Armutsbekämpfung: "Wir steuern auf eine enorme Krise zu"
Jun 27, 2022
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Andrea Böhm, eine erfahrene Redakteurin und Korrespondentin, die über Krisen berichtet, spricht mit Muhammad Yunus, dem Friedensnobelpreisträger aus Bangladesch, und Saskia Bruysten, CEO von Yunus Social Business. Sie diskutieren die alarmierenden Zunahmen von Armut und Hunger durch den Ukraine-Krieg und die Klimakrise. Yunus warnt vor digitaler Ungleichheit und verteidigt Mikrokredite als unterstützendes Mittel für Bedürftige. Bruysten betont die Bedeutung sozialer Unternehmen und innovative Ansätze zur Bekämpfung von Armut in der heutigen Welt.
Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine treiben die weltweite Armut und Hunger auf alarmierende Weise in die Höhe.
Mohammed Yunus betont, dass Mikrokredite als Instrument zur Bekämpfung von Armut und Schaffung von wirtschaftlicher Unabhängigkeit dienen können.
Die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit wird als Folge des versagenden Systems und ungleicher Ressourcenverteilung identifiziert.
Deep dives
Krisen und zunehmende Armut
Die gegenwärtigen globalen Krisen wie die Klimakrise, Kriege und die Corona-Pandemie haben zu einem dramatischen Anstieg der Armut geführt. Laut den Vereinten Nationen könnte die COVID-19-Pandemie im Jahr 2022 zusätzlich 198 Millionen Menschen in extreme Armut drängen, während die Nahrungsmittelkrise aufgrund des Ukraine-Kriegs weitere 65 Millionen Menschen betrifft. Dies steht im Gegensatz zu den Fortschritten der letzten Jahrzehnte, in denen die Zahl der Menschen in extremer Armut von 1,9 Milliarden im Jahr 1990 auf etwa 650 Millionen im Jahr 2018 gesenkt wurde. Diese Rückschritte verdeutlichen, wie anfällig die Fortschritte gegen die Auswirkungen multilateraler Krisen sind und dass die Armut erneut zunimmt.
Globale Hungerkrise
Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur die Nahrungsmittelversorgung weltweit beeinträchtigt, sondern auch bestehende Flüchtlingskrisen verschärft, wodurch über 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Während viele Länder von diesen Krisen betroffen sind, sind insbesondere von Dürrebetroffene Regionen in Ostafrika stark gefährdet. Die Kombinations aus steigenden Lebensmittelpreisen und Klimagefahren führt dazu, dass viele bereits in der Armut lebende Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich die notwendigen Nahrungsmittel zu leisten. Die Auswirkungen dieser Krisen sind verheerend und zeigen, dass die internationale Gemeinschaft dringend handeln muss, um humanitäre Hilfe zu leisten.
Mikrokredite als Lösungsansatz
Mohamed Yunus, Nobelpreisträger und Erfinder des Mikrokreditkonzepts, argumentiert, dass Armut kein unveränderliches Schicksal ist, sondern durch wirtschaftliche Mittel bekämpft werden kann. Er betont, dass Mikrokredite Menschen in prekären Lebenslagen helfen können, indem sie Zugang zu Kapital erhalten, um eigene Geschäfte zu gründen und unabhängig zu werden. Trotz Kritik an dem Modell, das in einigen Fällen missbraucht wurde, drängt Yunus auf ein Umdenken, das auf soziale Unternehmen und kollektives Wohl abzielt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, den Finanzierungsansatz zu reformieren, um nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu sichern.
Systematische Ungleichheit und ihre Ursachen
Die gegenwärtige globale Situation zeigt, dass wirtschaftliche Ungleichheiten nicht nur durch individuelle Schicksale, sondern vor allem durch das versagen des Systems selbst verursacht werden. Die Konzentration von Reichtum bei wenigen Individuen und in wenigen Ländern wird als Hauptursache für systematische Armut identifiziert. Da die reichsten Länder weiterhin von Krisen profitieren, während arme Länder zurückbleiben, wird die Schiefer der Ungleichheit weiter verschärft. Eine grundlegende Umgestaltung des Wirtschafts- und Bildungssystems könnte helfen, diese Ungleichheiten abzubauen und den Menschen die Möglichkeit geben, ihre unternehmerischen Fähigkeiten zu entfalten.
Optimismus und zukünftige Perspektiven
Trotz der drängenden Probleme zeigt die Kooperationsarbeit zwischen Sozialunternehmen und großen Firmen, dass es positive Schritte in Richtung einer sozialeren Wirtschaft geben kann. Es besteht die Möglichkeit, dass soziale Unternehmen, die unternehmerische Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen suchen, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit leisten. Auch wenn es viele strukturelle Probleme gibt, erkennt die internationale Gemeinschaft zunehmend die Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung von Ressourcen. Durch die Schaffung einer Nachhaltigkeitsagenda, die soziale und ökologische Verantwortung berücksichtigt, kann der Weg zu einer inklusiveren und gerechtigkeitsorientierten Wirtschaft geebnet werden.
Jahrelang hat die extreme Armut in der Welt abgenommen – doch die Pandemie hat den Trend umgekehrt. Die Armut und mit ihr der Hunger könnten sogar weiter wachsen, denn der Krieg Russlands gegen die Ukraine bewirkt, dass die Getreide- und Energiepreise stark steigen; in manchen Teilen der Erde sorgt zudem der Klimawandel mit Dürren und Überschwemmungen für Missernten. "Wir steuern auf eine enorme Krise zu", sagt deswegen der Ökonom Muhammad Yunus aus Bangladesch, der für seine Methode, die Armut mit Kleinstkrediten an Bedürftige zu bekämpfen, 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
In der neuen Folge des ZEIT- und ZEIT-ONLINE-Wirtschaftspodcasts Ist das eine Blase? kritisiert Yunus den mangelnden Einsatz beim Kampf gegen den Klimawandel und die ungerechte Verteilung von Impfstoffen während der Corona-Pandemie. Die Ungleichheit sei eine "tickende Zeitbombe", so Yunus, der in dieser Woche 82 Jahre alt wird.
Im Gespräch mit den Hosts Lisa Hegemann und Jens Tönnesmann erklären er und seine Kollegin Saskia Bruysten, wie sie die Menschen befähigen wollen, der Armut zu entkommen – etwa, indem sie ihnen finanzielle Mittel dafür bereitstellen, soziale Unternehmen zu gründen. Bruysten ist Mitgründerin und CEO der Organisation Yunus Social Business und berät als Mitglied des ZEIT Green Council die ZEIT-Redaktion. Im Podcast erklären sie und Yunus, warum sie mit Konzernen kooperieren, und verteidigen das Konzept der Mikrokredite gegen die Kritik, die es daran inzwischen gibt.
Außerdem ist in der 18. Folge des Wirtschaftspodcasts auch Andrea Böhm zu Gast, die seit 2006 als Redakteurin und Korrespondentin für die ZEIT arbeitet, lange aus Beirut berichtete und viele Male Afrika und den Nahen Osten bereiste. Zuletzt war die Journalistin auch in der Ukraine unterwegs, um über den Krieg Russlands und seine Folgen zu berichten. Im Podcast erklärt Andrea Böhm, wie Armut eigentlich gemessen wird, wie die gegenwärtigen Krisen miteinander zusammenhängen und worauf es bei der Bekämpfung von Armut ihrer Erfahrung nach besonders ankommt.
Im Wirtschaftspodcast Ist das eine Blase? sprechen Lisa Nienhaus, Jens Tönnesmann und Lisa Hegemann immer montags über das, was die Welt im Innersten zusammenhält: Geld, Macht, Gerechtigkeit. Immer mit einem Experten aus der Redaktion, einem Gast – und einem Tier.
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