Soziologe Steffen Mau - Warum bleibt der Osten so anders?
Sep 4, 2024
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Steffen Mau ist Soziologe, Autor und Professor an der Humboldt-Universität. Er thematisiert die finanziellen und sozialen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, wobei die Rolle der AfD und die demokratische Entwicklung im Osten im Fokus stehen. Mau reflektiert über Ostalgie und die Identität der Menschen im Osten. Persönliche Erlebnisse und gesellschaftliche Veränderungen seit der Wende verdeutlichen die emotionale Komplexität der Diskussion. Er warnt vor einer zunehmenden politischen Polarisierung und gibt Einblicke in die Herausforderungen der ostdeutschen Gesellschaft.
Die Wahl zeigte eine klare Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland, die sich in unterschiedlichen politischen Ansichten und Wählermustern manifestiert.
Jüngere Ostdeutsche entwickeln eine stärkere Identität und Oststolz, die sich von früheren Generationen abhebt und ihre Erfahrungen reflektiert.
Die Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur der DDR ist unzureichend, was zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit und Ressentiment unter Ostdeutschen führt.
Der demographische Wandel und die Abwanderung junger Menschen verschärfen die politischen und sozialen Herausforderungen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands.
Deep dives
Unterschiedliche politische Landschaften
Die Wahl hat eine deutliche Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland in den Parteienstrukturen und der politischen Ausrichtung offenbart. In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass die politischen Ansichten und das Wahlverhalten in Ostdeutschland stark von den Erfahrungen und der Geschichte der Region geprägt sind. Diese Unterschiede manifestieren sich in der Wählerschaft, die im Osten oft andere Prioritäten hat und häufiger populistischen Parteien wie der AfD zustimmt. Die eben genannten Tendenzen lassen die Vermutung aufkommen, dass die Wiedervereinigung nicht vollständig gelungen ist und das Gefühl der Ungleichheit trotz materiellen Wohlstands anhält.
Ostdeutsche Identitäten und Stolz
Eine interessante Beobachtung ist, dass jüngere Ostdeutsche, die nach der Wende aufgewachsen sind, oft eine stärkere ostdeutsche Identität empfinden als die Generationen davor. Diese Generation identifiziert sich nicht nur stärker mit ihrer Herkunft, sondern zeigt auch einen gewissen Oststolz, der sich von den Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Diese Neuausrichtung der Identität hat möglicherweise auch mit dem öffentlichen Diskurs über Ostdeutschland und seinen Herausforderungen zu tun, der in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit erhält. In der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit fühlen sich junge Ostdeutsche ermutigt, ihre Identität zu betonen und für die Anerkennung ihrer Erfahrungen einzutreten.
Erinnerungskultur und ihre Dynamiken
Das Gespräch thematisiert auch die Erinnerungskultur in Ostdeutschland und die Art und Weise, wie die Vergangenheit aufbereitet wird. Während im Westen eine offene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stattfand, fehlt im Osten oft eine ähnliche Reflexion über die DDR. Diese verzögerte Auseinandersetzung führt zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit und Ressentiment unter den Ostdeutschen, die sich oft als Bürger zweiter Klasse fühlen. Zudem wird angesprochen, dass eine tiefere Beschäftigung mit der DDR-Geschichte notwendig ist, um die verschiedenen Narrativen und Erfahrungen sichtbar zu machen.
Transformationsmüdigkeit und gesellschaftliche Spannungen
Die Transformationsmüdigkeit ist ein zentrales Thema, das die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher erklärt. Diese Erschöpfung rührt von den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen nach der Wende her, die viele Menschen überfordert haben. Innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung gibt es das Gefühl, dass der Transformationsprozess nicht die erhofften Resultate gebracht hat, was zu Frustration führt. Diese Frustration kann sich in einem verstärkten Nationalismus und der Unterstützung populistischer Bewegungen äußern, die ihre Anliegen oft über einfache Lösungen propagieren.
Demographischer Wandel und Abwanderung
Ein kritischer Aspekt der ostdeutschen Realität ist der demographische Wandel, der sich durch Abwanderung junger und qualifizierter Menschen äußert. Viele, die die Region verlassen, tun dies in der Hoffnung auf bessere berufliche Perspektiven und Lebensbedingungen im Westen. Dies führt dazu, dass ländliche Räume in Ostdeutschland entvölkert werden und die dort verbleibenden älteren Generationen mit einer schwindenden Infrastruktur und weniger sozialen Kontakten konfrontiert sind. Dieser demographische Trend verstärkt die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und trägt gleichzeitig zur politischen Fragmentierung bei.
Rechtsextreme Tendenzen und ihre Ursachen
Die Analyse der Wahlergebnisse zeigt, dass rechtsextreme Bewegungen in Ostdeutschland größeren Rückhalt finden, egal ob sie sich auf historische oder gegenwärtige Ängste stützen. Dies ist nicht nur ein Ergebnis von Unzufriedenheit mit der politischen Elite, sondern auch das Produkt einer tief verwurzelten Gesellschaftskultur, die Schwierigkeiten hat, sich mit der neuen Realität der deutschen Einheit auseinanderzusetzen. In vielen Städten Ostdeutschlands sind rechtsextreme Ideologien verbreitet, was wiederum in einem komplizierten Verhältnis zu den aktuellen Herausforderungen der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik steht. Diese Dynamiken sind ein ernstes Hindernis für die soziale Kohäsion und die Stabilität der Demokratie.
Öffentlicher Diskurs und Medienpräsenz
Der öffentliche Diskurs über Ostdeutschland wird oft von Vorurteilen und einer einseitigen Berichterstattung geprägt, die die regionalen Herausforderungen nicht adäquat widerspiegelt. Dies führt dazu, dass viele Ostdeutsche sich nicht repräsentiert oder gehört fühlen. Soziale Medien und regionale Nachrichten sind für die Ostdeutschen oft die wichtigsten Informationsquellen, während sie von überregionalen Medien oft ignoriert oder falsch dargestellt werden. Diese unzureichende Berichterstattung trägt dazu bei, das Gefühl eines 'anderen' Ostdeutschlands zu verstärken, was zu einer weiteren Isolation der Region im gesamtdeutschen Diskurs führen kann.
Herausforderungen und Chancen für die Zukunft
Die nächsten Jahre stellen sowohl für Ost- als auch Westdeutschland immense Herausforderungen dar, insbesondere im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politischen Strukturen. Eine positive Entwicklung könnte in der stärkeren Partizipation der Ostdeutschen in den politischen Entscheidungsprozessen liegen, was dazu beitragen könnte, das Gefühl der Marginalisierung zu verringern. Zukünftige Diskussionen sollten sich darauf konzentrieren, ein respektvolles und inklusives Bild von Ostdeutschland zu fördern, das die Diversität der Meinungen und Erfahrungen widerspiegelt. Der Dialog muss fortgeführt werden, um eine gemeinsame Zukunft zu gestalten, die sowohl den Bedürfnissen als auch der Identität der Menschen in Ostdeutschland gerecht wird.
Steffen ist Soziologe, Autor und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem ist er Teil des Sachverständigenrats für Integration und Migration.
Seine Bücher “Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft” und “Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft” wurden viel diskutiert. Nun ist seine neueste Publikation “Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt” auch wieder in aller Munde. Ich wollte von ihm wissen, wie es aus seiner Sicht - vor allem im Hinblick auf die aktuellen Landtagswahlen - um unsere Demokratie steht und was ihm heute noch Hoffnung gibt. Wir sprechen über seinen Blick auf den Osten Deutschlands, sein Aufwachsen dort und seine soziologische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grabenkämpfen zwischen Ost und West. Es geht um Ostalgie und Nostalgie, um verklärte Blickweisen, Osterklärungsmüdigkeit und um die AfD als Klassensprecher des Ostens.