Jana Puglierin, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations, ist Expertin für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Sie diskutiert die Rückkehr zur Wehrpflicht und die Notwendigkeit einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch Frauen einbezieht. Puglierin weist auf juristische und praktische Herausforderungen hin und betont die geopolitischen Veränderungen seit 2022. Besonders spannend ist ihre Einschätzung zur Bundeswehr als Logistikunternehmen bei Konflikten und die strategischen Bedrohungen durch Russland.
Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 geschah überwiegend aus finanziellen Gründen, was die Debatte über eine Reaktivierung nach der Ukraine-Krise anheizt.
Die Bundeswehr benötigt laut Experten mindestens 230.000 bis 270.000 Soldaten, um den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen gerecht zu werden.
Eine allgemeine Dienstpflicht könnte das Verantwortungsbewusstsein der jungen Generation fördern, um eine ausgewogene Gesellschaft in Sicherheitsfragen zu schaffen.
Deep dives
Aussetzung der Wehrpflicht und neue Herausforderungen
Die Pflicht zum Grundwehrdienst wurde 2011 ausgesetzt, was damals primär aus finanziellen Gründen geschah und weniger mit sicherheitspolitischen Überlegungen zu tun hatte. Einige Jahre später, insbesondere nach der russischen Invasion in der Ukraine, stellt sich die Frage, ob die Wehrpflicht tatsächlich wieder eingeführt werden sollte. Dabei bleibt die verfassungsrechtliche Grundlage der Wehrpflicht bestehen, was eine Reaktivierung erleichtern könnte. Es gibt jedoch auch rechtliche und praktische Herausforderungen, die in der Debatte berücksichtigt werden müssen.
Personal- und Ausrüstungsproblematik der Bundeswehr
Die Bundeswehr wird vor allem kritisiert, weil sie aktuell zu wenige Soldaten hat und gleichzeitig unter Ausrüstungsproblemen leidet. Der Fokus hat sich von internationalen Einsätzen hin zur Landes- und Bündnisverteidigung verschoben, insbesondere seit 2022. Jüngste Strategien der NATO verlangen eine bessere militärische Ausstattung und höhere Personalzahlen, die jedoch aktuell bei weitem nicht erreicht werden. Es ist notwendig, sowohl die Anzahl der Soldaten zu erhöhen als auch die Qualität und Einsatzbereitschaft ihrer Ausrüstung sicherzustellen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Wehrpflicht als Lösung für Personalengpässe?
Es wird argumentiert, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht helfen könnte, die Personalengpässe der Bundeswehr zu schließen und gleichzeitig die Attraktivität des Wehrdienstes zu steigern. Historische Erfahrungen zeigen, dass viele Soldaten, die zum Grundwehrdienst einberufen wurden, hinterher eine längere Verpflichtung eingegangen sind. Expert:innen schätzen, dass die Bundeswehr mindestens 230.000 bis 270.000 Soldaten benötigen würde, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Die Wehrpflicht könnte also als Mittel dienen, um junge Menschen für den Dienst zu gewinnen und die Reservekräfte zu erhöhen.
Debatte über Dienstpflicht und gesellschaftliche Verantwortung
Die Diskussion über die Wehrpflicht wirft auch Fragen zur gesellschaftlichen Verantwortung und zum Pflichtbewusstsein junger Menschen auf. Viele junge Menschen empfinden es als unfair, dass sie für Sicherheitsanforderungen aufkommen sollen, die oft von älteren Generationen veranlasst wurden. Eine allgemeine Dienstpflicht, die sowohl militärischen als auch zivilen Dienst umfasst, könnte helfen, ein gemeinsames Verantwortungsbewusstsein in der Gesellschaft zu fördern. Diese Diskussion zeigt sich nicht nur in politischen Kreisen, sondern auch in alltäglichen Gesprächen und an Stammtischen.
Neuorientierung der Sicherheitsstrategie in Europa
Die aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen verändern die Vorstellungen darüber, wie Europa militärisch aufgestellt sein sollte. Die Notwendigkeit, auf hybride Bedrohungen und eine mögliche aggressivere Außenpolitik Russlands zu reagieren, hat die Diskussion um die Wehrpflicht in den Fokus gerückt. Es wird zunehmend darüber diskutiert, wie man die gemeinsamen europäischen Anstrengungen in der Verteidigung optimieren könnte, einschließlich Kooperationen zwischen den Streitkräften. Ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit, das zivile und militärische Aspekte miteinander verbindet, könnte helfen, die gesellschaftliche Unterstützung für sicherheitsrelevante Maßnahmen zu stärken.
2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, nun soll ein Modell eingeführt werden, mit dem junge Menschen wieder für einen möglichen Wehrdienst erfasst werden sollen. Brauchen wir eine allgemeine Dienstpflicht? Für wen sollte sie gelten? Welche juristischen Probleme gäbe es, welche praktischen? Was würde das kosten? Und welche Aufgaben kämen im Verteidigungsfall auf die Soldaten und Soldatinnen konkret zu?
Darüber sprechen wir in "Das Politikteil" mit Jana Puglierin, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations und Leiterin von dessen Berliner Büro. Puglierin erklärt, warum sie für eine allgemeine Dienstpflicht ist, die auch für Frauen gilt, und warum aus ihrer Sicht zu wenig über den zivilen Schutz gesprochen wird. Die Sicherheitsexpertin sagt: "Russland produziert mehr Waffen, als es für den Krieg gegen die Ukraine braucht", und beschreibt, welche Aufgaben die Bundeswehr im sogenannten Spannungs- oder sogar Kriegsfall konkret hätte: Sie wäre nicht nur Kampftruppe, sondern auch ein riesiges Logistikunternehmen.
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