Privilegienkritik neu gedacht - Was heißt hier eigentlich Privileg?
Jan 2, 2025
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Markus Rieger-Ladich, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen, diskutiert kritisch den Begriff des Privilegs. Er beleuchtet die Entwicklung der Privilegienkritik und verbindet persönliche Erinnerungen an seine Großmutter mit sozialen Klassenfragen. Rieger-Ladich fordert eine neue Betrachtungsweise, die Schuldzuweisungen vermeidet und die Komplexität von Diskriminierung in den Fokus rückt. Er thematisiert die Herausforderungen und die Bedeutung von Solidarität im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten.
Die Kritik an Privilegien hat in der politischen Diskussion an Schärfe verloren und wird oft als persönliche Moralisierung wahrgenommen.
Historisch werden Privilegien als unverdiente Vorteile gesehen, die oft durch soziale Hierarchien und institutionelle Diskriminierung verstärkt werden.
Bildungseinrichtungen spielen eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung von Ungleichheiten und es ist wichtig, ihre Wirkung auf die Chancengleichheit zu überprüfen.
Deep dives
Die Bedeutung des Privilegien-Checks
Der Begriff 'Privilegien-Check' hat sich in den letzten Jahren als gesellschaftliches Thema etabliert. In vielen Kontexten wird er verwendet, um unverdiente Vorteile zu identifizieren, die bestimmten Personengruppen zugutekommen. Diese Kritik am Privilegienbegriff hat allerdings an politischer Brisanz verloren und wird häufig als bloßes Modewort betrachtet. Der Redner hebt hervor, dass eine produktive Auseinandersetzung mit Privilegien notwendig ist, um diese Selbstbezichtigung auf fruchtbare Weise zu gestalten.
Historische Perspektive auf Privilegien
Die Diskussion über Privilegien hat historische Wurzeln, die bis in die vormodernen Gesellschaften zurückreichen, in denen privilegierte Rechte häufig nach geopolitischen und sozialen Hierarchien vergeben wurden. Im Laufe der Zeit gerieten diese Willkürakte in die Kritik, besonders nach der Französischen Revolution, als Privilegien als Symbole von Ungerechtigkeit wahrgenommen wurden. Der Redner erläutert die Transformation des Privilegs zu einem zentralen Konzept in der Bildungssoziologie der 1960er und 70er Jahre, als akademische Debatten über Ungleichheit begannen. Diese Entwicklung hat im heutigen Diskurs über soziale Gerechtigkeit eine zentrale Rolle gespielt.
Der Wandel der Privilegienkritik
Im Laufe der Zeit hat die Kritik an Privilegien an Schärfe verloren und wird oft als moralisch diffuses Konzept wahrgenommen. Während der Begriff in der Vergangenheit eine kraftvolle Politik benannte, droht er gegenwärtig, sich in einer Vielzahl von persönlichen Anklagen zu verlieren. Der Redner beschreibt, dass die individuelle Verantwortung, sich mit Privilegien auseinanderzusetzen, häufig in der Öffentlichkeit betont wird, während gemeinschaftliche Strukturen vernachlässigt werden. So kommt es, dass Diskussionen über ein Privilegien-Check oft zu einer Moralisierung des Individuums führen anstatt strukturelle Ungleichheiten anzugehen.
Die Rolle der Bildungseinrichtungen
Bildungseinrichtungen sind zentrale Akteure im Diskurs über Privilegien und soziale Ungleichheit. Der Redner betont, dass viele gegenwärtige Bildungsstrukturen die unverdiente Bevorzugung gewisser Gruppen eher festigen als beseitigen. Der Begriff 'Cooling Out' wird verwendet, um zu beschreiben, wie institutionelle Diskriminierung verdeckt funktioniert und bestimmte Gruppen von Möglichkeiten ausschließt. Es ist entscheidend, das Bildungssystem auf seine Fähigkeit hin zu überprüfen, Chancengleichheit unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe zu schaffen.
Selbstreflexion und soziale Verantwortung
Die Praxis des Privilegien-Checks fordert Individuen heraus, sich kritisch mit ihrer eigenen Position in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass persönliche Bewusstwerdung allein nicht ausreicht, um strukturelle Ungleichheiten abzubauen. Individuen neigen dazu, die Verantwortung für Ungerechtigkeiten als persönliche Schuld zu empfinden, was zu einem reduzierten Verständnis gesellschaftlicher Probleme führt. Der Redner plädiert für eine Rückkehr zu einer solidarischen Analyse, die sowohl individuelle als auch strukturelle Dimensionen der Ungleichheit berücksichtigt.
Ein Vortrag des Erziehungswissenschaftlers Markus Rieger-Ladich Moderation: Katja Weber
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"Ich als alter weißer Mann..." - diese Aussage signalisiert: Ich bin auf der Höhe der Zeit, ich kenne die gängigen Diskurse. Aber als ritualisierte Beichte bringt diese Erkenntnis gar nichts, meint der Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich.
Markus Rieger-Ladich ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. 2022 erschien sein Band "Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument". Seinen Vortrag mit dem Titel "Was heißt hier Privileg? - Privilegienkritik neu gedacht" hat er auf Einladung des Hörsaals am 11. Oktober 2024 anlässlich des Pocast-Festivals Beats & Bones gehalten.
00:02:20 - Gespräch vor dem Vortrag und was Rieger-Ladichs Oma damit zu tun hat
00:08:04 - Beginn Vortrag: Einleitung, These und Überblick
00:10:33 - Privileg aus rechtstheoretischer Perspektive
00:16:41 - Der Begriff Privileg in der Bildungssoziologie der 1960er und 1970er Jahre
00:17:49 - Privilegienkritik als Kampfbegriff in emanzipatorischen Bewegungen
00:38:30 - Herausforderungen für einen Neustart der Debatte
00: 42:32 - Publikumsfragen nach dem Vortrag
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Empfehlungen aus der Folge:
Mohamed Amjahid. Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein. München: Hanser Berlin 2017.
Aus Politik und Zeitgeschichte: Privilegien. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2024.
Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. 5., erweitere Auflage. Wiesbaden: SpringerVS 2016.
Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron. Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Sozio-logie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett 1971.
Pierre Bourdieu. Bildung. Aus dem Französischen von Barbara Picht u.a. Mit einem Nachwort von Markus Rieger-Ladich. Berlin: Suhrkamp 2018.
Esme Choonara/Yuri Prasad. Der Irrweg der Privilegientheorie. In: International Socialism 142 (2020), S. 83-110.
Combahee River Collective. Ein Schwarzes feministisches Statement (1977). In: Natascha A. Kelly (Hrsg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast 2019, S. 47-60.
Didier Eribon. Betrachtungen zur Schwulenfrage. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Berlin: Suhrkamp 2019.
Roxane Gay. Fragwürdige Privilegien. In: Dies.: Bad Feminist. Essays. München: btb 2019, S. 31-36.
Michael S. Kimmel/Abby L. Ferber (Hrsg.): Privilege. A Reader. New York: Routledge 2017.
Maria-Sibylla Lotter. Ich bin schuldig, weil ich bin (weiß, männlich und bürgerlich). Politik als Läuterungsdiskurs. In: Herwig Grimm/Stephan Schleissig (Hrsg.): Moral und Schuld. Exkulpationsnarrative in Ethikdebatten. Baden-Baden: Nomos 2019, S. 67-86.
Peggy McIntosh. Weißsein als Privileg. Die Privilege Papers. Nachwort von Markus Rieger-Ladich. Ditzingen: Reclam 2024.
Walter Benn Michaels. Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheiten zu ignorieren. Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Hesse. Berlin: Tiamat 2021.
Linda Martín Alcoff. Das Problem, für andere zu sprechen. Ditzingen: Reclam 2023.
Charles W. Mills. Weißes Nichtwissen. In: Kristina Lepold/Marina Martinez Mateo (Hrsg.): Critical Philosophy of Race. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 180-216,
Heinz Mohnhaupt. Privilegien als Sonderrechte in europäischen Rechtsordnungen vom Mittelalter bis heute. Frankfurt/Main: Klostermann 2024.
Heinz Mohnhaupt/Barbara Dölemeyer (Hrsg.): Das Privileg im europäischen Vergleich. 2 Bände. Frankfurt/Main: Klostermann 1997/1999.
Toni Morrison. Die Herkunft der Anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur. Mit einem Vorwort von Ta-Nehisi Coates. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Reinbek: Rowohlt 2018.
Markus Rieger-Ladich. Identitätsdebatte oder: Das Comeback des Privilegs. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 66 (2021), S. 97-104.
Markus Rieger-Ladich. Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. Ditzingen: Reclam 2022.
Markus Rieger-Ladich. Privilegien. In: Merkur 77 (2023), Heft 889, S. 71-80.
Markus Rieger-Ladich. Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (2024), S. 4-10.
Jörg Scheller. (Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert. Stuttgart: Hirzel 2022.
Steffen Vogel. Das Erbe von 68: Identitätspolitik als Kulturrevolution. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 66 (2021), S. 97-104.
Katharina Walgenbach. Bildungsprivilegien im 21. Jahrhundert. In: Meike Sophia Baader/Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden: VS 2017, S. 513-536.