Elisabeth Hammer, Sozialwissenschaftlerin und Geschäftsführerin von Neunerhaus, und Stefan Prochazka, ehemals obdachlos und jetzt Ombudsmann beim Verein LOK, sprechen über die Vorurteile und Stigmatisierungen, die obdachlose Menschen erleben. Wolfram Berger gibt Einblicke in die Mythen rund um Wohnungslosigkeit. Sie diskutieren die Komplexität der Ursachen, das 'Housing First'-Konzept und die Herausforderungen in der Wohnungslosenhilfe. Zudem wird beleuchtet, wie Geduld und respektvolle Unterstützung transformierende Veränderungen bewirken können.
Obdachlosigkeit betrifft über 22.000 Menschen in Österreich und wird oft als individuelles Versagen missverstanden, während viele komplexe Probleme haben.
Die Diskrepanz zwischen steigenden Wohnkosten und stagnierenden Einkommen führt zunehmend zur Obdachlosigkeit, besonders unter einkommensschwachen Gruppen.
Das 'Housing First'-Konzept bietet einen effektiven Ansatz zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, indem es Betroffenen sichere Wohnungen und individuelle Unterstützung bereitstellt.
Deep dives
Die Realität der Obdachlosigkeit in Österreich
In Österreich sind über 22.000 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen, eine Zahl, die durch die Covid-19-Pandemie weiter steigen könnte. Obdachlosigkeit wird oft fälschlicherweise als individuelles Versagen betrachtet, während viele Betroffene durch eine Vielzahl belastender Umstände in diese Situation geraten. Menschen, die obdachlos sind, kämpfen nicht nur mit materiellen Mängeln, sondern auch mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Mythen. Eine differenzierte Sicht auf die Realität der Obdachlosen zeigt, dass in vielen Fällen psychische Erkrankungen, Suchtproblematiken oder familiäre Umstände eine Rolle spielen, die zu dieser Lebenssituation führen können.
Mythen und Vorurteile über Obdachlosigkeit
Ein weit verbreitetes Vorurteil besagt, dass obdachlose Menschen nur dann auf der Straße leben, weil sie es so wollen oder unfähig sind, ihr Leben zu ändern. In der Realität sind viele von ihnen mit komplexen persönlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert, die sie in diese Lage bringen. Die Fachleute betonen, dass es eine Vielzahl an Lebensgeschichten gibt, die zu Obdachlosigkeit führen, und dass nicht alle Betroffenen nur auf Hilfe warten oder gegen den Willen der Gesellschaft arbeiten. Hierzu zählen auch Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen leben oder junge Erwachsene, die aus Pflegeeinrichtungen entlassen werden und nicht wissen, wie sie sich in der Welt zurechtfinden sollen.
Der Einfluss von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren
Die wachsende Diskrepanz zwischen steigenden Wohnkosten und stagnierenden Einkommensverhältnissen wird als eine der Hauptursachen für Obdachlosigkeit in Österreich identifiziert. Während die Mietpreise in den letzten zehn Jahren erheblich angestiegen sind, haben sich die Einkommen nicht im gleichen Maß erhöht, was zur finanziellen Belastung vieler Menschen führt. Diese wirtschaftlichen Bedingungen beeinträchtigen insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen und mittlere Schichten, die zunehmend Schwierigkeiten haben, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Daher stellt sich die Frage nach strukturellen Lösungen, die über individuelle Hilfsmaßnahmen hinausgehen müssen.
Hilfsangebote und die Rolle von Housing First
Wien hat ein umfassendes Netz an Hilfsangeboten für obdachlose und wohnungslose Menschen, das von verschiedenen sozialen Organisationen unterstützt wird. Ein zukunftsweisendes Konzept ist 'Housing First', das darauf abzielt, betroffenen Personen schnellstens eine eigene Wohnung zu bieten, gefolgt von individueller Unterstützung. Studien zeigen, dass Menschen, die in Wohnungen nach diesem Prinzip vermittelt wurden, eine hohe Stabilität erreichen und häufig auch längerfristig in ihren neuen Wohnverhältnissen bleiben. Die Implementierung dieser Programme erfordert jedoch, dass leistbare Wohnungen für alle zur Verfügung stehen und die betroffenen Menschen die notwendige Unterstützung erhalten, um stabil zu leben.
Gesellschaftliche Sichtweisen und persönliche Geschichten
Die Wahrnehmung von Obdachlosen in der Gesellschaft ist oft von Stigmatisierung und Vorurteilen geprägt, was die Bereitschaft der Betroffenen, Hilfe anzunehmen, erschwert. Ehemalige Obdachlose wie Stefan Prohaska berichten von ihren Erfahrungen und der inneren Bereitschaft, Hilfe zu akzeptieren, während sie gleichzeitig mit Vorurteilen konfrontiert sind. Die Geschichten, die von Betroffenen erzählt werden, verdeutlichen, dass viele von ihnen den Wunsch nach einem „normalen“ Leben haben und dass Unterstützung auf Augenhöhe entscheidend ist. Es ist entscheidend, die eigenen Ängste und Vorurteile zu reflektieren und zu erkennen, dass Obdachlosigkeit viele Gesichter hat und jeden treffen kann.
Über 22.000 Menschen sind in Österreich von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffen und sind einer Vielzahl an Vorurteilen ausgesetzt. Sie hören eine Lesung von Texten zum Thema von Wolfram Berger. Ausserdem ein Gespräch zwischen Elisabeth Hammer (Geschäftsführerin im Neunerhaus) dem ehemals wohnungslosen Stefan Prochazka (Ombudsmann Verein LOK) in einer Wiener Vorlesung vom 17.11.2021 mit Christoph Feuerstein über die Macht von Vorurteilen, Stigmatisierung und Scham.
Lesen Sie den FALTER vier Wochen lang kostenlos: https://abo.falter.at/gratis