Wer gehört zu Österreich? Der Streit um die Staatsbürgerschaft – #556
Jul 1, 2021
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Julia Herr, SPÖ-Nationalratsabgeordnete und frühere Vorsitzende der Sozialistischen Jugend, diskutiert mit Claudia Plakolm, ÖVP-Nationalratsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Jungen Volkspartei, sowie der Migrationsexpertin Nina Brnada über die umstrittenen Reformvorschläge zur Erleichterung des Staatsbürgererwerbs. Sie beleuchten die Herausforderungen der Integration von Einwanderern und die Bedeutung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft für ihre politische Teilhabe. Der Gegensatz von SPÖ und ÖVP zeigt die scharfen politischen Linien in dieser Diskussion.
Der SPÖ-Vorschlag zur Erleichterung des Staatsbürgerschaftserwerbs für Einwanderer zielt darauf ab, die Realität Österreichs als Einwanderungsland anzuerkennen.
Die Diskussion zeigt, dass die Forderung nach Integrationsvoraussetzungen der ÖVP potenziell zu einer Ungleichbehandlung von lang ansässigen Migranten führen kann.
Deep dives
Reform der Staatsbürgerschaft
Der Vorschlag der Sozialdemokratie sieht vor, Einwanderern den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern, insbesondere für Kinder, die in Österreich geboren werden, und deren Eltern eine Mindestaufenthaltsdauer von fünf Jahren nachweisen können. Dieser Ansatz zielt darauf ab, die Realität anzuerkennen, dass Österreich ein Einwanderungsland ist, und darauf, jungen Menschen, die hier aufgewachsen sind, die gleiche Behandlung wie einheimischen Jugendlichen zu bieten. Die Diskussion über dieses Thema führt jedoch zu Widerstand von der ÖVP und FPÖ, die adäquate Integrationsvoraussetzungen betonen und eine Überflutung des Staatsbürgerschaftssystems fürchten, wenn die Bedingungen für die Einbürgerung gelockert werden. Zudem wird argumentiert, dass die Staatsbürgerschaft das Ende eines Integrationsprozesses darstellen sollte und nicht der erste Schritt in der Zugehörigkeit zur Gesellschaft sein darf.
Unterschiedliche Perspektiven zur Integration
Die ÖVP-Vertreterin betont, dass mehr Fokus auf die Integrationsbereitschaft der Zuwanderer gelegt werden sollte, bevor ihnen die Staatsbürgerschaft angeboten wird. Nach ihrer Meinung müssen Menschen, die die Staatsbürgerschaft wünschen, besser integriert und in das gesellschaftliche Leben eingebunden werden, um eine fundierte Grundlage für die Staatsbürgerschaft zu schaffen. Dies umfasst Sprachkenntnisse, das Verständnis von Gesetzen und Werten, sowie die aktive Teilnahme am Arbeitsmarkt. Diese Perspektive stößt auf Kritik, da sie Menschen, die bereits lange in Österreich leben, in eine Klasse von „Bürgern zweiter Klasse“ drängt, was sowohl aus gesellschaftlicher als auch aus demokratischer Sicht problematisch ist.
Demokratische Teilnahme der Zuwanderer
Die Diskussion um die Staatsbürgerschaft dreht sich nicht nur um Rechte, sondern auch um die politische Vertretung der Menschen in Österreich. Viele Menschen, die in Österreich leben, haben keinen Zugang zum Wahlrecht, obwohl sie in allen anderen Aspekten gleichgestellt sind, was die Teilhabe an demokratischen Prozessen betrifft. Der Migrationsforscher weist darauf hin, dass dies mittelfristig ein Problem für die Demokratie darstellt, weil eine wachsende Bevölkerung von den Wahlen ausgeschlossen wird, was zu einem Legitimationsproblem führen kann. Umso wichtiger ist es, dass eine Reform, die die Staatsbürgerschaft zugänglicher macht, auch die politischen Stimmen dieser Menschen in der Gesellschaft berücksichtigt.
Internationale Vergleiche zur Staatsbürgerschaft
Ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, dass Österreich in puncto Einbürgerungen hinterherhinkt, während in vielen anderen Staaten Staatsbürgerschaftsrechte großzügiger gehandhabt werden. Der Migrationsforscher fordert einen Perspektivwechsel und verweist auf den Nutzen einer bedingten französischen Staatsbürgerschaft, die den rechtmäßigen Aufenthalt der Eltern berücksichtigt. Eine solche Regelung könnte dazu beitragen, dass mehr Menschen in das demokratische System einbezogen werden, was nicht nur den Menschen selbst, sondern auch der Gesellschaft insgesamt zugutekommt. Der bestehende Zugang zur Staatsbürgerschaft in Österreich wird als zu restriktiv und damit als hinderlich für eine zukunftsfähige Integrationsstrategie angesehen.
Österreichs Disput um die Staatsbürgerschaft. Nach einem SPÖ-Vorschlag soll es für Einwandererinnen und Einwanderer und deren Kinder leichter werden, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Schritte, mit denen man die Realität anerkennt, dass Österreich ein Einwanderungsland ist? Oder ein falsches Signal?
Darüber diskutieren mit Raimund Löw SPÖ-Nationalratsabgeordnete Julia Herr, ÖVP-Nationalratsabgeordnete und JVP-Vorsitzende Claudia Plakolm, Migrationsforscher Rainer Bauböck und Falter-Journalistin Nina Brnada
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