Adrian Daub, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University und Autor des Buches "Cancel Culture Transfer", diskutiert die komplexen Dynamiken der Cancel Culture. Er erklärt, wie sich die Debatte seit 2020 verändert hat, insbesondere im Hinblick auf die Identitätspolitik. Daub beleuchtet die Ambivalenz des Phänomens und den Konflikt zwischen Bewahrung und Zerstörung innerhalb gesellschaftlicher Institutionen. Zuhörer werden angeregt, die Widersprüche in diesem Diskurs zu erkennen.
Der Diskurs über Cancel Culture hat sich gewandelt, wobei frühere Bedenken nun oft als positiv interpretiert werden.
Die Diskussion um Cancel Culture spiegelt tief verwurzelte Loyalitäten zu bestehenden Machtstrukturen und politische Spannungen wider.
Deep dives
Die Transformation des Diskurses über Cancel Culture
In den letzten Jahren hat sich der Diskurs über Cancel Culture erheblich gewandelt. Im Gegensatz zu den intensiven Debatten von 2020 und 2021 wird der Begriff heute seltener verwendet, und die damit verbundenen Konzepte werden durch neue Begrifflichkeiten ersetzt. Viele der Bedenken, die früher mit Cancel Culture in Verbindung gebracht wurden, scheinen nun umgekehrt zu werden, sodass das, was einst als problematisch angesehen wurde, nun als positiv gilt. Diese Wandlung reflektiert eine tiefgreifende strategische Umdeutung innerhalb der gesellschaftlichen Diskussionen, in der sich die Wahrnehmungen und Werte der Akteure dramatisch verändert haben.
Politische Implikationen und Wählerängste
Eine Umfrage zeigt, dass eine signifikante Anzahl an Wählern, insbesondere bei rechten und populistischen Parteien, Angst hat, bei bestimmten Themen ausgegrenzt zu werden. Diese Befürchtung wird als Ausdruck von Cancel Culture interpretiert, ist aber in Wirklichkeit ein Reflex auf die aktuellen politischen Spannungen und Identitätskämpfe. Der Diskurs um Cancel Culture hat sich daher zu einem Instrument entwickelt, um Ängste vor kultureller Zensur auszudrücken, die mit Themen wie Migration und Kriminalität vermischt sind. Dies verdeutlicht, wie tief verwurzelt diese Ängste im politischen Klima sind und wie sie die Wahlentscheidungen beeinflussen können.
Innerer Widerspruch des Diskurses
Der Diskurs über Cancel Culture beinhaltet einen paradoxen inneren Widerspruch, da Befürworter von Zensur häufig diejenigen sind, die zuvor gegen sie plädierten. Während einst die Warnungen vor Cancel Culture zur Verteidigung von Meinungsfreiheit und Pluralität dienten, fordern die gleichen Personen heute Maßnahmen, die im Grunde eine Zensur darstellen. Diese Umkehrung von Ansichten deutet auf eine Selbsttäuschung hin, die es den Akteuren ermöglicht, ihre eigenen Forderungen als legitime Reaktion auf gesellschaftliche Herausforderungen zu präsentieren. Dieser Widerspruch zeigt die Komplexität und Dynamik der aktuellen Debatten und hilft zu verstehen, wie leicht Werte in der öffentlichen Wahrnehmung umgedeutet werden können.
Selbsttäuschung und die Verteidigung von Hierarchien
Die Diskussion um Cancel Culture ist eng mit der Verteidigung bestehender gesellschaftlicher Hierarchien verknüpft. Viele, die vor Cancel Culture warnen, tun dies nicht nur aus einem Gefühl der Bedrohung, sondern auch aus einer tief verwurzelten Loyalität zu etablierten Machtstrukturen. Die Vorstellung einer zunehmenden kulturellen Zensur wird als verzweifelter Versuch gesehen, die eigene Position in der Gesellschaft zu rechtfertigen und zu verteidigen. Diese Dynamik der Selbsttäuschung trägt dazu bei, dass radikale Veränderungen in der Diskursebene stattfindet, ohne dass es als solche wahrgenommen wird.
Ein Vortrag des Literaturwissenschaftlers Adrian Daub
Moderation: Nina Bust-Bartels
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Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem freie Meinungsäußerung unmöglich sei, sagen die Erfinder der Cancel-Culture. Literaturwissenschaftler Adrian Daub erklärt, wie der Diskurs um diesen Ausdruck funktioniert und wie er sich gedreht hat.