#287 Kolonialismus: "Die Nicht-Aufarbeitung der Verbrechen grenzt an koloniale Amnesie"
Jan 8, 2025
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Henning Melber, ein deutsch-namibischer Politikwissenschaftler und Experte für Afrikawissenschaften, spricht über die Ignoranz Deutschlands hinsichtlich seiner kolonialen Vergehen. Er thematisiert die anhaltende Verdrängung der Genozide an den Ovaherero und Nama in Namibia und die Marginalisierung der Opfernachfahren. Gleichzeitig fordert er die Anerkennung und Reparationszahlungen als Schritte zur Versöhnung. Melber kritisiert den Geschichtsrevisionismus und betont die Notwendigkeit empathischer Erinnerungsarbeit, um die Stimmen der Betroffenen zu stärken.
Der deutsche Umgang mit Kolonialverbrechen ist von Ignoranz geprägt, wobei die Gesellschaft oft historische Fakten verdrängt und nicht anerkennt.
Die Forderung nach Mitspracherecht von Nachfahren der Opfer zeigt die Notwendigkeit, ihre Perspektiven in politischen Diskussionen aktiv zu integrieren.
Eine ernsthafte Versöhnung erfordert nationale Gedenkstätten und Bildung über Kolonialismus, um die kollektive Erinnerung zu stärken und Gerechtigkeit zu fördern.
Deep dives
Die Diskrepanz zwischen Worten und Taten
Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen dem offiziellen Bekenntnis Deutschlands, sich mit dem Kolonialismus auseinanderzusetzen, und den realen Aktionen, die in diese Richtung unternommen werden. Bis heute existiert kein einziger Gedenkort für die Opfer des deutschen Kolonialismus, was die ernsthafte Erinnerungspolitik stark untergräbt. Politikwissenschaftler Henning Melber erklärt, dass Deutschland sich noch immer am Anfang einer echten Auseinandersetzung mit dieser dunklen Kapitel seiner Geschichte befindet. Es ist entscheidend, dass sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft endlich substantielle Schritte zur Aufarbeitung und Anerkennung der Gräueltaten unternehmen.
Kollektive Amnesie und Ignoranz
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte ist von Ignoranz und kollektiver Amnesie geprägt, die in der Gesellschaft tief verwurzelt sind. Trotz des vorhandenen Wissens über koloniale Verbrechen, wie den Völkermord an den Owa Herero und Nama, wird dieses Wissen selten in der Öffentlichkeit thematisiert. Melber weist darauf hin, dass auch freie Archive, die einen Zugang zu historischen Informationen bieten, nicht ausreichend genutzt werden. Diese Ignoranz zeigt sich auch in der medialen Berichterstattung und der politischen Diskussion, die die Stimmen der Nachfahren der Opfer oft ignorieren oder marginalisieren.
Symbolische Gesten versus tiefgreifende Maßnahmen
Obwohl es in den letzten Jahren einige symbolische Gesten, wie die Entschuldigung des Bundespräsidenten und die Rückgabe von geraubten Artefakten gab, ist die ernsthafte Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und ihrer Folgen noch nicht verwirklicht worden. Die Bundesregierung hat Entwicklungen in der Erinnerungsarbeit iniatiert, jedoch bleibt die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen fraglich, da sie oft als oberflächlich wahrgenommen werden. Reparationen oder umfassende Anerkennungen bleiben aus, was zur Marginalisierung der betroffenen Gemeinschaften führt. Tatsächlich wird immer noch über die Genozidfrage gestritten, und die kollektive Erinnerung bleibt unzureichend.
Die Rolle der Nachfahren und deren Stimmen
Die Nachfahren der Opfer des Kolonialismus fordern ein Mitspracherecht bei den politischen Verhandlungen, die ihre Ursprünge und Geschichte betreffen. Häufig fühlen sie sich bei Diskussionen über Entschädigungen und Anerkennung von Genoziden übergangen, wenn ihre Stimmen ignoriert werden. Dies führt zu einem tiefen Missverständnis und zur Wut innerhalb dieser Gemeinschaften. Der Slogan 'ohne uns, gegen uns' verdeutlicht, dass die Erfahrungen und Perspektiven der Nachfahren nicht nur wertgeschätzt, sondern auch aktiv in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden müssen, um echte Versöhnung zu erreichen.
Zukunftsperspektiven für die Erinnerungspolitik
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus erfordert von der Gesellschaft Bescheidenheit und den Willen, zuzuhören und zu lernen. Es ist notwendig, dass Deutschland seine koloniale Vergangenheit ernstnimmt und dafür ein nationales Gedenken sowie entsprechende Gedenkstätten einrichtet. Neben der schulischen Bildung über Kolonialismus und seine Folgen sollten auch Prozesse zur Wiedergutmachung und Ernennung von Gedenkorten auf die politische Agenda gesetzt werden. Nur durch gemeinsam entwickelte Maßnahmen und echte Anerkennung des Leids der Betroffenen kann ein konstruktiver Dialog begonnen werden, um die Gräben der Vergangenheit zu schließen.
Henning Melber über Ignoranz und Abwehr bei der Anerkennung deutscher Genozide in Afrika
Der deutsche Umgang mit den eigenen Kolonialverbrechen in Afrika ist heute noch immer geprägt von Verleugnung und Verdrängung, sagt Henning Melber. In seinem Buch "The Long Shadow of German Colonialism" untersucht der Politikwissenschaftler die (Nicht)Aufarbeitung des ersten deutschen Genozids vor 120 Jahren an den Ovaherero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Ein Gespräch über die Abwehrmechanismen in der Auseinandersetzung mit Deutschlands dunkler Kolonialvergangenheit, die anhaltende Marginalisierung der Nachfahren der Opfer und Reparationen als Bedingung einer ernsthaften Aussöhnung.
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Henning Melber, Jahrgang 1950, ist deutsch-namibischer Politikwissenschaftler, Entwicklungssoziologe und Afrikawissenschaftler. In den 70er-Jahren trat er Namibias antikolonialer Befreiungsbewegung bei, seitdem streitet er für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen und Gerechtigkeit für die Nachkommen der Opfer des Genozids. Hennig Melber hat mehrere Bücher über Namibia und die Kolonialgeschichte geschrieben, zuletzt erschien von ihm "The Long Shadow of German Colonialism", in dem er den Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihrer brutalen Kolonialvergangenheit kritisch beleuchtet.