvoller Mensch zu werden, nützlich zu sein. Und natürlich geht auch ums Geld und den Status und größer und stärker zu werden. Aber eigentlich wollen die Jungs aufwachen mit dem Gefühl, gebraucht zu werden. Sie werden von Jungs zu Männern und finden heraus, was es heißt, erwachsen zu sein. König oder Mann? Kristine Harthauer: Ja, aus den Jungs werden Männer. In einer Szene treffen die Jungs auf einen Alkoholiker, der sagt zu ihnen: „Mann werden ist schöner als König werden.“ Was für Männer wollen diese Jungs sein? Oliver Lovrenski: Ich glaube, das wissen sie gar nicht. Und woher soll man das auch wissen, wenn man 16 Jahre alt ist und du von nichts eine Ahnung hast, oder? Das Zitat ist aus einem kroatischen Gedicht oder Buch, ich bin mir da nicht mehr sicher. Aber da drin steckt ein wahrer Kern, den junge Menschen hören sollten, in diesem Fall die Jungs: Es ist ein großer Unterschied, ob du ein König oder ein Mann werden willst. Und es ist viel schöner ein Mann zu werden, der Verantwortung übernimmt, ehrlich ist und integer. Ich glaube, ein paar der Jungs in meinem Buch fangen auch an, das zu verstehen, aber es dauert. Und wenn du 16 bist, wer will da nicht König sein? Eigentlich will niemand ein Mann sein, der eine Hypothek hat und Kinder und Verantwortung trägt. Alle wollen König sein, aber das geht nicht. Es geht ein paar Jahre gut und dann bricht alles auseinander. Und Könige werden ersetzt. Kurzfristiges Glück steht über allem Kristine Harthauer: Am Ende aber sagt Ivor, dass er immer noch König werden will. Er gibt das nicht auf. Dabei hat er ja andere Träume: Boxer werden oder Anwalt. Oder dass er auf einen Hof in Kroatien zieht mit Pferden und Kühen und ohne Handyempfang. Aber er entscheidet sich anders und geht den Weg als Drogendealer in den harten Stadtteilen Oslos. Wovor flieht er, warum ist dieser Weg für ihn einfacher als der „normale“? Oliver Lovrenski: Weil man für den normalen Weg kurzfristige Opfer bringen muss, um langfristig erfolgreich zu sein. Aber in dem Umfeld, in dem Ivor lebt, zählt der kurzfristige Erfolg. Und dazu kommt, dass niemand um ihn herum langfristig denkt und er sich deswegen nicht schlecht fühlen muss. Deswegen ist es wichtig, mit wem man sich umgibt, weil diese Menschen einen beeinflussen. Sie setzen die Maßstäbe. Um da rauszukommen, muss man sich mit klugen, verantwortungsvollen Menschen umgeben. Aber es ist tragisch für viele dieser Jungs, dass sie eben in diesem Umfeld bleiben, was ihnen sehr schadet. Und ich verstehe Ivor: Ich bin heute Morgen aufgewacht mit lauter verpassten Anrufen von meiner Agentin und meinem Verlag und ich dachte mir, oh mein Gott, warum nehme ich nicht einfach das Geld von meinem Buch und ziehe auf eine Farm in Kroatien und werfe mein Handy weg? Dieser Wunsch, vor der Verantwortung zu fliehen, kommt und geht bei mir, aber er ist immer da. Ich habe mich für dieses Leben entschieden und werde nicht weglaufen. Kristine Harthauer: Du gehst den langen Weg. Oliver Lovrenski: Genau, der langfristige Weg zahlt sich mehr aus, aber man muss akzeptieren, dass so das Leben ist und es immer wehtut. Ich kenne so viele Leute, die sich für den schnellen Erfolg entschieden haben. Sie genießen ein paar gute Jahre und für den Rest ihres Lebens sind sie aber gebrochen. Die harten Seiten Oslos Kristine Harthauer: Du bist in Oslo nicht im selben Umfeld wie Deine Figuren aufgewachsen, aber Du kennst Leute aus dieser Gegend. Wo hast Du Deine Romanfiguren gefunden? Oliver Lovrenski: Die Figuren sind alle fiktiv, aber ich kenne dieses Umfeld aus meiner Jugend und aus der Schulzeit. Um mich herum war das immer präsent, der Alkohol- Drogenmissbrauch, Gefängnisse und die Gewalt, mich hat das nicht betroffen, aber die Menschen um mich herum. Freundschaft steht über der Familie Kristine Harthauer: Die Freundschaft zwischen den vier Jungs steht über der Familie. Gibt es diese Art von Freundschaft nur, wenn man in so instabilen Verhältnissen wie Ivor und seine Freunde aufwächst? Oder ist dieser Art von Freundschaft universell? Oliver Lovrenski: Ich glaube, diese Art von Freundschaft existiert eigentlich nicht, für niemanden. Diese Freundschaft ist der Teil im Buch, den ich am meisten glorifiziere oder romantisiere. Sie ist zwar nicht perfekt, aber Menschen sind nie so loyal oder so gut. Und ich würde sagen, in diesen, wie Du sagtest, instabilen Verhältnissen, betrügen sich die Menschen mehr als woanders. Du kannst dort deinen Freunden weniger vertrauen und es steht viel mehr auf dem Spiel. Den Menschen geht es viel schlechter und sie sind viel verzweifelter. Deswegen spiegelt die Freundschaft im Buch nicht wirklich die Realität wider. Es ist eher so, als würde man die besten Seiten rauspicken. Kristine Harthauer: Was ist mit Oslo? Ist es so schlimm wie Du es in Deinem Buch beschreibst? Oliver Lovrenski: Diese Gegend, die von Drogen und Kriminalität durchzogen ist, ist so wie ich es in meinem Buch beschreibe. Und es ist gerade sogar schlimmer, denn ich habe das Buch vor ein paar Jahren angefangen zu schreiben. Diese Gegend ist nur ein Teil von Oslo. Was darin passiert, betrifft die Leute außerhalb dieser Gegend nicht, oder zumindest noch nicht - aber das kann sich ändern, denn die Lage wird schlimmer. Wenn man als junger Mensch in bestimmen Teilen Oslos aufwächst, ist es schwer, sich davon nicht beeinflussen zu lassen, weil es Teil der Jugendkultur ist. Aber Oslo ist eine sichere Stadt, es ist nicht wie in Schweden. Aber in den letzten 10, 20 Jahren hat sich etwas bei den jungen Leuten verändert. Sehnsucht nach einem Bauernhofleben Kristine Harthauer: Oliver, wie hast Du mit dem Schreiben angefangen? Oliver Lovrenski: Es ist einfach passiert, ich habe einfach angefangen über Dinge zu schreiben, die ich erlebe. Und dann habe ich verstanden, dass das ein Buch werden könnte. Ich habe als Kind sehr viel gelesen und weiß, welche Kraft Bücher haben. Und in Norwegen hatte niemand bisher über dieses Umfeld geschrieben. Ich habe gedacht, dann mache ich das halt, weil ich die Sprache kenne und die Gefühle und weiß, was dort passiert. Ich war 17, 18 als ich mit dem Schreiben angefangen habe und es war nicht so, dass ich mir wirkliche viele Wege offenstanden. Und es hat schließlich geklappt. Ich habe zwei Jahre für das Buch gebraucht und nachdem es erschienen ist, war ich müde vom Schreiben und habe gesagt, dass ich damit aufhöre. Aber ich mag es, zu schreiben und mache erst mal weiter. Nur nach dem nächsten Buch werfe ich wahrscheinlich mein Handy weg und ziehe doch auf eine Farm. Ich liebe es, zu schreiben, aber ich liebe es auch, Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich liebe es, dass ich die Möglichkeit habe, all das zu tun, es ist ein bisschen verrückt. Aber das ist nichts für mich. Ich werde andere Entscheidungen treffen, um etwas mehr Ruhe zu bekommen. Ich lese gern und packe mir viele Bücher ein und schalte das Internet aus. Und es wird immer noch okay sein. Kristine Harthauer: Auf einer Farm kannst Du trotzdem weiterschreiben. Oliver Lovrenski: Das stimmt schon und es geht sogar besser, das ist toll, eigentlich will ich auch nicht anderes machen.
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Mar 23, 2025 • 7min

Ein Jahr „Literally“ – Der TikTok-Literaturkanal des BR

Knut Cordsen und Miriam Fendt, die Hosts des BookTok-Kanals „br_literally", sprechen über den Einfluss der Plattform auf die Buchbranche, die Lesevorlieben junger Nutzer und Nutzerinnen und die neue Lust an alten Geschichten. Der erste deutsche „Hype-Roman“ Hätte es TikTok schon immer gegeben, welcher Autor oder welche Autorin wäre wohl der größte Star auf BookTok geworden? Knut Cordsen und Miriam Fendt entscheiden sich beide für Johann Wolfgang von Goethe. Der hat schon in den frühen literarischen Salons gerne ausgiebig über Bücher gesprochen und mit „Die Leiden des jungen Werther“ vielleicht den ersten deutschen „Hype-Roman“ geschrieben hat, so Fendt. Das Video, das „Literally" dazu auf TikTok teilte, ging viral. Warum kommen Inhalte zu Klassikern auf BookTok so gut an? Miriam Fendt erklärt sich den Erfolg des Videos zum einen damit, dass Klassiker, oft auch als Pflichtlektüre im Schulunterricht, ein wichtiges Thema für die Nutzer und Nutzerinnen seien und, dass die Plattform TikTok schließlich auch als Suchmaschine und Informationsquelle genutzt werde. Eine weitere These könne sein, dass gerade in instabilen Zeiten gerne nach Altbewährtem gegriffen werde. Was ist BookTok eigentlich? BookTok ist ein Bereich auf der Social-Media-Plattform TikTok, der sich rund um Bücher dreht. In kurzen Videos sprechen „BookToker“ über ihre Lieblingsbücher, geben Einblicke in ihre Lesemonate oder präsentieren ihre Bücherstapel. Es gibt bestimmte Genres, die besonders beliebt auf BookTok sind: Viral gehen vor allem New-Adult-, Romance- oder Fantasy-Romane. Mittlerweile hat die Plattform einen riesigen Einfluss auf die Buchverkäufe und einige Buchhandlungen schmücken sich mit BookTok-Tischen, auf denen Bücher liegen, die sich in der Community großer Beliebtheit erfreuen. TikTok – Der literarische Salon unserer Zeit? Könnte BookTok die digitale Wiedergeburt der literarischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts sein? Knut Cordsen erklärt, dass diese Salons nicht unbedingt ein feiner, eleganter Ort gewesen sein müssen, sondern, dass es vor allem Orte waren, an denen über alles gesprochen wurde, was mit Literatur zu tun hat. Heute sei der Anspruch, Gemeinsamkeiten zwischen den literarischen Werken aus der Vergangenheit und Aspekten der Gegenwart zu finden. Trends auf BookTok Welche Bücher auf BookTok in den Vordergrund rücken, sei in den meisten Fällen Zufall, mutmaßt Fendt im Gespräch im SWR Kultur lesenswert Magazin. Die Trends zeigen, dass die Originalität der Texte nach wie vor im Vordergrund stehe, um das Publikum zu überzeugen. Videos, die auf dem „Literally"-Kanal besonders viel geklickt wurden, waren zum Beispiel das über die zweite Verbrennung von Büchern Erich Kästners im Jahr 1965 oder das Video über den Schriftsteller Patrick Süskind.
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Mar 23, 2025 • 6min

Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke

Doktor Birgitte Solheim ist alt. Wirklich alt. Die meisten ihrer Freundinnen, Liebhaber, Kollegen sind tot. Und nun ist schon wieder jemand gestorben. Damit beginnt dieser kleine Roman der norwegischen Autorin Kjersti Anfinnsen. Die Ich-Erzählerin ist eine seit langem pensionierte Herzchirurgin. Sie lebt allein in Paris und hält mit ihrer Schwester in Norwegen per Videochat Kontakt. Gudrun ist tot. Meine beste Freundin während der Kindheit und Jugend. Die Nachricht verkündet mir meine Schwester, die immer noch am Leben ist – ganz offensichtlich. Die Nachricht lässt mich ungefähr drei Sekunden lang zusammensacken und dann denke ich: „Und ich dachte, die sei schon vor Jahren gestorben.“ [...] Ich streiche Gudrun von der Liste der Leute, die mich noch etwas angehen. Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke Der Buchtitel „Letzte zärtliche Augenblicke“ klingt ein bisschen kitschig – und lockt auf eine falsche Fährte. Diese Heldin ist keine selbstgenügsam über die Welt und die kleinen Freuden des Alters meditierende Seniorin. Im Gegenteil. Mit dem Beruf verheiratet und jetzt allein Birgitte war mit ihrem Beruf verheiratet, nun ist sie allein, und sie weiß es. Sie ist angewiesen auf die Hilfe und den Trost von Fremden, und sie weiß es. Sie hat eine revolutionäre OP-Technik entwickelt, wofür ihr männlicher Kollege die Lorbeeren eingeheimst hat, und sie weiß es. Ihre schwierige Kindheit, das problematische Verhältnis zur Schwester, ihr eigenes Unvermögen, dauerhafte Beziehungen einzugehen – sie weiß um all das. Und seit einer Weile weiß sie auch, wie Altern sich anfühlt. Man sagt, das Leben verlaufe zyklisch, doch der Vergleich hinkt. Irgendetwas fehlt. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, fehlt etwas. Jedes Mal, wenn ich meine Hände betrachte, fehlt etwas. Ich weiß ganz genau, was da fehlt: Mir fehlt eine Zukunft. Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke Doch Birgitte gibt die Hoffnung nicht auf. Zu Recht, wie sich zeigt. Javiér, ein Architekt, mit dem sie zunächst Chatnachrichten ausgetauscht hat, entpuppt sich von der ersten Begegnung an als ihre letzte große Liebe. Sie zieht zu ihm, auch wenn sie ihre eigene Wohnung in der idyllischen Rue des Thermopyles vorsichtshalber behält. Man hat Sex – einmal im Monat –, man trinkt Wein, man streitet ab und zu, man ist füreinander da. Aber wenn man erst über neunzig ist, kann es ganz schnell gehen. Gedächtnislücken und Demenz, Stürze und Brüche, Krankenhaus und Hospizbett, all das bleibt Birgitte und Javiér nicht erspart, und am Ende wartet unausweichlich – das Ende. Wer unerwartet zum guten Freund wird Zuvor jedoch gibt es immer wieder diese kleinen „Augenblicke für die Ewigkeit“, wie einer der beiden Teile des Romans heißt. Etwa, wenn Birgitte gegen den Wirt ihres Stammrestaurants im Canasta gewinnt. Oder wenn ihr treuer Friseur mit einem Arm voller Pfingstrosen, ihrer besten Perücke, dem Lieblingsparfum und Komplimenten zu Besuch kommt. Dann gibt er mir ein Glas St. Germain, legt mir eine Wolldecke über den Schoß und sagt mir, wie himmlisch ich dufte. Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke Kjersti Anfinnsen, die Autorin von „Letzte zärtliche Augenblicke“, bleibt immer in der Perspektive ihrer Hauptfigur und hält Birgittes Ton: mal nüchtern, mal trauervoll, mal sarkastisch. Erzählt wird oft in inneren Monologen, aber auch Szenen und Dialogen. Die kurzen Kapitel fügen sich nicht nahtlos aneinander, sondern springen scheinbar spontan zwischen gerade Erlebtem und Erinnerungen hin und her. Vieles wird ausgelassen oder erst mehrere Seiten später wieder aufgegriffen. So stellt sich beim Lesen der Eindruck intensiver Intimität ein. Auch, weil diese nicht sonderlich sympathische Ich-Erzählerin mit Zweifeln, Selbstmitleid, Sehnsucht und Selbstsucht und der Beobachtung des eigenen Verfalls nicht hinterm Berg hält. Das gelebte Leben bleibt, und sei es in der Trauer um das Verlorene. Keine Küsse mehr. Keine Streitereien mehr. Keine Worte mehr [...], auch keine wie Schmetterlinge vor ihrem ersten Flug flatternden Blicke mehr. Keine Hände mehr auf der Haut. Keine Versöhnung andeutenden Füße unter der Bettdecke mehr, nachdem das Licht gelöscht ist. Lediglich eine winzige Hoffnung, ein kleiner Spatz, der sich erhebt und verrückt davonfliegt. Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke Die Autorin, geboren 1975, hat sich mit Mitte vierzig an das Selbstporträt einer doppelt so alten Frau gewagt. Nicht immer entgeht sie dem Risiko, bei der Innensicht des sehr hohen Alters zu dick aufzutragen. Die leitmotivisch auftauchenden Perückenprobleme einer Pariserin zum Beispiel dürften die meisten deutschen Leserinnen befremden. Was nutzen die Privilegien, wenn’s aufs Ende geht? Dass Kjersti Anfinnsen ihren Roman in offenkundig gutsituierten Kreisen ansiedelt, ist hingegen eher Vorzug als Nachteil. Der ersten Herzchirurgin von Norwegen, die sich ihren Platz erobert hat, nutzen ihre Privilegien nur bedingt, wenn’s auf Ende geht: Haushaltshilfen und Lieferdienste erleichtern den Alltag, aber gegen die Erfahrung von Einsamkeit, Krankheit, Ängsten hilft das Geld nicht. Der Tod kommt so oder so. Wenn das mal nicht der größte Skandal überhaupt ist. „Letzte zärtliche Augenblicke“ überrascht trotzdem immer wieder mit unerwarteten Lichtblicken. Zugleich wirft der Roman grelle Schlaglichter auf ein paar Dinge, die auch in der Literatur gemeinhin im Dunklen bleiben, obwohl sie jeden angehen.
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Mar 23, 2025 • 7min

Buchpremiere: Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Vor Annett Gröschner erstreckt sich ein kleines Blumenmeer: weiße, rote Tulpen und Maiglöckchen. Daneben lehnt ein verbeultes gelbes Warnschild: „Unter schwebenden Lasten lauert der Tod“ – ein Geschenk zur Buchpremiere im ausverkauften Literaturforum im Brechthaus, zu der viele Freunde vornehmlich aus dem Osten gekommen sind. Ihr neuer Roman trägt den Titel „Schwebende Lasten“. In der Mechanik beschreibt das Objekte, die beispielsweise von Kränen gehoben werden. Viele Berührungspunkte mit Annett Gröschners Leben Ein poetischer Titel für ein Buch, das nichts weniger als ein ganzes Leben hebt, ein fiktives, das viele Berührungspunkte mit Gröschners eigenem hat. Zu Beginn flimmert auf der Leinwand eine private Filmaufnahme zu Nina Hagens „Blumen für die Damen": ein fröhlicher Familienausflug im Park. „Das ist ein Schmalfilm, den unser Vater gemacht hat, 1963 im Sommer. Und hier vorne das ist meine Mutter und in dieser Mutter bin ich,“ erzählt Gröschner. Das körnige Bild der winkenden Mutter ist auch das Cover des Buches geworden. „Ich sag das jetzt nur hier, denn für den Roman spielt das eigentlich keine Rolle, aber ich fand den Film so schön.“ Annett Gröschner lebt zwar schon seit 42 Jahren in Berlin, doch ihre Heimatstadt Magdeburg scheint sie – zumindest literarisch – nicht loszulassen. Nach ihrem Debüt „Moskauer Eis“ im Jahr 2000, könnte man „Schwebende Lasten“ 25 Jahre später als Pendant bezeichnen. „Weil ich gedacht habe, ich finde diese Konstellation in meiner Familie so interessant, dass der väterliche Teil in so eine industrielle Familie eingeheiratet hat und der mütterliche Teil proletarisch war – was eigentlich im Westen nie zusammengegangen wäre – ich wollte es einfach erzählen.“ Ein Reiseführer durch den Osten Für Patricia Klobosiczky, die Lektorin des Romans und Moderatorin des Abends, sind Gröschners Bücher so etwas wie Reiseführer durch den Osten. Sie meint: „Sie ahnen nicht, wie entfernt der deutsche Osten wirkte – und zwar von Süddeutschland aus gesehen, von Düsseldorf und von Hamburg aus gesehen.“ Wie ein Kompass können Gröschners Texte einen in eine vergangene Welt führen. Und das kann man auch von Schwebende Lasten behaupten. Hier wird von einer Frau erzählt, die es so millionenfach gegeben hat, aber für gewöhnlich in der Geschichtsschreibung unsichtbar geblieben ist. Es geht um Hanna Krause, geboren im Kaiserreich, Blumenhändlerin im Nationalsozialismus und Kranfahrerin in der DDR. Sie erlebt zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, zwei Demokratien. Hanna ist aber keine Heldin, war nie politisch aktiv. Ihr einziges Credo: „anständig bleiben“. Als Hanna mit ihrem ersten Kind in den Wehen lag und dabei auf die Johanniskirche schaute, wusste sie noch keinen Namen. Die Hebamme drückte auf ihren Bauch, damit es schneller ging: „Wer Ostern mit den Eiern spielt, hat Weihnachten die Bescherung. Also Geschenk auspacken.“ Quelle: Annett Gröschner – Schwebende Lasten Insgesamt wird Hanna sechs Kinder auf die Welt bringen, von denen zwei vor ihr sterben. Für Lektorin Klobusiczky eine beeindruckende Frau. „Sie ist so unglaublich plastisch. Für mich ist sie auch ein freier Mensch, obwohl sie ja von einer Diktatur in die nächste stolpert.“ Trotz all der Schicksalsschläge und Widrigkeiten schlägt sich Hanna tapfer durchs Leben. Blumen sind Lebenstrost und Ruhepool Blumen bleiben zeitlebens ein Trost. Sie bilden den Ruhepol der Handlung. Passenderweise trägt Gröschner ein Tuch um den Hals mit dem Gemälde „Blumenvase in einer Fensternische“ des niederländischen Malers Ambrosius Bosschaert. Das Stillleben bildet das Gerüst des Romans. Jeder Blume aus dem Bild ist ein Kapitel gewidmet: Alpenveilchen, Vergissmeinnicht, …Studentenblume. Auch Tagetes genannt. Leuchtendes Gelb oder Orange. Aus der Familie der Korbblütler. Ist nur einjährig, aber sehr anpassungsfähig und robust. Riecht streng. Wenn im Strauß, dann nur 1-2 und mit angenehm duftenden Blumen. Quelle: Annett Gröschner – Schwebende Lasten Hanna bekommt im Jahr 1938 von einem geheimnisvollen Fremden den Auftrag, das Bukett vom Gemälde nachzubinden. Damals unmöglich, niemals hätten Tulpen und Rosen gleichzeitig in einer Vase stehen können. „Das waren alles so Sachen, die musste ich selber erst lernen. Aber das Schöne ist, dass die Familie meiner Agentin, das sind Blumenhändler, und wir haben das dann ausprobiert.“ Bosschaerts Bild steht für die Schönheit der Schöpfung und Vanitas in einem, eine Metapher für die Ambivalenz des Lebens. „Ich wollte nicht nur dieses Leben einer Arbeiterin beschreiben, sondern es ging mir auch ein bisschen zu zeigen: das Blumenbinden ist ja auch eine Kunst.“ Auf wenigen Seiten erzählt Gröschner so viel: man lernt nicht nur die zupackende Hanna kennen, sondern auch ihr Umfeld, die ehelichen Dynamiken mit ihrem einbeinigen und im Alter stummen Mann Karl, man hört die Menschen reden, und man bekommt Eindrücke von einer Stadt, die heute so nicht mehr existiert. Wie das gänzlich im Krieg zerstörte Armenviertel „Knattergebirge“ – vor dem Zweiten Weltkrieg eines der am dichtesten bebauten Wohngebiete Europas. „Wenn Sie schon mal in Magdeburg waren, hinterm alten Markt, die Johanniskirche, wenn man da bis zur Elbe geht, ist alles Grünanlage und das war das Knattergebirge. Also auf dieser Grünanlage befanden sich 20, 30 Gassen und Straßen und davon ist nichts übrig geblieben. Aber die Keller sind noch da. Und das war etwas, was unsere Kindheit auch bestimmt hat.“ Eine Frau in der Schwerindustrie – jenseits aller Ideologie So gibt es eigentlich zwei Protagonisten in diesem Roman: Hanna und die Stadt Magdeburg. Gröschner erzählt, sie habe mal ein Buch über Kriegserfahrungen von Frauen in Berlin gemacht, da habe sie viel über das Erzählen aus weiblicher Sicht gelernt: „Die haben einfach die ganzen schrecklichen Sachen so erzählt, dass man irgendwie lachen musste und im nächsten Moment blieb einem das Lachen aber im Hals stecken. Ich fand diese Art der Erzähltechnik sehr überzeugend.“ So ist vermutlich auch die Lakonie in „Schwebende Lasten" gekommen. Die schnörkellosen Sätze wirken mitunter burschikos. Trotzdem ist der Roman – jenseits von Ideologie und Ostalgie – niemals dumpf, sondern im Gegenteil ein dicht gearbeitetes, eindrückliches wie unprätentiöses Porträt der unvergesslichen Hanna Krause, die als ältere Frau auf dem Kran in der Schwerindustrie arbeitet. Je besser sie den Kran beherrschte, desto mehr Gefallen fand sie an ihrer Position. Bald nannte sie ihren Kran Mimi. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl. Quelle: Annett Gröschner – Schwebende Lasten Nach der Lesung trägt Annett Gröschner ihr Blechschild stolz in den Keller. Dort wird ihr Roman mit Wein, Schichtbroten und vielen frühlingshaften Blumensträußen gefeiert.
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Mar 23, 2025 • 6min

Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn

Jonathan Lethem eröffnet seinen Roman mit einer merkwürdigen Szene im Jahr 1978. Da sitzen zwei vierzehnjährige Jungs in einer Wohnung und zersägen 25-Cent-Münzen in vier Teile. Eine „völlig sinnlose Tätigkeit“, wie auch der Erzähler feststellt. Was natürlich nicht stimmt, denn noch am selben Tag wird sich zeigen, was es damit auf sich hat – die Leser erfahren das allerdings erst 300 Seiten später. Jonathan Lethems Roman hat eine ungewöhnliche Erzählstruktur. Er ist eine Collage aus Short Cuts, Erzählungen, Ereignissen, angesiedelt in den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart hinein, kunstvoll arrangiert zu einem Wimmelbild von Brooklyn. Ein Querschnitt durch die Zeiten; die Bühne besteht aus nur wenigen Straßen, und trotzdem ist das Buch vielfältig, abwechslungsreich und gesellschaftsdiagnostisch. Wer aber ist dieser Erzähler überhaupt, der mal in der Wir-, mal in der Ich-Form aus der Dean Street in Brooklyn erzählt? Zunächst einmal jemand, der sich gleich zu Beginn selbst zu strikter Sachlichkeit ermahnt: Aufwachsen mit täglicher Kriminalität Ein Mittel gegen Lyrismen. Halten wir das Licht, besonders das honigfarbene Licht, von unseren Augen fern. Nur die Fakten, Mann – keine malerischen Effekte. Wir sind hier, um Verbrechen aufzulisten. Die Stadt ist ein Netz von schematischen Darstellungen. Versuchen wir, ein paar Nadeln in die Karte zu stecken. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Dieses Vorhaben scheitert – glücklicherweise. Der Titel „Der Fall Brooklyn“ greift ganz bewusst auf juristisches Vokabular zurück. Lethem zeigt, wie Jugendliche in Brooklyn in den 1970er-Jahren, die er selbst dort erlebt hat, in einem Umfeld selbstverständlicher Kriminalität aufwachsen. Überfälle, Diebstähle, Drohungen und Machtkämpfe unter rivalisierenden Gangs sind der Normalfall. Lethem kennt die Sprüche, die Gesten, das Distinktionsgehabe bis ins kleinste Detail. Und er erzählt davon in einem swingenden, mitreißenden Tonfall, ohne den Ernst der Lage zu verharmlosen. Für die Straßenkriminalität und die Raubüberfälle unter den Jugendlichen wählt Lethem das Bild des Tanzes: Ein streng choreographierter Ablauf von Blicken, Bewegungen und Dialogen, von dem abzuweichen beinahe ein Vergehen ist und den nur die Jugendlichen untereinander verstehen: Die Geschichte vom Pizzadieb Die Eltern werden es nie wirklich kapieren. Was draußen vor sich geht. Wie sich der Tanz wirklich anfühlt. Die Worte, die gesprochen werden, und das, was gemeint ist, die Bedeutung, die hinter den Worten der Straße lauert. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Und weil das so ist, gilt für jeden Einzelnen da draußen auf der Straße: „Schütz dich selbst. Niemand anderes tut es für dich. Entwickle Methoden." Staat, Polizei, Hausbesitzer oder Behörden sind hier keine Autoritäten. Im Gegenteil: Sie sind Player im großen Getriebe, das Lethem in seinen Beschreibungen offenlegt. Auch die Mafia mischt natürlich kräftig mit. Und in einem Sprung in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre wird beschrieben, welche Auswirkungen die restriktiven Polizeimaßnahmen unter Bürgermeister Giuliani hatten. Dass es trotz aller Härten auch zu kuriosen Situationen kommt, versteht sich: Da ist beispielsweise der Kunde eines Optikers, der regelmäßig einen dunklen Fleck auf seiner Brille moniert. Da sind Berichte von missglückten Überfällen, allen voran der kuriose Fall, in dem ein Pizzadieb scheitert, weil sein Opfer das Stück einfach schnell aufisst, woraufhin der fassungslose Täter empört protestiert, dass das so nicht gehe. Da ist aber auch die Geschichte der beginnenden Gentrifizierung des Stadtteils in Person eines angeblichen Millionärs, der eines der alten Häuser kauft, aufwendig renoviert und dort einzieht. Ein Millionär zieht ein Der Sohn dieses Millionärs wird alsbald eine Lektion in Sachen Ladendiebstahl erhalten. Er lernt, dass wenn ein weißer und ein schwarzer Junge gemeinsam ein Geschäft betreten, der Weiße ungehindert heraustragen kann, was er möchte, weil es der Schwarze ist, der gefilzt wird. Es ist aber auch jener vermeintliche Millionärssohn, der am Ende zu einem der beiden wirklich erschreckenden Kriminalfälle beitragen wird, die der Erzähler recherchiert hat. Der Erzähler wiederum, der über rund 400 Seiten als alles sehende, alles wissende und alles kontextualisierende Instanz aufgetreten ist, erweist sich schließlich als eines der erwachsen gewordenen Kinder aus der Dean Street: Es gab die, die abgehauen sind, und die, die geblieben sind; ich war einer von denen, die geblieben sind. Mehr will ich nicht verraten. Ich will lieber nicht deutlicher werden. Sagen wir einfach, ich bin für immer unter ihnen. Schwarzen, Braunen, Weißen, Jungen, Mädchen. Den Erinnerern und den Vergessern. Ich gehöre zu ihnen. Ich liebe sie zu sehr, um mehr sagen zu wollen. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Eine Liebeserklärung an die Stadt. Manchmal nostalgisch, nie verklärend – und exzellent geschrieben: „Der Fall Brooklyn“ zeigt Jonathan Lethem endlich wieder in Bestform. Ein Stadtteil, der immer im Schatten des glamourösen Manhattan lag, wird zur Bühne für einen Reigen aus Träumen, Ängsten und sozialen Verwerfungen. Und was es mit den zersägten Münzen der beiden Vierzehnjährigen auf sich hat, wird hier selbstverständlich nicht verraten.
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Mar 23, 2025 • 7min

Ein Blick auf die norwegische Literaturszene

Welche Bücher lohnen sich besonders? Und welche Rolle spielt die Leipziger Buchmesse für norwegische Autoren und Autorinnen? Das bespricht Theresa Hübner im Lesenswert Magazin mit Norwegen-Kenner Thomas Böhm.
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Mar 20, 2025 • 4min

Walburga Hülk – Victor Hugo. Jahrhundertmensch

Woher nahm Victor Hugo nur seine Zeit? Tausende Gedichte, epochale Romane, wegweisende Theaterstücke, dazu ein Leben als öffentlicher Intellektueller, Familienmensch und notorischer Schürzenjäger. Die Literaturwissenschaftlerin Walburga Hülk hat sich durch das Werk eines Titanen gearbeitet, Selbst- und Fremdzeugnisse gesichtet und nun die Biographie eines „Jahrhundertmenschen“ vorgelegt, der früh sein außerordentliches Talent für Selbstvermarktung und Networking unter Beweis stellte. Das Porträt eines Ausnahmekünstlers, der, wie sie immer wieder schreibt, „mit dem Jahrhundert ging“. Der sich nach einer langen royalistischen Phase an die Spitze progressiver bürgerlicher Strömungen stellte, was ihn nach dem Staatsstreich von Napoleon III. 1851 ins Exil trieb.   Ein lebendes Denkmal  Beinahe 20 Jahre verbrachte Hugo auf den britischen Kanalinseln, die zu seiner zweiten Heimat wurden. Dort entstand unter anderem „Les Misérables“, und von dort aus lancierte er seine Kampagnen gegen die Todesstrafe, gegen die Sklaverei und gegen autoritäre Systeme. Bei seiner Rückkehr nach Paris 1870 war Hugo bereits ein lebendes Denkmal, die Verehrung nahm bald kultische Ausmaße an.    Am 26. Februar 1881 feierten 600.000 Menschen in Paris den 79. Geburtstag Hugos, die Schule fiel aus und Strafarbeiten wurden den Kindern an diesem Tag erlassen, denn alle sollten dem Großvater der Nation zujubeln können. Es war die längste Prozession, die Paris seit den Tagen Napoleon Bonapartes gesehen hatte, und die größte Massenanbetung, die je einem Dichter zuteil wurde.   Quelle: Walburga Hülk – Victor Hugo. Jahrhundertmensch Von Selbstzweifel verschonter Patriarch  Victor Hugo bleibt bei der Lektüre dieser umfangreichen Biographie seltsam fremd und unnahbar. Das liegt nicht an Hülks Darstellung, die kunstvoll und lebendig, stellenweise mitreißend ist, sondern an der historischen Figur selbst. Es fällt schwer, Sympathie für diesen von Selbstzweifel gänzlich verschonten Patriarchen aufzubringen, der bei privaten Treffen seine Orden trug, an allen möglichen Orten seine Initialen eingravierte und selbst den vorzeitigen Tod seiner beiden Söhne mit Blick auf seine Bücher kommentierte:   Mein Charles hat L’année terrible nicht gelesen, mein Victor hat Quatrevingt-Treize nicht gelesen. Vielleicht lesen sie es von dort oben.  Quelle: Walburga Hülk – Victor Hugo. Jahrhundertmensch Näher kommen uns die Dutzenden Nebenfiguren, die Hülk auftreten lässt, während das Jahrhundert und mit ihm die Industrialisierung und die Vernetzung der Welt voranschreiten. Hugos Tochter Adèle etwa, eine begabte Musikerin, deren Jugend dem Familien-Exil auf den Kanalinseln zum Opfer fiel und die früh mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Oder Hugos Geliebte Juliette Drouet, die lebenslang neben Hugo wohnte und ihm zuarbeitete, ohne dass sie jemals einen offiziellen Platz an seiner Seite erhielt.   Der erste Intellektuelle des globalen Medienzeitalters  Trotz der klaren Benennung seiner Schwächen geht es Hülk nicht darum, Hugo in postmoderner Manier zu verurteilen. Sie versucht stets, das Handeln der Figuren aus ihrer Zeit heraus zu verstehen – und gerade deshalb streicht sie die besonders modernen Momente in Hugos Werk und Leben hervor. Er revolutionierte das Theater, war der erste „Intellektuelle des globalen Medienzeitalters“, experimentierte mit dem brandneuen Medium Fotografie, beschäftigte sich mit Massenbewegungen und entwickelte die Vision eines geeinten Europa. Hülk erzählt poetisch und prägnant zugleich von der Verwobenheit eines Künstlerlebens mit seinem Jahrhundert. Resümierend hält sie fest:   Er konnte blumig, ja kitschig sein, Pomp und Pathos gehören zu seinem Stil ebenso wie der lyrische Ton, die Satire, Arabeske und Groteske. Immer aber bewegte er Herz und Verstand und erzählte so, dass man glauben mochte, Erzählen helfe in allen Lebenslagen und könne selbst niemals in eine Krise geraten. Er ging durch das Leben und durch sein Jahrhundert als Passant in der Menge und als Streuner am Meeresstrand, und das Jahrhundert und das Leben kamen zu ihm. Quelle: Walburga Hülk – Victor Hugo. Jahrhundertmensch
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Mar 19, 2025 • 4min

Arno Frank – Ginsterburg

Noch ein Roman über das Dritte Reich? Sind uns die Geschichten der Täter und Opfer, der Mitläufer und Profiteure nicht sattsam bekannt? Was soll da noch Neues enthüllt werden? Das sind berechtigte Fragen. Aber entscheidend ist bekanntlich nicht so sehr was, sondern wie etwas erzählt wird. Und das Wie macht den Roman von Arno Frank zu einem Ereignis. Die Genauigkeit und Anschaulichkeit sind beeindruckend, mit der er die Verrohung einer Gesellschaft zeigt, ihre immer stärkere Drift ins Totalitäre und ihren Untergang.   „Ginsterburg“ ist eine fiktive mittelgroße Stadt am Main. Arno Frank blickt drei Mal, jeweils im Abstand von fünf Jahren, auf den Ort, seine Menschen und darauf, wie sie sich verändern. 1935 ist die Diktatur noch jung, aber spürbar, 1940 ist das Nazireich auf dem Gipfel seiner Machtentfaltung, 1945 folgt die Abrechnung.  Zu weich für die Zeit  Der Leser taucht ein in die Stadtgesellschaft, in das Alltagsleben der Einwohner. Gekonnt verschränkt der Autor die Lebensläufe und Perspektiven von einem guten Dutzend Menschen – von „ganz normalen Deutschen“, wie er betont. Das offensive Auftrumpfen der einen und der resignierte Rückzug der anderen wird immer wieder unterbrochen durch dokumentarische Passagen mit historischen Zeitungsartikeln und Wochenschau-Verlautbarungen. Zwei Figuren sind besonders interessant: der talentierte Journalist Eugen, der sich zunächst noch traut, freche Artikel zu schreiben, aber bald einer Mischung aus Druck und Verlockungen nachgibt. Und Lothar, der sensible Sohn der Buchhändlerin Merle, der zu weich ist für die Zeit.  Immer heftiger schlug die Forelle mit dem Schwanz, tanzte über den Sand. Lothar ließ das Messer fallen. „Ich kann’s nicht“, sagte er verblüfft. Schon hatte er den hüpfenden Fisch gepackt und zurück ins Wasser geworfen. „Was kannst du nicht?“ „Grausam sein. Töten. Ich kann es nicht.“ Gesine lächelte aufmunternd: „Das lernst du schon noch!“ Quelle: Arno Frank – Ginsterburg Wie ein Gottesgericht  Und Lothar lernt es. Er wird eingespeist in das totalitäre System und zum gefeierten Jagdflieger. Seine Freundin Gesine, eine überzeugte Nationalsozialistin, ist stolz auf den Kriegshelden. Lothar hingegen stehen die Sinnlosigkeit und das Verbrecherische des Krieges immer deutlicher vor Augen, ohne dass es für ihn ein Entkommen gibt. Arno Frank deutet und interpretiert nicht, er lässt die dargestellte Wirklichkeit für sich sprechen. Walter Kempowskis kollektives Tagebuch „Echolot“ und Viktor Klemperers „LTI“ über die stereotype Sprache des Dritten Reiches, der Lingua Tertii Imperii, seien Fixsterne für ihn gewesen, sagt er.   Das Ende kommt wie ein Gottesgericht über die Stadt. Das flächendeckende Bombardement unterscheidet nicht zwischen Schuldigen und Unschuldigen – und hinterlässt eine Trümmerwüste. Arno Frank hat mit spürbarer Freude am Detail die Stadt selbst mit ihren Häusern, Gassen und dem alles überragenden Münster sinnlich erfahrbar gemacht. Im Feuersturm wird Ginsterburg ausgelöscht.  “Wenn sich sowas ausdrückt wie eine Trauer über die Vernichtung so vieler deutscher Städte, großer wie kleiner, auch ganz kleiner, mitsamt ihrer kulturellen Fracht der Jahrhunderte, dann ist das auch ein Antrieb gewesen für mich, dieses Buch zu schreiben.“  Dieser souverän erzählte Roman muss die Trauer nicht ausklammern. Arno Frank lässt keinen Zweifel daran, dass die Zerstörung der Stadt und das massenhafte Sterben der Preis sind, den Ginsterburg bezahlen muss für die ängstliche Tatenlosigkeit und das kalte Einverständnis, die bequemen Beschwichtigungen und die fidele Überheblichkeit.   Wie konnten Menschen so unberührt bleiben vom Gang der Dinge? War es so einfach, sich im Gleichschritt zum schweren Tritt der Zeit zu bewegen? Nicht einmal aus bösem Willen, einfach aus Instinkt?  Quelle: Arno Frank – Ginsterburg Darüber denkt einmal eine verzweifelte Frau nach, deren jüdischer Mann eingesperrt wurde. Es ist die zentrale Frage des Buches. Arno Frank zeigt auf so bedrückende wie eindrückliche Weise, wie es möglich war, unberührt zu bleiben, und wohin Gleichgültigkeit und Verblendung führen können.

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