Milo Rau, ein einflussreicher Theatermacher und neuer Leiter der Wiener Festwochen, spricht über die gesellschaftliche Vision seiner Arbeiten und die Herausforderungen als provokativer Künstler. Er thematisiert die Rolle der Kunst in politischen Konflikten und die komplexe Beziehung zwischen Kapitalismus und Feudalismus. Rau beleuchtet auch den Umgang mit historischen Traumata sowie die Wichtigkeit von Dialog und kollektiven Prozessen in einer polarisierten Gesellschaft. Seine Perspektiven bieten tiefgründige Einblicke in das Zusammenspiel von Mensch, Natur und Kultur.
Milo Rau revolutioniert die Wiener Festwochen, indem er ein Festival als 'freie Republik' zur Förderung von kulturellem und politischem Bewusstsein inszeniert.
Die Diskussion über das israelisch-palästinensische Konflikt im Rahmen künstlerischer Ausdrucksformen regt zu tiefem Zuhören und Reflexion über geopolitische Themen an.
Rau fordert eine Zusammenführung der unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Europa, um eine umfassendere Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit zu ermöglichen.
Deep dives
Milorau und die Wiener Festwochen
Milo Rau revolutioniert das kulturelle Leben in Wien mit den Wiener Festwochen, die von Mitte Mai bis Ende Juni 2024 stattfinden werden. Unter seiner Leitung wird das Festival als 'freie Republik' inszeniert, wobei Theater, Musik und Tanz aus aller Welt präsentiert werden. Zu den Höhepunkten zählen Wiener Prozesse, die sich mit Themen wie Rechtspopulismus, Selbstgerechtigkeit und Korruption befassen. Diese Perspektiven sollen nicht nur das kulturelle, sondern auch das politische Bewusstsein der Zuschauer ansprechen.
Kunst und gesellschaftlicher Konflikt
Milo Rau sieht sich selbst als politischen Künstler, der die Machtverhältnisse anbietet und Scheinheiligkeiten aufzeigt. In einem Stadtgespräch rafft er die Rolle der Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Konflikte und fragt nach dem moralischen sowie politischen Universalismus. Die Diskussion über Kunst im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts zeigt, wie künstlerische Ausdrucksformen zur Reflexion über geopolitische Themen anregen können. Rau fordert ein tiefes Zuhören der europäischen Länder, um ein besseres Verständnis für die gegenseitigen Traumata und historischer Verstrickungen zu entwickeln.
Antisemitismusvorwürfe und europäische Kulturpolitik
Die Einladung von Janis Varoufakis und Annie Ernaux zu den Wiener Festwochen führte zu heftigen Kontroversen, in denen beiden Antisemitismus vorgeworfen wurde. Diese Vorwürfe werden von Rau als Teil einer großen Debatte über die europäische Kulturpolitik und den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit angesehen. Er stellt klar, dass es nicht um Antisemitismus im klassischen Sinne, sondern um Diskurse geht, die auf kulturelle und soziale Verantwortung verweisen. Dieser Aspekt verdeutlicht die Herausforderungen, die Künstler im heutigen politischen Klima meistern müssen.
Die Vielschichtigkeit des europäischen Gedächtnisses
Rau diskutiert die verschiedenen Erinnerungskulturen in Europa, wobei er die Unterschiede zwischen der deutschsprachigen Diskussion über den Holocaust und der kolonialen Vergangenheit in Belgien und Frankreich hervorhebt. In Deutschland und Österreich ist die Verbindung zur Geschichte des Nationalsozialismus nach wie vor stark ausgeprägt, während der Blick auf koloniale Vergehen häufig in den Hintergrund gedrängt wird. Dies führt zu einem einseitigen Narrativ, das die Komplexität des europäischen Gedächtnisses verkennt. Rau plädiert dafür, beide Narrative zu vereinen, um eine produktivere Auseinandersetzung mit den europäischen Identitäten zu ermöglichen.
Die Zukunft der Kunst im Dialog
Rau sieht die Notwendigkeit, neue Dialoge zwischen unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der Gesellschaft zu schaffen, um eine universelle Verständigung zu fördern. Die Wiener Prozesse sollen ein Beispiel für diesen Dialog sein, indem sie verschiedene Perspektiven und Akteure einbeziehen und gleichzeitig das Publikum zum kritischen Zuhören anregen. Durch die Einladung in einen strukturierten politischen Raum, in dem Argumente zählen, wird die Möglichkeit eröffnet, dass Meinungen konfrontiert und hinterfragt werden können. Dies könnte letztlich dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die Komplexität gesellschaftlicher Konflikte zu entwickeln und eine tiefere Beziehung zur Kunst zu kultivieren.
Der neue Chef der Wiener Festwochen mischt die Stadt auf. Mit Barbara Tóth spricht der Theatermacher Milo Rau über den politischen Anspruch und die gesellschaftliche Vision seiner Arbeiten. Aufgezeichnet beim Wiener Stadtgespräch.