

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Episodes
Mentioned books

Dec 14, 2023 • 5min
Herfried Münkler – Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert
In seinen geopolitischen Untersuchungen „Welt in Aufruhr" fragt Herfried Münkler danach, wie sich in Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine und des Konflikts zwischen den USA und China eine zerstörerische Anarchie der Staatenordnung im 21. Jahrhundert vermeiden lässt.

Dec 12, 2023 • 5min
Annie Proulx – Moorland. Plädoyer für eine gefährdete Landschaft
Moore haben auf Schriftsteller schon immer eine besondere Faszination ausgeübt. Auch die kanadisch-amerikanische Autorin Annie Proulx ist solch eine Moorliebhaberin. Allerdings hat sie ihre Begeisterung nicht in einen Roman verwandelt, sondern diesmal in ein ungewöhnliches Sachbuch voller wissenschaftlicher Fakten und Geschichten.

Dec 11, 2023 • 5min
Drago Jančar – Als die Welt entstand
Die Jugend ist die wirrste Zeit des Lebens. Das spürt auch Danijel, der junge Erzähler in Drago Jančars neuem Roman „Als die Welt entstand". Er wächst auf im Maribor der 1950er und 1960er Jahre. Hin- und hergerissen zwischen Kommunismus, Kirche und jugendlichen Schwärmereien muss er seinen Platz in dieser für ihn neu entstehenden Welt finden.

Dec 10, 2023 • 6min
Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915. Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde
Ein wenig größenwahnsinnig waren die Künstlergruppen von damals allemal: Sie dachten mit ihren Werken die Welt zu verändern. Letztlich veränderten die Weltumstände das Kaffeehaus und die Kunst. Voll Neugier betritt man Liesemers „Café Größenwahn“ gerne – wenn auch nur als Zaungast des 21. Jahrhunderts.
Dirk Liesemers Buch beginnt mit einem verheißungsvollen Satz.
„Wer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus.“
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Das Kaffeehaus – und da hat der Autor völlig Recht! – war nicht bloß ein Ort, an dem man sein heißes, koffeinhaltiges Getränk schlürfte, sondern es war eine Zusammenkunft Gleichgesinnter, ein „Debattierclub“, ja, eine „Art von öffentlichem Salon“, wie es im Buch heißt. Liesemer hat aber nicht irgendwelche große Kaffeehäuser im Visier, die es im damaligen Europa in großer Zahl gab, sondern drei bestimmte: das „Café Griensteidl“ in Wien, das Berliner „Café des Westens“ und das in München ansässige „Café Stefanie“.
Diese drei firmierten unter einem durchaus ironisch gemeinten Begriff: „Café Größenwahn“. Zuerst wurde dieser im Wiener Satiremagazin „Figaro“ für das Griensteidl erfunden. Doch bald schon hörte und las man diesen eigenwilligen Terminus außerhalb der österreichischen Monarchie.
„Der Name macht in den Kreisen der Bohème jedenfalls rasch Karriere und wird bald nach München und Berlin exportiert. So einprägsam ist er, dass er einmal als Metapher für die vielen geistigen und künstlerischen Aufbrüche rund um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert gelten wird.“
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Bohème und Größenwahn gehörten zusammen
„Bohème“ und „Größenwahn“ gehörten damals zusammen wie die Henne und das Ei. „Bohème“ meint dabei Künstlerformationen der Wiener und Berliner Moderne, die auch vor München nicht Halt machte. Im „Café Größenwahn“ traf man Arthur Schnitzler, der Sigmund Freud folgend die Seelenlage des Menschen beschrieb – das tat ebenso Peter Altenberg, nur in Form von kürzeren Prosatexten.
Karl Kraus, der mit seiner Zeitschrift „Die Fackel“ den literarischen Journalismus auf Höchstform brachte. Adolf Loos, der als Architekt gegen das Ornament ankämpfte. Frank Wedekind, der mit seinen gesellschaftskritischen Stücken den Naturalismus überwand. Nicht fehlen dürfen die Expressionisten wie Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn und Oskar Kokoschka.
Und durchs ganze Buch begegnet man immer wieder Gräfin Franziska zu Reventlow – eine Lebenskünstlerin wie sie das Boheme-Leben schrieb. Ebenso wie Lasker-Schüler ging sie zahlreiche Liebschaften ein. Doch wie lange eine Beziehung dauerte, bestimmten sie selbst. Ein Bonmot Lasker-Schülers trifft ebenso auf Reventlow zu:
„Gut sein ist sehr gut, aber gut zusammen wohnen ist Blödsinn.“
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Natürlich kommen in Dirk Liesemers Buch noch eine Menge anderer Akteure vor, denn der Größenwahn erfasste viele – Künstler, Schauspieler oder stillere Beobachter – und trieb sie ins Café. Lotte Pritzel, Puppenkünstlerin und Modedesignerin, war im Berliner Café Größenwahn nicht nur eine erotische Erscheinung, nein, sie beherrschte auch den Wortwitz. Bei einem ausgelassenen Gelage dichtete sie das Lied von den zwei Königskindern stehgreifmäßig um.
„Es waren einmal zwei Molche, die hatten einander so lieb; das Männchen jedoch griff zum Dolche, denn die Molchin war eine Solche: Und das Wasser war viel zu tief."
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Vermögendes Bürgertum und liberale Politik schaffen neues Klima
Der allumfassende Größenwahn entwickelte sich aus zwei Strängen: Ein vermögendes Bürgertum und eine liberale Politik erlaubte es, selbstsicher aufzutreten. Die Künstlerinnen und Künstler dachten, dass sie mit ihren Werken die Welt verändern könnten.
Der andere Strang betrifft die enorme Modernisierung von Wien, Berlin und München. Sie wurden zu Weltstädten, die plötzlich mit Paris und London konkurrierten, ja, sogar größenwahnsinnig meinten, diese beiden Zentren zu übertrumpfen. Es ist gelingt Dirk Liesemer auf äußerst anschauliche Weise, diese beiden Momente stets miteinander zu verknüpfen.
Zum Café Größenwahn gehören aber nicht nur die Bohemiens und Zaungäste, sondern auch die Kellner. Sie spielen in diesem illustrem Club Gleichgesinnter eine gewichtige Rolle. Im Münchner Café Stefanie ist es der Ober Arthur.
„Jeder darf ihn anpumpen, und braucht einer mal Wechselgeld, greift der Kellner in seine Tasche und wirft es dem Gast auf den Tisch. Mal passt es, mal weniger.“
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Im Berliner Café des Westens regiert Oberkellner Hahn. Lasker-Schüler nennt ihn „König mit dem Zauberstab“.
„Er notiert penibel alles, was die Bohemiens bestellen, aber ihre Rechnungen lösen sich dann stets in Luft auf. Tatsächlich legt der Kellner sie nicht seinen Habenichtsen, sondern deren Mäzenen vor, die still all die Kaffees, Kuchenstücke und Mineralwasser ihrer Künstler übernehmen.“
Quelle: Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915
Und die Kellner in Wien? Die sind sowieso alle halbe Künstler und Literaten – also größenwahnsinnige Strizzis!
Verknüpfung von Kunstwelt und Politik
Es ist ein echter Pluspunkt von Dirk Liesemers Buch, dass er den Größenwahn der Künstler mit dem Größenwahn der damaligen Politik verbindet. Nationalismus, Machtdemonstration, militärisches Säbelrasseln und fehlendes diplomatisches Geschick führten in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.
Von der aggressiven Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs über die Unruhen am Balkan bis zur Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo beschreibt der Autor immer wieder geschichtliche Eckpunkte dieser Zeit. Mit dem Weltkrieg sollte auch die äußerst lebendige Kultur des Kaffeehauses ihr Ende finden.
Dirk Liesemer holt in seinem Buch „Café Größenwahn 1890-1915“ die vergangene Hochblüte künstlerischer Öffentlichkeit wissensreich in Sachen Kunst und Politik, stark an Anekdoten und kleinen Geschichten, und mit erzählerischem Können ins Bewusstsein einer heutigen Leserschaft zurück. Dieses „Café Größenwahn“ betritt man gerne – wenn auch nur als Zaungast des 21. Jahrhunderts.

Dec 10, 2023 • 8min
Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler (Hg.) – Freiheit - Gleichheit - Sinnlichkeit. Literatur des Libertinismus in Deutschland
Jetzt erscheint eine sorgfältig edierte Anthologie, die erstmals wichtige Zeugnisse des Libertinismus im deutschen Sprachraum versammelt.
Ein Gespräch mit der Herausgeberin Josefine Kitzbichler.

Dec 10, 2023 • 7min
Peter Kemper – The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz
Vor gut sechzig Jahren, am 15. September 1963, verübte eine Terrorgruppe von weißen Suprematisten einen fürchterlichen Anschlag auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham Alabama. Die Mitglieder des örtlichen Ku-Klux-Klan töteten mit ihrem Bombenattentat vier kleine Mädchen, viele weitere Menschen wurden verletzt.
Zwei Monate später nahm John Coltrane mit seinem klassischen Quartett den Song „Alabama“ auf, eine elegische, von tiefer Melancholie und zugleich würdevoller Kraft getragene Komposition, die von Coltranes Saxophon und Elvin Jones‘ Schlagzeug geprägt wird.
„Bis heute gilt ‚Alabama‘ als Referenzstück für politischen Jazz und als Beleg für Coltranes politische Gesinnung: Die Jazzforscherin Ingrid Monson beschreibt in ihrer profunden Studie Freedom Sounds – Civil Rights Call Out to Jazz and Africa, Coltranes ‚Alabama‘ als die ‚vielleicht bewegendste Komposition, die einem spezifischen Civil-Rights-Ereignis gewidmet ist.‘“
Quelle: Peter Kemper
Jazz als Ausdruck emanzipatorischer, antirassistischer Bestrebungen
Im neuen Buch des renommierten Musikjournalisten, profunden Jazzkenners und verdienten Konzertveranstalters Peter Kemper kommt die Auseinandersetzung mit Coltranes „Alabama“ eine nicht unwichtige Bedeutung zu: Sie führt nämlich zum Kern dessen, was er in seinem Mammutwerk „The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz“ mit vielerlei Beispielen, Geschichten und theoretischen Überlegungen zu behandeln sucht.
Es geht darin auf der einen Seite um die Frage, wie dem afroamerikanischen Jazz von Anfang an eine soziale Dimension zuwuchs: Jazz galt seit jeher als Ausdrucksmittel für emanzipatorische, antirassistische Bestrebungen – auch weil Diskriminierung eine tägliche Erfahrung für die Musikerinnen und Musiker darstellte.
„Als primär afroamerikanisches Akkulturationsprodukt bewegt sich diese Musik immer schon im Konfliktfeld zwischen schwarzer und weißer Politik und Praxis. Es fand eine Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen statt: der westafrikanischen und der nordamerikanischen.“
Quelle: Peter Kemper
Kemper interessiert sich auf der anderen Seite dafür, ob sich in den Sounds, im Klang, in der ins Offene weisenden Improvisation, im rauen, warmen, kreischenden Ton des Saxophons etwa, in radikalen Avantgardismen oder Rückbezügen auf den Blues jene behauptete politische Ebene auch musikalisch abbildet.
Es gibt jene, die sagen, Musik sei eine Sprache für sich, sie könne gar nicht auf Politisches rekurrieren. „Alabama“ ließe sich so auch als trauriges Liebeslied hören, wisse man nichts von seinem Kontext.
Mit Musik den sozialen Rahmen sprengen
Peter Kemper sieht das natürlich differenzierter. In der schwarzen Community wurde Musik als ästhetisches Phänomen immer schon in soziale Kontexte eingebettet; es gibt Signale und Zeichen, die gelesen werden müssen, die eine bestimmte Form der Wahrnehmung erfordern und herausfordern. Peter Kemper spricht von Gesten.
„Für unsere Untersuchung des Sprachcharakters von Musik und Jazz im Besonderen ist hier die Kategorie des ‚Dazwischen‘ entscheidend: Der ‚Gestus‘ eines Musikers, wie er sich als Klanggeste manifestiert, charakterisiert seine ‚Haltung‘ im Sinne seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit. Deshalb lässt sich die Erfahrung des Gestischen als der bedeutungstragende Sinn von Musik verstehen. Adorno hat dies unnachahmlich prägnant formuliert, wenn er schreibt: ‚Der Ausdruck zieht die Musik zur Geste zusammen und staut sie im Ton.‘“
Quelle: Peter Kemper
Diese grundsätzlichen Reflexionen stehen ganz am Ende des 750-Seiten starken Buches – aber alles, was davor kommt, führt zu diesen Überlegungen hin: Kempers umfangreiche und zugleich dichte Emanzipationsgeschichte, die entlang des Jazz geschrieben wird, ist nämlich zunächst eine faszinierende Erzählung von musikalischen Wegmarken, symptomatischen Episoden und legendären Musikern, deren Schaffen stets in einem sozialen Rahmen stattfand, den sie mit ihrer Kunst zu sprengen suchten.
Selbst bei einem bis heute als unpolitischer Entertainer geltenden Virtuosen wie Louis Armstrong entdeckt Kemper einschneidende Momente, an denen er sein Image als „Onkel Tom des Jazz“ aufbrach und konterkarierte.
„Ich habe 40 Jahre lang ein wundervolles Leben mit der Musik gehabt, aber ich spüre die Unterdrückungssituation so wie jeder andere Schwarze auch. […] So, wie sie meine Leute im Süden behandeln – die Regierung kann von mir aus zur Hölle fahren.“
Quelle: Louis Armstrong (zit. nach Kemper)
Zitiert Kemper Louis Armstrong. Jazz sei für Satchmo immer auch die klangliche Verkörperung schwarzer Erfahrung in den USA gewesen. Oder wie Armstrong es ausdrückte:
„Was wir spielen, ist unser Leben.“
Quelle: Louis Armstrong (zit. nach Kemper)
Glänzend erzählt Kemper von Billie Holiday, die als harmlose Sängerin vermarktet werden sollte, aber selbst in ihren Liebesliedern und dann erst recht mit dem Song „Strange Fruit“ auf unhintergehbare Weise gegen männliche und rassistische Unterdrückung ansang.
Und Kemper erzählt, wie genau diese Formen von Repression sie am Ende – mit nur 44 Jahren – zu Tode bringen. Kemper schreibt über Miles Davis, der mit seiner coolen Arroganz den Spieß gesellschaftlicher Hierarchie umdrehen wollte; über den bilderstürmerischen Albert Ayler, über den wütenden Archie Shepp, der sein Saxophon in den 60ern als „Maschinengewehr des Vietkong“ verstand.
Er sucht mit Sun Ra in den weiten des Weltalls nach afrofuturistischen Befreiungspotentialen, begleitet Roland Kirk bei einem subversiven Fernsehauftritt, bei dem er eine größere Präsenz ernstzunehmender schwarzer Künstler in den Medien forderte, untersucht das Scheitern der Musikerselbstorganisation Jazz Composers Guild; zeigt uns, wie das Art Ensemble of Chicago mit Rückgriffen auf afrikanische Traditionen eine „Great Black Music“ propagierte, offenbart auch im Spiritualismus eines Pharoah Sanders und dem revolutionären Experimentiergeist eines Cecil Taylor politisches Potential.
Den alten Kampfgeist mit neuen musikalischen Mitteln beschwören
Und so geht es von Kapitel zu Kapitel in die Gegenwart, wo eine ganz neue Generation von afroamerikanischen Männern und vor allem auch Frauen den alten Geist des Kampfes mit neuen Mitteln beschwören, dabei eklektisch auf traditionellen Jazz, HipHop oder Funk zurückgreifen – man denke an Kamasi Washington, Matana Roberts, Moor Mother oder Angel Bat Dawid, die alle eng verbandelt sind mit der „Black Lives Matter“-Bewegung. Die einzelnen Fallstudien von Kempers Buch können, schreibt der Autor ganz zurecht, …
„… als ›Bausteine einer politischen Ästhetik des Jazz‹ verstanden werden.“
Quelle: Peter Kemper
Diese Sozialgeschichte des Jazz und der Musik ist nicht nur meisterlich erzählt, sondern auch von umfassenden Recherchen und großem Einfühlungsvermögen geprägt. Und sie ist theoretisch auf Höhe der verhandelten Themen. Weil Kemper tief in die Problematiken des Themas eingedrungen ist, versäumt er es nicht, auch seine eigene Rolle als Chronist und Interpret zu hinterfragen: In einem „Nachwort in eigener Sache“ setzt er sich gewissenhaft mit damit auseinander, ob er als „alter weißer Mann“ über die in der schwarzen Musik ausgefochtenen Emanzipationskämpfe schreiben darf, ob das nicht anmaßend sei.
Seine Antworten wählt er sorgsam und abwägend; sie zeigen, dass er seinen Gegenstand ernst nimmt und ein Bewusstsein für mögliche Schieflagen hat, dass aber auch eine gewisse wissenschaftliche Distanz produktiv sein kann. Die beste Antwort gibt allerdings ein schwarzer Musiker selbst:
„Es ist ein Fehler zu glauben, dass nur Schwarze über Black Music schreiben können. Der Diskurs zu diesen Fragen sollte so vielfältig wie möglich sein.“
Quelle: Archie Shepp (zit. nach Kemper)
Wer den Segen von Archie Shepp hat, muss keinen woken Vorwurf fürchten.

Dec 10, 2023 • 7min
Jon Fosse – Ein neuer Name. Heptalogie VI-VII
Und da ist er wieder: Asle, der einsame Maler mit der schwarzen Cordjacke, dem schwarzen Mantel, der braunen Schultertasche, dem grauen Pferdeschwanz. Wortkarg, fast verstummt, schwermütig, ganz in sich gewendet, lebt er in einem Küstendorf bei Bergen zwischen den Fjorden Norwegens.
Nur der Bauer Asleik besucht ihn und lädt ihn zu Weihnachten ein. Seit seine Frau Ales vor Jahren starb, wohnt Asle allein, nur mit Brage, dem Hund eines anderen Asle, einem Jugendfreund, den er im Delirium im Schnee fand, und der nun im Sterben liegt.
Ein Alter Ego, eine Variante des eigenen Lebens. Auch er selbst hätte so enden können, zerstört vom Alkohol, denkt Asle. Immer wollte er Bilder, die er sah, „wegmalen“, aber manche Erinnerungen, wie die erste Begegnung mit Ales, seiner großen Liebe, sind eingebrannt. Fast unmerklich verschwimmen das Ich der Jugend und des Alters, er und ich, damals und heute in diesem Vexierspiel.
und ( ) sie lassen den Kuss länger und länger dauern und es ist, als ob es keine Zeit gäbe, denkt Asle und dann denkt er, sie können doch nicht am helllichten Tag auf Dem Busbahnhof stehen und sich küssen, denkt er und ich liege da und jetzt ist sicher bald Morgen, denke ich und heute ist Heiligabend und ich muss wohl bald aufstehen, aber es ist so dunkel, und es ist so kalt in der Stube, denke ich und ich schließe die Augen und ich sehe Ales und Asle vor dem Haus Universitetsgata 7 …
Quelle: Jon Fosse – Ein neuer Name
Ein Roman wie eine Meditation
Mit jedem Buch seines siebenbändigen Künstlerzyklus fängt Jon Fosse von vorne an, wie beim Rosenkranzgebet. Immer wieder endet er mit einem Gebet wie in Trance. Auch diesmal steht Asle zu Beginn vor seinem zentralen Bild: zwei Striche nur, lila und braun, die sich diagonal kreuzen zum X, einem Andreaskreuz, früher ein Zeichen für Christus, heute für einen Bahnübergang.
Asle sucht die Wahrheit hinter dem Bild. Das Malen hat er aufgegeben, versunken in sein Inneres. Die Wiederholungen auf- und abtauchender Wörter und Motive, der Schnee, die Stille, Mantel, Jacke und Tasche, verlangsamen den Rhythmus, machen das erzählende Kammerspiel zu einer Meditation, einer Litanei. Kein Plot, kaum Handlung, eher eine Kreisbewegung mit suggestivem, melancholietrunkenem Sog.
Ich erfand ein Wort für meine Prosa „langsame Prosa“, (lacht) ich wollte langsame Prosa schreiben, aber wie und wann das wußte ich nicht, und es war schwierig anzufangen.
Quelle: Jon Fosse
und ich liege da auf der Bank und es ist dunkel in der Stube, aber ich bin sicher, es ist Morgen und heute ist Samstag und Heiligabend, denke ich und jetzt muss ich aufstehen …
Quelle: Jon Fosse – Ein neuer Name
„Der neue Name“, das sind zwei Tage auf gut 300 Seiten, in Auflehnung gegen die Zeit. Asle sitzt da, apathisch, verfolgt von der Erinnerung, allein in seiner Stube, seinem Atelier, immer wieder mit dem Blick durchs Fenster aufs Wasser, auf einen Peilpunkt in den Wellen des Fjords.
Das ist das Betörende dieses Romans: seine Sprache in der Sprachlosigkeit, das äußere Schweigen und der innere Bewusstseinsstrom, aufs Wesentliche reduziert, ohne Punkt, nur Kommas und diese Melodie der Wiederholung wie die Wellen des Fjords.
Ich wuchs in einer kleinen Gemeinde auf, in Strandebarm, am Hardangerfjord, mit dem Blick auf den Fjord. Wenn wir zur Schule mußten, gingen wir am Ufer des Fjords entlang und hörten dem Klang der Wellen zu. Als ich dort aufwuchs, gab es keine Straßenbeleuchtung, nur ab und zu ein Haus mit Licht, ich spreche von der Winterzeit, wenn es sehr dunkel in Norwegen ist. Diese Atmosphäre, diese Dunkelheit, da und dort ein Haus mit Licht und immer diese Wellenbewegung, das ist schon eine grundlegende Atmosphäre in meinem Werk.
Quelle: Jon Fosse
Tiefe religiöse Erfahrung des Autors Fosse und seiner Figur
Geht es in den vorigen Büchern des Romanzyklus um Asles Ehe, um Liebe und Verlust, Herkunft, Identität und das Erwachsenwerden in einer pietistischen Welt, so handeln Band VI und VII nun von der Berufung zum Künstler, von ersten Erfolgen, existentiellen Fragen der Kunst und der Liebe, von Leben, Tod, Vergänglichkeit und der tiefen religiösen Erfahrung Asles, der, wie Jon Fosse, zum Katholizismus konvertierte, den Mystiker Meister Eckhart liest und über das Wesen Gottes philosophiert:
Gott ist so fern, dass man nichts über ihn sagen kann und darum sind alle Vorstellungen, die man sich von Gott macht, falsch und zugleich ist er so nah, dass wir ihn auch fast gar nicht merken können, denn er ist der eigentliche Grund im Menschen, oder auch Abgrund, ( ) denke ich und ich denke oft daran wie an mein innerstes Bild, und es ist immer ebenso richtig oder falsch, egal wie man es nennt, oder ich denke daran als an Gottes leuchtendes Dunkel in mir, ein Dunkel, das auch Licht ist und das auch ein Nichts ist, …
Quelle: Jon Fosse – Ein neuer Name
Melancholie, Dunkelheit, aber auch: ein Licht
Der Roman „Ein neuer Name“, ja, die ganze kunstvoll gewobene Partitur der Heptalogie zeigen Jon Fosse als überaus würdigen Nobelpreisträger, der sein dramatisches Werk als meisterhafter Erzähler fortschreibt, brillant übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel.
Nun, in Band 7 stirbt der Maler vor dem Weihnachtsessen bei Freunden. Die zeitgleich erscheinende Erzählung „Ein Leuchten“ liest sich wie eine Variante von Asles Tod. Darin verliert sich der namenlose Erzähler in einem tief verschneiten Wald und erfriert. Aber beides, „Ein Leuchten“ und „Ein neuer Name“ wären keine Fosse-Bücher, würden Melancholie und Dunkelheit, Trauer und Tod nicht erhellt durch eine lichte Gotteserfahrung.
„Ich bin als Licht gekommen, um in dieser dunklen Welt zu leuchten, damit alle, die an mich glauben, nicht im Dunkel bleiben“, sagt Jesus im Johannes-Evangelium. Gott ist in allem, der Glaube ein Korrektiv unserer materialistischen Welt. Der Glaube kann Heilung sein und innerer Halt, davon ist der Katholik Jon Fosse überzeugt. Und so folgt Asle, am Ende der Erzählung, dem Tod ins Licht.
und ja da steht ja, lieber Himmel, die leuchtende Gestalt vor uns, ja die Gestalt, die weiß schimmert in ihrem Leuchten, und sie sagt: komm mit, und dann gehen wir ihr nach, langsam, Schritt um Schritt, Atemzug um Atemzug, der Mann im schwarzen Anzug ohne Gesicht, meine Mutter, mein Vater und ich, wir gehen barfuß hinaus ins Nichts, Atemzug um Atemzug, und plötzlich gibt es keinen einzigen Atemzug mehr, nur noch die glänzende, schimmernde Gestalt, die in einem atmenden Nichts leuchtet, das jetzt wir atmen, von ihrem Leuchten.
Quelle: Jon Fosse – Ein neuer Name

Dec 10, 2023 • 54min
SWR2 lesenswert Magazin u.a. mit dem neuen Buch von Jon Fosse
Pünktlich zur Verleihung des Literaturnobelpreises an den Norweger Jon Fosse erscheint jetzt auf Deutsch der Abschlussband seines siebenteiligen Künstler-Zyklus um den melancholischen Maler Asle: „Ein neuer Name“.
Seit seiner Kindheit ist Jens Wawrczeck - die deutsche Stimme von Peter Shaw von den Drei ??? - dem Filmgenie Alfred Hitchcock verfallen. Jetzt legt er ein sehr persönliches Buch über seine Leidenschaft für den großen britischen Regisseur vor.
Jazz ist nie nur l’art pour l’art. Diese Musikrichtung hat immer auch gesellschaftliche und politische Sprengkraft: Jazz ist emanzipatorisch und antirassistisch. Dies kann man jetzt wunderbar in dem monumentalen Werk des Jazz-Kenners Peter Kemper nachlesen: „The Sound of Rebellion“.
Auch die Goethezeit hatte ihre Bückware: Freizügige bis pornographische Texte, die großen Absatz fanden. Eine aufwändig edierte Anthologie versammelt nun erstmals viele wiederentdeckte Texte des sogenannten „Libertinismus“ aus dem deutschen Sprachraum.
In den großen europäischen Caféhäusern der Wende zum 20. Jahrhundert wurden große Ideen geboren, manche Denker und Dichter fanden beim Mokka oder Einspänner fast die Weltformel, andere wollten die Welt radikal verändern. Daher gab es bald den Spitznamen „Café Größenwahn“. Diesem Phänomen widmet der Journalist Dirk Liesemer jetzt ein lesenswertes Buch.
Jon Fosse – Ein neuer Name. Heptalogie VI-VII Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel Rowohlt, 256 Seiten, 30 Euro ISBN 978-3-498-02143-6 Rezension von Cornelia Zetsche
Jens Wawrczeck – How to Hitchcock. Meine Reise durch das Hitchcock-Universum dtv, 256 Seiten, 13 Euro ISBN 978-3-423-35217-8 Gespräch mit Jens Wawrczeck
Peter Kemper – The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz Reclam Verlag, 752 Seiten, 38 Euro ISBN 978-3-15-011324-0 Rezension von Ulrich Rüdenauer
Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler (Hg.) – Freiheit - Gleichheit - Sinnlichkeit. Literatur des Libertinismus in Deutschland Galiani Verlag, 1216 Seiten, 128 Euro ISBN 978-3-86971-289-5 Gespräch mit Josefine Kitzbichler (Hg.)
Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915. Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde Hoffmann & Campe Verlag, 384 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-455-01656-7 Rezension von Andreas Trojan
Musik:Billie Holiday – The complete Decca Recordings Label: GRP Records Doris Day – What ever will be, will beDoris Day & André Previn Trio – My one and only loveLabel: Bear Family Records

Dec 10, 2023 • 13min
Jens Wawrczeck – How to Hitchcock. Meine Reise durch das Hitchcock-Universum
Diesen Fragen geht Jens Wawrczeck sehr kenntnisreich nach und erzählt auch ganz persönlich von seiner großen Hitchcock-Leidenschaft. Eine großartige Reise durchs ganze Hitchcock-Universum!

Dec 7, 2023 • 5min
Sascha Lobo – Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass
Der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhalten sollte, scheint sich aufzulösen. „Die große Vertrauenskrise“ ist ausgebrochen, in der immer mehr Menschen nur noch populistischen Politikern und Verschwörungserzählern glauben wollen. Warum das so ist und was sich dagegen tun lässt, erklärt Sascha Lobo in einem neuen Buch.


